An General-Major A.D.C. von Sekladowitz
Schloß Berg am Irchel, Kanton Zürich / Schweiz
am 9. Dezember 1920
Hochzuverehrender Herr General-Major,
Ihr Brief und sein Duplikat sind mir durch den Insel-Verlag nachgesendet worden, sowie ich, nach vielen Monaten des Unterwegsseins, an einer anhaltenderen Adresse wieder zu erreichen war.
Der Bewegung nach, die Ihr entferntes Erinnern mir innerlich bereiten mußte, hätte ich Ihnen sofort danken müssen -, und Sie waren ja auch, wie die Wiederholung Ihres Schreibens beweist, einigermaßen befremdet, meine Antwort ausbleiben zu sehen.
Die Emotion indessen, die meine innere Bewegtheit ausfüllte, war so zusammengesetzter Art, daß ich einige Wochen, gewissermaßen des Auffassens mußte hingehen lassen, sollte mein Dank nicht ein oberflächlicher und, in einem gewissen Verstande, verlegener sein, - womit ich doch Ihrer aufrichtigen Anknüpfung keineswegs genügt haben würde.
Eine Stimme, die sich (es ist die einzige solcher Art, die mich je zu finden versuchte!) auf jene entlegensten Jahre beruft, mußte mir zunächst - Sie verzeihen das Geradezu meines Ausdrucks - unglaubwürdig sein. Ich hätte, glaube ich, mein Leben, das, was ich jetzt, ohne es im Ganzen zu erfassen, auf gut Glück so nennen darf, nicht verwirklichen können, wenn ich nicht, durch Jahrzehnte, alle Erinnerungen an die fünf Jahre meiner Militärerziehung verleugnet und verdrängt hätte; ja, was hab ich nicht alles für diese Verdrängung getan! Es gab Zeiten, da der mindeste Einfluß aus jener abgelehnten Vergangenheit das neue fruchtbare und eigentümliche Bewußtsein, um das ich rang, zersetzt haben würde -, und ich mußte, wo er sich etwa innerlich aufdrängte, mich über ihn hinwegheben, wie über etwas, was zu einem fremdesten, ja unkenntlichen Leben gehört. - Aber auch später noch, da ich mich im zunehmenden Eigenen schon umgebener und geschützter fand, erschien mir jene lange, weit über mein damaliges Alter hinaus, gewaltige Heimsuchung meiner Kindheit unbegreiflich -, und ich vermochte ebensowenig ihr undurchdringliches Verhängnis zu verstehen, wie das Wunder, das mich schließlich - vielleicht im letzten Moment - aus dem Abgrunde unverschuldeter Not befreien kam.
Wenn Sie, Herr General, die Erbitterung übertrieben finden, ohne welche ich selbst heute noch jene Tatsachen meiner frühen Jugend nicht einmal aufzählen kann, - so bitte ich Sie, einen kurzen Augenblick zu bedenken, daß ich damals, bei meinem Austritte aus der Militär-Oberrealschule, als ein Erschöpfter, körperlich und geistig Mißbrauchter, verspätet, sechzehnjährig, vor den ungeheuren Aufgaben meines Lebens stand, betrogen um den arglosesten Teil meiner Kraft und zugleich um jene, nie wieder nachzuholende Vorbereitung, die mir reinliche Stufen gebaut haben würde zu einem Anstieg, den ich nin, geschwächt und geschädigt, vor den steilsten Wänden meiner Zukunft beginnen sollte.
Sie hören mich alles dieses versichern und fragen schließlich, wie es denn doch denkbar war, die unbeschreiblichen Versäumnisse nachzuholen und in die Wege zu münden, auf denen meine ursprünglichsten Antriebe mich, müde wie ich war, doch noch voranjagen konnte: Diese Frage war es ja wohl, die Sie lange an meiner Identität mit dem «Zögling René Rilke» hat zweifeln lassen. Auch hier wüßte ich nicht zu sagen, wie dergleichen gelingen konnte. Das Leben ist recht eigentlich gemacht, uns zu überraschen (wo es uns nicht völlig entsetzt). Freilich sah ich mich in jenen bestürzten Jahren nach Hülfe um; so sehr ich abseits blieb, - denn meine Gleichaltrigen standen ja alle in unvergleichlich klareren und normalen Verhältnissen und kamen für meinen Umgang nicht in Betracht -, es war mir nicht erspart, Vergleiche anzustellen und immer aufs Neue zu gewahren, wie ganz andere Einleitungen ich für meine Begabung hätte erwarten dürfen. Das half mir nicht. Aber es ist mir jetzt noch gegenwärtig, wie ich, verbissen, eine Art Hülfe darin fand, daß jenes böse und bange Jahrfünft meiner Kindheit so völlig grausam gewesen sei, ohne eine einzige Milderung.
Halten Sie mich, verehrter Herr General, nicht für ungerecht: ich bilde mir ein, es zu einem gewissen Grade von Billigkeit gebracht zu haben und ich wünsche nichts mehr, als daß es mir verstattet sei, dereinst in dem unübersehlichen Leidwesen jener Jahre auch jene helleren Stellen zu erkennen, in denen ein Freundliches, weil es gar nicht mehr anders ging, wie durch Zufall zusammenkam. Denn das Streben der Natur wirkt ja weit ins Unnatürliche hinein, und ein Versuch des Ausgleichs möchte auch dort zuweilen stattfinden. - Aber wie gering war das, gemessen an der täglichen Verzweiflung eines zehn-, eines zwölf-, eines vierzehnjährigen Knaben.
So mußte mir wohl - für einzelne spätere Jugendmomente - der Beistand vergönnt sein, jenes vorlängst Gewesene in dem Gefühle einer einzigen fürchterlichen Verdammnis zusammenzufassen, von der ich nur eben so ausgeworfen war, wie von einem bis auf seinen Grund zerstörerisch aufgeregten Meer, das sich auch nicht darum kümmert, ob es da und dort ein Lebendes oder Totes an seinen verödeten Strändern zurückläßt.
Als ich in besonneneren Jahren (: denn wie spät kam ich in die Verhältnisse eines gelassenen, nicht nur nachholenden, rein aufnehmenden Lektüre!) Dostojewskis Memoiren aus einem Toten-Hause zuerst in die Hände bekam, da wollte es mir scheinen, daß ich in alle Schrecknisse und Verzweiflungen des Bagno seit meinem zehnten Jahre eingelassen gewesen sei! - Bitte, nehmen Sie dieser Versicherung alles Pathetische. Sie will nichts ausdrücken, als ein einfaches Wiedererkennen eines inneren Zustandes, dessen äußere Veranlassungen - das will ich sofort zugeben - von den Umgebungen sibirischer Sträflinge immer noch recht verschieden waren. Aber Dostojewski war, da er das durchaus Unerträgliche ertrug, ein junger Mann, ein Erwachsener; dem Gemüte eines Kindes konnten die St. Pöltener Gefängnismauern, wenn es das Maß seines ratlos verlassenen Herzens gebrauchte, ungefähr ähnliche Dimensionen annehmen.
Es ist zwanzig Jahre her, da hielt ich mich längere Zeit in Rußland auf. Eine Einsicht, die durch die Lesung der Dostojewskischen Werke nur ganz allgemein vorbereitet war, bildete sich in jenem, mir wahlheimatlichen Lande zur eindringlichsten Klarheit aus; sie läßt sich schwer formulieren. Etwa so vielleicht: Der russische Mensch hat mir in so und so vielen Beispielen vorgestellt, wie selbst eine, alle Kräfte des Widerstands dauernd überwältigende Knechtung und Heimsuchung nicht notwendig den Untergang der Seele bewirken muß. Es gibt da, für die slawische Seele wenigstens, einen Grad der Unterwerfung, der so vollkommen genannt zu werden verdient, daß er ihr, selbst unter den aufliegendsten und beschwerendsten Drucke, etwas wie einen heimlichen Spielraum schafft, eine vierte Dimension ihres Daseins, in der nun, mögen die Zustände noch so bedrängend werden, eine neue, endlose und wahrhaft unabhängige Freiheit für sie beginnt.
War es unbescheiden, daß ich mir einbildete, eine ähnliche vollständige Ergebenheit und Hingebung, instinktiv, in jenen frühesten Jahren geleistet zu haben, da der Block eines undurchdringlichen Elends über die zartesten Keimblätter meines Wesens gewälzt worden war? Ich hatte, scheint mir, einiges Recht (mit verändertem Maßstabe natürlich) dergleichen anzunehmen, da sich ja ein anderes Überstehen unverhältnismäßigen, überlebensgroßen Unrechts nirgends nachweisen läßt.
Mögen Sie denn, mein verehrter Herr General, erkennen, daß ich schon vor langer Zeit eine gewisse Versöhnlichkeit gegen meine älteren Schicksale anzutreten unternahm. Da sie mich nicht zerstört hatten, mußten sie ja irgendwann als Gewicht auf die eine Waagschale meines Lebens hinzugelegt worden sein -, und die Gegengewichte, die die andere Schale ins Gleiche zu belasten bestimmt waren, konnten nur aus der reinsten Leistung bestehen, zu der ich mich denn auch, seit jenen meinen russischen Tagen, entschlossen fand.
Wenn ich so die Vorzeit in der Militärschule nicht mehr durchaus verdrängte, so konnte ich sie doch nur im Großen und Allgemeinen, irgendwo hinter mir, zugeben. Zu einer Prüfung oder gar Angestaltung des Einzelnen, hätte meine, übrigens anders und künftig beschäftigte, Kraft niemals ausgereicht.
Reden Sie mich also, wie das in Ihrem Briefe geschieht, auf ein besonders Gedenken hin an, so hätte ich Mühe, ein solches, nie gepflegtes unversehens zu beschreiben.
Die Ironie, die Sie für meine schriftlichen Arbeiten hatten, wird sicher eine sehr berechtigte und erziehliche gewesen sein, - selbst jenes Bruchstück aus dem späteres Briefe des Jahres 1892(!) zeigt ja, wie sehr man auch damals noch recht gehabt hätte, die lappigen und gekräuselten Ränder meines Audrucks hart und strenge zu beschneiden!
Daß Sie übrigens jenen Brief unter Ihren Papieren aufbewahrt haben und ihn sogar wiederzufinden wußten, das erfüllt mich, mein werter Lehrer, mit einer eigenen Rühtung, die ich umso weniger verbergen darf, als ich Ihnen in diesen schroffen Ausführungen noch nirgends für Ihre neue sympathische Zuwendung gedankt habe. Es geschieht an dieser Stelle, glauben Sie mir, ohne jeden Vorbehalt.
Muß ich mir zum Schlusse vorwerfen, so ausführlich und, vor Allem, so ausholend gewesen zu sein? Hätte ich die Anknüpfung ihres gütigen Briefes «harmloser» nehmen sollen? - Nein; ich meine, es gab für mich nur die Auswahl, entweder zu schweigen, oder aber Sie wirklich an der Bewegung teilnehmen zu lassen, die die einzige jemals von dort herüberwirkende Stimme in mir aufregen mußte.
Vermögen Sie, Herr General-Major, diese ungewöhnliche Antwort in einem so gerechten als nachsichtigen Sinne aufzufassen, so werden Sie auch schon empfinden, daß sie anders nicht schließen kann, als mit dem Ausdruck der Ihrem Ergehen gewidmeten aufrichtigen Wünsche. Wie sollte ich nicht eine besondere Vergünstigung darin sehen, daß Ihr Gedächtnis mir gewährt, solche ja auszusprechen!
Ihr ganz ergebener
RMRilke