Briefe


An Herrn von W.

Paris VIe; rue Cassette, am 21. Oktober 1907



Sehr geehrter Herr,
Gerne nähme ich mir Zeit und Ruhe, um Ihrem Vertrauen im Geringsten gerecht zu werden; wenn Sie aber vernehmen, daß ich die letzen sehr arg beanspruchten Tage vor einer längeren Reise eben bewältige, dazu bei nicht sehr guter Gesundheit, so werden Sie sicher mit Nachsicht ansehen, daß ich mir die Antwort kurz mache. Kurz, nicht leicht. Denn schwer bleibt es auf alle Fälle, ob man viel oder wenig zu sagen sich entschließt, und über die Maßen verantwortlich.
Meiner Erfahrung entspricht es, zu glauben, daß aus den Arbeiten gewisser früher Jahre nichts zu erfahren und zu deuten ist, es sei denn man entschlösse sich zu einem eingebildeten Wahrsagen oder zu Umschreibungen, die so wenig am Platze sind künstlerischen Verwirklichungen gegenüber, vor denen (aller Kritik zum Trotz) nur Ja und Nein besteht.
Es ist gleichgültig, was man als sehr junger Mensch schreibt, ebenso wie es fast gleichgültig ist, was man sonst unternimmt. Die scheinbar nutzlosesten Zerstreuungen können ein Vorwand innerer Sammlung sein: ja, sie können sogar von der Natur instinktiv ergriffen werden, um die kontrollierende Beobachtung und Aufmerksamkeit eines neugierigen Intellektes von seelischen Vorgängen wegzulenken, denen daran liegt, unerkannt zu bleiben. Man darf alles tun, dies allein entspricht der ganzen Breite, die das Leben hat. Aber man muß sicher sein, es nicht aus Opposition auf sich zu nehmen, aus Trotz gegen hindernde Umstände oder, im Gedanken an andere, aus irgendwelchem Ehrgeiz. Man muß sicher sein, aus Lust, aus Kraft, Mut oder Übermut zu handeln: so handeln zu müssen.


Es ist mir später oft aufgefallen, wie sehr die Kunst eine Sache des Gewissens ist. Nichts braucht man so sehr in künstlerischer Arbeit wie das Gewissen: es ist der einzige Maßstab.

(Die Kritik ist keiner, und auch die außerhalb der Kritik sich bewegende Zustimmung oder Ablehnung anderer darf nur ganz selten, unter nicht zu verwechselnden Bedingungen, Einfluß gewinnen.) Darum ist es sehr wichtig, in jenen frühen Jahren das Gewissen nicht zu mißbrauchen, nicht hart zu werden an der Stelle, auf der es liegt. Es muß leicht bleiben bei allem; man darf es ebenso wenig fühlen wie irgendein inneres, unserem Willen entzogenes Organ. Den leisesten Druck aber, der von ihm ausgeht, muß man beachten, sonst verliert die Waage, auf der man später jedes zu schreibende Vers-Wort wird prüfen müssen, ihre äußerste Beweglichkeit.
Ich weiß kaum mehr zu sagen, als dies in jedem Fall Gültige. Vielleicht noch den Rat, die Einsamkeit ernst zu nehmen und, wenn immer sie kommt, als Gutes zu empfinden. Daß andere sie nicht erleichtern, liegt weniger an ihrer Teilnahmlosigkeit und Verschlossenheit als vielmehr daran: daß wir wirklich unendlich allein sind, jeder, und unerreichbar bis auf sehr seltene Ausnahmen. Damit muß man sich einrichten. - In aufrichtiger Ergebenheit begrüßt Sie:
Rainer Maria Rilke