Briefe


An Sidonie Nádherný von Borutin

Paris, 17 Rue Campagne-Première XIVe,
am 21. Febr. 1914


Meine gute Sidie,
Danke für beide Mittheilungen, Ihr erster Brief (vom 16.) kam kurz nach einem von Clara und stimmte mit dem ungefähr überein: sie war glücklich über Ihr Dortsein, sehr sehr froh über den Marmor und, wie Sie richtig vermuthet haben, äußerst unzufrieden mit K[arl] K[raus]. Davon sprach sie nur in einer einzigen Zeile, aber ich kenne ihren Styl zu gut, um nicht zu verstehen, daß sie irgendwie um Sie in Unruhe war. Nun weiß ich freilich auch, wie hart und fanatisch Clara eine menschliche Sache anzusehen vermag, zumal wo, wie es hier gewiß der Fall ist, ein wenig Eifersucht mit in's Spiel kommt. Also war ich weit davon, deshalb besorgt zu sein.
Aber, stellen Sie sich vor, Sidie, als bald darauf Ihr Brief kam, da überfiel mich die unerwarteteste Besorgnis aus dem heraus, was Sie selber sagen, daß Sie sich freuten, daß ich ihn so richtig erkannte. Liebe Sidie, Sie sagen «erkannte», da stürzte mirs übers Herz, daß ich das eigentlich doch gar nicht imstande sei. Ich habe nur Ihrer schönen Meinung von ihm zugestimmt und diese Zustimmung, so gut es ging, in Einklang gebracht mit meinen sehr sehr entfernten, sehr sehr knappen und allerdings lebhaft sympathischen Erinnerungen an K[arl] K[raus]; mit meiner Überzeugung zu seiner muthigen Thätigkeit, die sich aber auch, wie Sie wissen, auf die fernen Jahre stützt, da es noch eine Wiener Rundschau gab, etwa noch auf die «Fackel» in ihren frühsten Anfängen. Nun mein ich mit alledem nicht, etwas von jenem damals freudig Zugegebenen zurückzunehmen, dazu liegt ja nicht der mindeste Anlaß vor. Es scheint mir eine so freundliche Fügung, daß Sie ihn zuweilen in Janowitz haben, durch ihn von hundert Dingen hören, die sich Ihnen sonst nicht böten, Bücher und Verhältnisse sich zu eigen machen und in schönen und vielfältigen Gesprächen mit dem guten Rathgeber (dem Sie das alles danken und der Ihnen dafür eine großmüthige und lebendige Gastfreundschaft zu verdanken hat) Ihren neuen inneren Besitz erproben und befestigen können. Aus alledem kommt meine Beunruhigung nicht. Nur steigt mir unversehens eine schmerzliche Erfahrung auf, die ich mehrmals im Leben habe machen müssen, immer von Neuem, obwohl ich mich allmählich hätte vor ihr hüten können: es kommt vor, und ist mir dreiviermal geschehen, daß ich über geistige Wege (Umwege, wenn man so will) einen Menschen, ohne es zu merken, näher in mein Leben einbezog, als ich eigentlich meinte, als ob man vergäße, daß man mit der geistigen Existenz des Anderen auch sein anderes, möglicherweise sehr fremdes Dasein fortwährend einsaugt -, es kann da zu einem Punkt kommen, wo man, gleichsam erwachend, ihn wie einen Fremdkörper in allen Gliedern fühlt, ja sich selber, um seinetwillen, am ganzen Leibe fremd wird.
Dieses Erlebnis ist ein überaus schwieriges und mühsames, ich denke nicht gern daran zurück -, und hier bin ich nun fast bestürzt in der Vorstellung, es könnte Ihnen, bei einem sehr kontinuierlichen Umgang mit Karl Kraus, etwas Verwandtes widerfahren. Als ob Sie, ganz ohne seine, noch Ihre Schuld -, irgendwann zurück müßten, denn sehen Sie, liebe Sidie (bedenken Sie sein Leben, bedenken Sie das Ihre): er kann Ihnen nicht anders als fremd sein, ein fremder Mensch; ein Sie nahe angehender ausgezeichneter Schriftsteller; ein Geist, der auf den Ihren vom glücklichsten Einfluß sein kann, wenn ... wenn: die Distanz keinen Moment verloren geht, wenn Sie irgend einen letzten unaustilgbaren Unterschied, auch im Geistigsten noch, zwischen sich und ihm aufrechthalten: denn so viel er sein mag und ist, die Anwendung, die er seinem Geiste geben mußte, hat aus diesem ein zu einem bestimmten Gebrauche einseitig geschärftes Instrument gemacht, - Sie stehen da nicht der lieben, rein bewegten Geistigkeit eines fühlenden und sich mittheilenden Menschen -, Sie stehen einer Waffe, einem Bewaffneten, einem geistigen Angreifer gegenüber, und die natürliche Gegenseitigkeit dieses Gegenüberstehens ist nur solange fruchtbar, als Sie sich irgendwie wehren; wenn sich Freundschaft daraus ergiebt, so kann es nur eine Freundschaft ganz in Waffen sein, zu dem Zwecke, daß die Ihrigen daran sich übten.
Viel lieber, Sidie, hätte ich das alles im Gespräch gesagt, ich weiß gar nicht, ob mans überhaupt, geschrieben, verständlich machen kann. (Verstehen Sie, was ich meine?) Da mein Kommen doch immer noch so unsicher hinausgeschoben bleibt (selbst wenn der Gärtner mit dem Phlox irgend ein heimliches Abkommen treffen sollte!) so wollt ich nicht warten, sondern auf gut Glück mich aussprechen, tant bien que mal und plutôt mal als bien, aber wie's mein Herz eben zu leisten vermag. Sie werden schon Nachsicht haben und den alten Freund reden lassen und wenn er gar nicht recht hat, mit nichts, - so hat er eben diesmal unrecht.
Ich weiß ja selbst nicht warum, aber sowohl Ihr Brief wie Ihre Briefkarte haben mich unruhig gemacht, - vielleicht fühl ich nur die neue höhere Welle der Traurigkeit, die über Sie gerade hinüberschlägt, - aber vielleicht klingt auch diese Welle gerade deshalb so hohl, weil etwas um Sie im Begriffe steht, falsch zu werden.
Überlegen Sie das, Sidie, - das ganze gute treue Janowitz wird Ihnen dabei beistehen, und wenns überlegt ist, bitte ich um ein kleines oder ein längeres Wort, wie's Ihnen kommt.
Sie wissen, wie's der alte Freund lesen, - wie er sichs zu Herzen und Einsicht nehmen wird:

Rainer


P.S.: Den Chopin haben Sie inzwischen. Nun kommt die Keats-Zeichnung von Joseph Severn.
(Bitte behalten, ich ließ diese für Sie kommen, in der Voraussetzung, sie könnte Ihnen lieb sein, - ich habe noch ein zweites Exemplar.) In der unendlichen Traurigkeit ist ein Hingegebensein ausgedrückt, das auch wieder tröstet: denn vollkommen wie sie ist, muß sie eine Hingegebenheit sein an etwas, das bei aller Härte, die Milde einer Macht besitzt, die im Recht ist [...]