Briefe


An Rudolf Emanuel Zimmermann

Schloß Berg am Irchel
Sonntag, am 17. April 1921


Lieber und werter Herr Pfarrer,
recht spät - nach vierzehn Tagen erst - komme ich dazu, Ihnen das kleine Manuskript der Oster-Predigt zurückzugeben, die ich gerne gelesen habe; sie ist sicher geeignet, das fortwährende Erlebnis einer inneren Überzeugung vor dem verschiedenartigen Aufschauen einer ländlichen Gemeinde einfach sichtbar zu machen. Daß ich diesen Eindruck empfangen habe, wird, denke ich mir, gewiß dem Sinne entsprechen, dem Sie Ihre Worte zu widmen gedachten; was diese besonders belebt, ist, daß man zu erkennen meint, wie sie nicht aus einer allgemeinen österlichen Verfassung, sondern aus Ihrer besonderen und momentanen Stimmung ihren Ursprung nahmen. - Ich danke Ihnen aufs herzlichste für diesen Einblick in Ihre lebendige Arbeit. Vor drei Tagen hat mir Frau Oberst Ziegler die kleine Broschüre Gorkis über Tolstoi zurückgeschickt, deren ich neulich bei Ihnen Erwähungn tat. Sie werden sie gewiß mit interessierter Aufmerksamkeit durchlesen. Maxim Gorki hat es hier zustande gebracht, ein Zeugnis größter Liebe und Bewunderung für den alten Tolstoi abzulegen, ohne sich eigentlich um Beweise für sein gewaltiges Gefühl zu bemühen; im Gegenteil, er hat sich nirgends das Leiden erspart, abträgliche Einsichten und Verdachte, wo jene riesenhafte Erscheinung solche in ihm hervorrief, genau und rücksichtslos aufzuzeichnen. Das macht diese kleine Schrift zu einem sehr seltenen und ergreifenden Dokument der Wahrhaftigkeit, und man sieht (und nur ein Russe vermochte dies zu zeigen), wie der Wille zum Wahrsein der Liebe nicht Schaden tut, wo dies nur weit genug ist und sich nicht scheut, zu leiden.
Mich haben Gorkis Fragmente um so stärker berührt, als ich, seinerzeit, bei meinen Begegnungen mit Lew Tolstoi dem mächtigen Greis ebenso zwiespältig gegenüberstand. Ich war damals zu jung, um mir eine so reiche Rechenschaft über meine Gefühle schaffen zu können, wie sie dem Gewissen Gorkis gelungen ist.
Mit den freundlichsten Grüßen

Ihr ergebener

R. M. Rilke