Briefe


An Nanny Wunderly-Volkart

Château de Muzot
s/Sierre, am 2. April 1924



Liebe, Ihr großer Brief aus Tunis (vom 22ten) hat (wie ging das zu?) nur drei Tage gebraucht bis zu mir, und er öffnete sich so, daß ich gleich oben, im leeren Blatt, auf die Rosen-Oase stieß, die dann immer weiter mitwirkte während ich Sie las, und die seither, auch wenn der Brief im Umschlag auf dem Schreibtisch liegt, dann und wann einen Athem durch mein Zimmer sendet: jedesmal, stell ich mir vor, wenn Sie ganz besonders an mich denken.
Ja, Chère, ich wußte Ihre Freude voraus und auch dies, diese eigenthümliche Ergriffenheit und Sehnsucht vor dem Leben, wie es sich dort darstellt: diesem in sich beruhenden, nicht aus sich hinaus, nicht von sich fortstürzenden Leben. Dort ist, in jeder Gestalt, jenes statische Prinzip verwirklicht, das wir doch zuletzt meinen: jenes das nicht ein wechselndes Sich-halten ist im Labilen, sondern ein Aufruhen in der Mitte, in die man zurückfällt aus allen Wagnissen und Veränderungen. Man ist dort wie der Würfel im Becher: eine unbekannte Spielerhand schüttelt ihn zwar, und man stürzt aus ihm und bedeutet draußen, im Auffallen, viel oder wenig. Aber man wird, nachdem der Wurf vorüber ist, in den Becher zurückgeholt, und dort, innen, im Becher, wie man auch zu liegen kommt, bedeutet man alle seine Zahlen, alle seine Flächen. Und es kommt, im Innern des Bechers, kein Glück in Betracht und kein Mißgeschick, sondern das bloße Dasein, das Würfel-Sein, das sechs Flächen haben, sechs Chancen, immer wieder alle -, und die eigenthümliche Sicherheit, sich selber nicht auswerfen zu können; der Stolz, zu wissen, daß es eines göttlichen Wagnisses bedürfe, damit einer aus der Tiefe dieses Bechers auf den Tisch der Welt geworfen werde, in's Spiel des Schicksals.

Dies ist der reine Sinn von Tausend und Einer Nacht und dies die Spannung derer, die diesen Erzählungen zuhören: daß der Lastträger, der Bettler, der Kameltreiber-, irgend-einer, der nur einen kleinen Wurf ergeben hat, zurückgenommen wird in den Spielbecher, um noch einmal risquiert zu sein.

Und daß es die Welt ist, in die man fällt, unter Sterne, zu Mädchen, Kindern, Hunden und Abfällen, daß es nichts Unklares giebt in den Verhältnissen, in die man geraten kann; zwar zu Großes oder zu Böses, zu Listiges oder einfach Verhängnisvolles ; aber man hat es entweder mit anderen Würfeln zu thun, oder mit den Würfen, mit den Geistern, die die Becher schütteln und ein Ihriges wagen dabei. Es ist ein lauteres Spiel, unabsehlich und immer neu aufgenommen, über einen hinaus, aber doch so, daß keiner in keinem Augenblick werthlos sei, oder schlecht oder schmählich; denn wer kann dafür, daß er so oder so aus dem Becher fällt?
[...]