Schloß Duino bei Nabresina, oesterr. Küstenland,
am 2. Oktober 1912
Lieber Freund,
ich habe die Vorsicht genommen neulich, das Oktober-Geld vor dem Termin zu erbitten, und Sie haben, in gewohnter guter Bereitschaft, sofort für diesen Wunsch gesorgt - wenn ich trotzdem noch hier bin, so hängt das mit der verhältnismäßigen Größe der Pläne zusammen, die mehr und mehr alles andere Vorhaben überwogen und nun endlich so weit sind, daß ich selbst anfange, an sie zu glauben und in ihrer Richtung zu handeln. Ich gedenke nämlich, diesen Herbst und soweit als möglich einen Teil des Winters in Spanien zu verbringen, wie Sie gleich verstehen werden, nicht als Turist, der sich eilt, sondern ich meine mich in Toledo niederzulassen und dort zu wohnen. Sie wissen, daß Greco zu den größesten Ereignissen meiner letzten zwei oder drei Jahre gehört, das Bedürfnis, sich gewissenhafter mit ihm einzulassen sieht beinah wie eine Berufung aus, wie eine tief innen eingesetzte Pflicht; - aber weit darüber hinaus, bis in jene römischen Tage, da ich, ohne es zu wissen, den Malte Laurids begann, reicht der Antrieb zu einem Aufenthalt in Spanien, - und über dem Gang der Jahre seither, während eines sich erfüllte, ein anderes abfiel, ist mir dieser Wunsch so rüstig und lebhaft geblieben, daß er jetzt fast der einzige ist, auf den ich mich in mir verlassen kann. Vielleicht übertreibe ich: aber mir will scheinen, als ob diese Reise von ähnlicher Bedeutung für meinen Fortschritt sein würde, wie es einst die russische war; als ob sie die Vollmacht vieles Ausdrucks, der jetzt noch nicht gewährt ist, mit sich bringen sollte; - der immer noch abwartende Zustand, in dem ich mich seit Abschluß der letzten großen Arbeit finde, mag auch dazu beitragen, daß ich mich aufmerksam an diesem Neuen versuchen möcht, darin die verschiedensten Richtungen meiner Arbeit, wie ich vermuthe, zusammenzukommen.
Ein äußerlicher Anlaß kommt dazu. Im nächsten Jahr soll Toledo, hör ich, der Schauplatz einer großen Greco-Ausstellung werden: nicht nur, daß ich diese Veranstaltung sorgsam vermeiden möchte, ich fürchte, daß dieses bisher noch so ununterbrochne irdische Stern-Bild, das Toledo ist, nach diesem Andrang verändert, verallgemeinert zurückbleiben wird, so daß dieses fast der letzte Moment ist, es in seiner Entlegenheit zu überraschen.
Nun widerstrebt es mir, lieber Freund, diesem bedeutenden Entschluß nachzugeben, ohne mich ganz im Einverständnis mit Ihnen zu wissen; Sie werden es mir, glaub ich, nicht vorenthalten.
Was das Geld angeht, so meine ich hinreichend versehen zu sein; freilich, wenn es sich thun ließe, ausnahmsweise auch für Dezember eine Zahlung einzurichten, so gäbe mir dies eine gewisse Freiheit. Ich überlege ferner, ob ich nicht zunächst meine ganze Post über den Inselverlag dirigieren soll (besonders die Nachsendungen von hier), damit mir von dort, an bestimmten Posttagen, mit entsprechender Sicherheit alles Eingetroffene nachkäme. Bedürften Sie dazu einer besonderen Vollmacht?
Ich denke hier nur noch abzuwarten, wie weit der Streik in Spanien sich verbreitet und wie er verläuft, um dann, wahrscheinlich über Genua, Marseille, Bordeaux und Irún den Weg nach Madrid zu nehmen; es wäre etwas näher über Barcelona zu gehen, aber die katalonischen Linien sind die aufregendsten, und ich halte auch darauf, bei Fontanarabie in Spanien zum ersten Mal einzutreten.
Soweit davon. Nun nur noch ein Brief Heinrich Vogeler's, den ich Ihnen einlege, damit Sie sehen, auf welchen Ausweg er in der Angelegenheit des Marien-Lebens seine Hoffnung setzt. Sie kennen die Geschichte dieser Arbeit und den Anlaß ihres Entstehens: halten Sie es für möglich, den Vorschlag, so wie er ihn jetzt formt und einschränkt, zu berücksichtigen, so wärs mir lieb, da er doch nun einmal mit der Abstammung dieser Gedichte in Beziehung ist und seit so lange im Vertrauen der aufgegebenen und wiedergewonnenen Sache.
Dem Abdruck jener in seinem Manuskriptbuch eingetragenen Verse ("Du blasses Kind, an jedem Abend soll..., später im Buch der Bilder aufgenommen) in den worpsweder Blättern würde ich auch am liebsten zustimmen, eben im Gedächtnis von Paula Becker-Modersohn, auf das er sich mit Recht beruft.
Das Haus ist etwas unruhig, ich werde jeden Augenblick unterbrochen, wir erwarten heute den jungen König Manoel zu Besuch, mit ziemlicher Gelassenheit unsererseits, aber auf Dinge und Dienerschaft wirkt doch die Nähe des königlichen Magnets, alles zittert, benimmt sich polar und stellt sich ein.
Genug denn, Sie werden sich ja auch nicht mehr verlangen, vor der Hand, als meine reichliche Neuigkeit. Ich erwarte Ihre Meinung dazu und wünsche mir, von Ihrer Beider Vertrauen begleitet, meine Wege zu unternehmen. Viele herzlichste Grüße dem ganzen lieben Haus
Ihr
Rilke