Briefe


An Katharina Kippenberg

München, Keferstraße 11,
am 19. Dezember 1916



Liebe Freundin,
diese "Nordlicht"-Einführung zwischen uns bewährt sich ausgezeichnet, ich danke Ihnen für die letzten Bogen erfreulichen Umfangs; vor allem las ich mir Ihre gute Stellung in Sachen Hertha Koenig daraus. Danke. Sie reist erst heute abend nach Böckel zurück, so konnte ich gleich zu ihr gehen, und wer kommt nicht gerne voll guter Nachricht ?
Däubler - : es tut mir jetzt manchmal leid, nicht mit ihm gesprochen zu haben, - nun, dazu wird wieder Gelegenheit, ich möchts gar nicht so sehr im Anschluß an seine Produktion tun, als vielmehr einmal aus dem Vollen des Erlebens überhaupt mich an ihn wenden. Daß man sich zu Becher überzeugt und für ihn einsetzt, kann ich durchaus begreifen -, wenn nur nicht jenes Phosphoreszieren einiger seiner Zeilen schwindet, sowie man die Ufer seiner unsichern Flut zu ordnen versucht. Gerade deshalb verließ ich mich so viel mehr auf Trakl, weil an ihm die Zersetzung seine Art Gesundheit war, seine genaue Richtung zum eigenen Tod; bei Becher ist vieles (und wer weiß, ob nicht das Schönste) Zufall und List der Krankheit, eine Ausbeutung ihrer Schwingung, und wenn das Alles sich als Lebensjubel gibt, so liegt in dieser Haltung etwas von der obstinaten Hiesigkeit gewisser Schwindsüchtiger , die das jähe Aufkochen ihres unsichern Bluts für Jugend und Natur nehmen: also eine Täuschung und, nach außen hin, ein Betrug.
Werfel, obwohl nun schon lange wirklich im Feld, scheint viel zu arbeiten. Die "Aktion" bringt fast in jeder Nummer ein  schönes Gedicht von ihm und ich höre, daß er Manuskript um Manuskript nach Hause schickt. Ich bin jetzt nicht ohne Vorsicht auch gegen seine Arbeit und doch geht er mir, immer noch, von den Jüngeren am Genauesten nah.
Oh nein, den Gilgamesch werd ich nie anders als mündlich erzählen, da find ich von einem Mal zum anderen mehr Ausdruck, - neulich erzählt ich ihn für Ruth und merkte dabei, wie ichs jedem anders wahr und ganz überwiegend machen kann.
Ruth hat auch Albrecht Schaeffers Buch über R.M. R. Bitte sagen (oder schreiben) Sie ihm ein Freundliches und Dankbares von mir -, ich kann nichts lesen, was von meinen Sachen handelt, aber ich habe Vertrauen zu seinem Zeugnis von mir. Wollen Sie ihm das schreiben ?
Bekomm ich den Born Judas auch? Sie machen mich fast dringend gespannt darauf. Schade, daß der "Chef" schon fort sein wird, so kann ich seine Grüße nur über Ihren nächsten Brief an ihn erwidern, aufs Herzlichste. Sind Sie Weihnachten ohne ihn? Ich nehme mir vor, nichts zu feiern, aber herzlich an einige Feiernde zu denken.

Dankbar, immer Ihr
Rilke

In Wien hat Karl Kraus das Drei-Sterne-Gedicht erkannt und mir zugeschrieben über dem Worte "leisten".