Briefe


An Eva Cassirer

Paris, 17 Rue Campagne-Première
am 20. August 1908



Die Blumen, Liebe, leben weiter hier an meiner Arbeitsstelle, und ich unterbreche mein Schreiben von Zeit zu Zeit, sie zu bewundern. Die Astern allein erkannte ich dem Namen nach. Nach den anderen Blumen wollt ich Sie gerade fragen, als Ihr Brief mit aller Antwort eintraf. Diese lila Centauria ist ein starkes Wesen; man muß nur ihren Kelch sehen, der dunkel ist mit röthlichen Blattschuppenrändern, - wie ein Zapfen fast, und aus dem dieses Strahlen heftig aufgeht: ganz erholt stehn die Blüten offen in ihrem Glas, und wissen von ihrer Sonne und haben Sonne in sich und lassen sich nicht beirren. Mit dem «Gemsbart» zusammen in einem blindweißen einfachen Blumengefäß bilden sie einen eigenthümlichen Klang von sich kennenden Farben und enthalten etwas in sich von der Hähe in die Sonne gehaltener Halden, von hoher Luft, von hochgetragenen Wiesen.
Wenn aber nun die Gotteserfahrungen in den Juden (die wie diese Blüten abgeschnitten sind) nicht so sichtbar sind wie Sonne und Bergwind an der strahlenden Centauria sichtbar bleibt, hier, in ihrer Fremde -: ist es nicht doch möglich, daß sie sie in sich haben? ich meinte nicht, daß man sie an ihnen sieht, kaum, daß sie selbst von ihnen wissen. Aber halten Sie es für wahrscheinlich, daß die Nachkommen jenes alten Testaments, das so einen ungeheuren gott zustande gebracht hat, sein Blut von ihrem Blut sollten gesondert haben? Zwar entfernten sie sich schon damals leidenschaftlich von ihm, da sie ihren ersten König verlangten und waren bald durch die wachsenden Dynastien seinen Blicken verdeckt, - aber man kann sich von einem Gott nur entfernen, um im Kreise mühsam wieder auf ihn zuzugehen; es giebt kein Weggehn für die, die einmal einen, den Anfang eines Gottes, aus sich gehoben haben: sie müssen sich wieder unter ihn stellen, endlich, daß er in sie zurückfalle und ruhe.
Haben nicht sogar französische Emigranten ihre Titel weggelegt, die in Elend und Armuth und Fremde nicht paßten, und ist es nicht ein ähnlicher Takt und Anstand der Juden, wenn sie ihren Gott nicht gebrauchen? Hätte er denn Raum in ihrem jetzigen Leben?
Ich kann mir denken, daß man aus einem erlauchten Hause stammend allen Stolz mit einiger Selbstbeherrschung und festem Eigengefühl abthut, überwindet; aber es erscheint mir schwerer, als Jude nicht stolz zu sein auf diese gewaltige schöpferiscshe Abkunft und Ferne, die doch noch auf dem Grunde des Blutes liegt wie untergegangene Schatz-Schiffe: dieses trotzdem Nichstolzsein ists, was ich die Verstellung nannte. - Religiosität, die nicht zu finden ist, ist vielleicht immer, die am Besten bewahrte; bei wem sie gefunden wird, dem wird sie genommen und ausgerissen; und er muß gehn und empfangen und austragen und eine eigene aus sich gebären: wieviele aber kommen dazu? -
Dank für Alles.

Ihr R.M. Rilke