Briefe


An Marietta Freiin von Nordeck zur Rabenau

Rom, Hotel de Russie, am 14. April 1910



Liebes Fräulein von Rabenau,
wenn es irgend geht: versuchen Sie's mit der Großmut: verzeihen Sie mir, daß ich über Ihrem gütigen Brief so viel Zeit habe hingehen lassen, ziehen Sie keine Schlüsse daraus, daß es geschah. Mir lags immerfort ganz nah, Ihnen zu danken für Ihre herzliche Erinnerung und dafür, daß Sie mich nicht aufgeben und mich recht sicher machen in der Überzeugung, daß ich immer wieder von Ihrem Leben werde lesen dürfen. Ich wünsche mir sehr, es fügte sich auch von Zeit zu Zeit ein Wiedersehen, freundlich und schön, wie jenes in Paris war, dessen ich oft gedenke. Ihr Brief, der den Weg nach Paris gemacht hatte, fand mich schließlich fast in Ihrer Nachbarschaft, in Leipzig; ich werde Ihnen gleich erzählen, was micht dorthin geführt hat und mich endlich recht lange in Deutschland festhielt, aber erst lassen Sie mich auf Ihre Nachrichten eingehen; im ganzen sind es ja gute, wenn auch der und jener Wunsch (wie die Arbeit mit der Geige in Paris) außerhalb und unverwirklicht bleibt -. Fast möcht ich sagen, übertönen Sie ihn nicht zu sehr mit dem Geräusch der Geselligkeit, es schadet nicht, wenn er weiterwächst und stärker und stärker wird.

Mir geht es oft so, daß ich mich frage, ob die Erfüllung eigentlich etwas mit Wünschen zu tun hat.

Ja, solang der Wunsch schwach ist, ist er wie eine Hälfte und braucht das Erfülltwerden wie eine zweite Hälfte, um etwas Selbständiges zu sein. Aber Wünsche können so wunderbar zu etwas Ganzem, Vollem, Heilem auswachsen, das sich gar nicht mehr ergänzen läßt, das nur noch aus sich heraus zunimmt und sich formt und füllt. Manchmal könnte man meinen, dies gerade wäre die Ursache der Größe und Intensität eines Lebens gewesen, daß es sich mit zu großen Wünschen einließ, die von innen wie ein Ressort Aktion auf Aktion, Wirkung nach Wirkung ins Leben hinaus trieben, die kaum mehr wußten, worauf sie ursprünglich gespannt waren, und nur noch elementar, wie starkes, fallendes Wasser sich in Handlung und Herzlichkeit, in unmittelbares Dasein, in frohen Mut umsetzten, je nachdem das Geschehen und die Gelegenheit sie einschaltete. Ich weiß, ich nehme Ihre kleine Andeutung viel zu wichtig und schwer, indem ich sie mit so viel Worten belade, sie verschwindet ganz unter ihnen; aber dies als Einsicht war irgendwie fällig in mir gewortden (vielleicht über dem Lesen von Heiligenleben, mit dem ich viel beschöftigt bin, immer wieder), und ich konnte dem kleinen Anstoß nicht widerstehen, auszusprechen, was irgendwie fertig war. Sie werden schon wissen, daß es nciht so anspruchsvoll und seriös gemeint ist, wie es sich da ausnimmt... Was mich seit Anfang Januar bis vor wenigen Wochen in Deutschland (Leipzig und Berlin vor allem) festgehalten hat, war die endgültige Redaktion eines neuen Buches, der "Aufzeichnungen" jenes jungen Dänen, von denen ich Ihnen in Capri sicher gesprochen habe. Die sind schließlich zu einer Art Abschluß gekommen, man druckt sie nun, auch da geht das Leben weiter. Und hier, um mich, ist Rom (das sie grüßt), Rom, das seine Blütezeit hat, mit vollhängenden Glyzinen, mit täglich tausend neuen Rosen, mit allen seinen schönen Brunnen, die wie das ewige Leben sind, gleichmütig neu, ohne Alter, ohne Erschöpfung.
Leben Sie wohl für heute und Dank für Ihre Freundschaft und Güte.
Immer Ihr ergebener
RMRilke