An die Vereinigung für Schulreform, Bremen
Worpswede bei Bremen
[Mai/Juni 1905]
Ihr Schreiben beantworte ich mit meiner ganzen Zustimmung. Denn der Entschluß, zu dem die bremische Lehrerschaft mündig geworden ist, hat große Bedeutung.
Es scheint mir, als ob dieser Fortschritt nötig wäre, damit hundert andere Fortschritte geschehen können, Fortschritte nicht allein innerhalb der Schule, sondern Fortschritte des Lebens. Denn, so seltsam es unter den gegenwärtigen Verhältnissen klingen mag, in der Schule muß das Leben sich verwandeln; wenn es irgendwo weiter, tiefer, menschlicher werden soll, so muß das in der Schule geschehen; später verhärtet es schnell in Berufen und Schicksalen, es hat nicht mehr Zeit, anders zu werden, es muß wirken so wie es ist. In der Schule aber ist Zeit und Stille und Raum; Zeit für jede Entwicklung, Stille für jede Stimme, Raum für das ganze Leben und alle seine Werte und Dinge.
Eine Reihe unsäglicher Irrtümer hat die Schule zum Gegenteil werden lassen: immer mehr ist Leben und Wirklichkeit aus ihr hinausgedrängt worden. Die Schule sollte nur Schule sein, und das Leben war etwas ganz anderes. Es sollte erst später kommen hinter der Schule, und sollte etwas für Erwachsene sein. (Als ob die Kinder nicht lebten, nicht mitten im Leben wären.)
Durch diese unbereifliche, widernatürliche Abschnürung ist die Schule abgestorben. Ihr ganzer Inhalt ist, weil die Bewegung des Lebens ihm fehlte, zu kalten Klumpen erstarrt. Nur so war es möglich, daß man meinte, alles, auch das Leiseste, Feinste, Flüchtigste, als kompakten Gegenstand behandeln und geben zu können. Man gab etwas. Aber dieser trübe Niederschlag aus den beweglichsten Elementen war nicht Religion.
Und wäre dennoch, aller Erstarrung zum Trotz, noch Religion in dieser Sinnlosigkeit gewesen, und man unterdrückte sie jetzt, - welche Anmaßung liegt darin, zu glauben, daß sie sich unterdrücken läßt? Wer von uns zweifelt daran, daß sie, wo eine Stelle ihr vermauert wird, tausend andere Zugänge finden, daß sie uns bedrängen, daß sie uns anfallen würde, wo wir es am wenigsten erwarten?
Und ist das nicht gerade die Art, wie Religion zu den Menschen kommt: von Überfall zu Überfall? Ist sie im Leben je anders gekommen, als in der Gestalt des Unerwarteten, des Unsagbaren, des Absichtslosen? Wie sollte sie anders als unangesagt in der Schule eintreten können?
Freilich, damit sie dort hinkäme, damit die Möglichkeit entstünde, daß sie (die keine Stunde hat) jede Stunde für sich offen fände, müßten alle Stunden der Schule bedeutend weiter, tiefer und lebendiger sein. Alles Wissen, das die Schule zu vergeben hat, müßte herzlich und groß gegeben sein, ohne Beschränkung und Vorbehalt, absichtslos und von einem ergriffenen Menschen. Da müßten alle Fächer vom Leben handeln, als von dem einen Gegenstand, der mit allen anderen gemeint ist. Dann würden sie auch immer wieder mit ihrem Äußersten an die großen Zusammenhänge reichen, aus denen unerschöpflich Religion entsteht.
Darin liegt die große bereichernde Bedeutung Ihres Fortschritts: in den unendlich gesteigerten und erweiterten Ansprüchen, die mit der Fortlassung des Religionsunterrichtes an alle anderen Gegenstände der Schularbeit gestellt werden. Der ganze Unterricht muß, von diesem Augenblicke an, sich verändern: an Stelle der Überlegenheit, die den Lehrenden von den Kindern entfernt, tritt eine neue Zusammenfassung und Einheit. Denn, daß vor dem Ewigen und Unsagbaren nun keiner mehr der Wissende und Gebende ist, sondern beide Teile, wo es sich um das Größte handelt, Demütige sind und Empfangende, das ist ihre lebensgroße Gemeinsamkeit und ihre gemeinsame Arbeit.
Diese Überzeugung stünde fest in mir auch ohne Beispiel und Bestätigung. Um sie aber anderen weitergeben zu können, ist es gut, daß ich auf eine Verwirklichung solcher Überzeugungen hinweisen kann. Ich meine die in Gothenburg in Schweden seit drei Jahren bestehende Gemeinschule (Samskola), in welcher, neben anderen Reformen, auch die Auflösung des Religionsunterrichtes von ernsten und gewissenhaften Menschen gewagt worden ist; von den Erfolgen habe ich in der 'Zukunft' (vom 1. Januar 1905) zu berichten versucht.
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