B riefe


An Arthur Schnitzler


Westerwede bei Bremen,
am 24. Juni 1901

Sehr verehrter Doctor Schnitzler,
ich habe den 'Lieutenant Gustl' schon aus der 'N.F. Presse' gekannt; dennoch bin ich recht aufrichtig froh, diese eigenthümliche Novelle durch Ihre Güte nun auch als Buch zu besitzen.
Die Form ist so überaus gut gewählt, oder eben vielmehr nicht gewählt, sondern an den Stoff gebunden, der von einer anderen Seite, d.h. von mehreren Außenpunkten her gesehen, an Gewalt und Einheitlichkeit nothwendig verloren hätte. Hätte der Verfasser selbst die Erzählung geführt, wäre er seinem Helden gegenüber oft in Verlegenheit gekommen, er hätte vorsichtig sich bewegen müssen, um nicht fortwährend über dessen schmale Persönlichkeit hinauszugreifen. Durch die gewählte Form aber ist die Enge und Begrenztheit des Helden im besten Sinn der Wirkung dienstbar gemacht, indem auf dem beschränkten Schauplatze sich alles vollziehen muß, das Äußere und das Innere, so daß alle Ereignisse wie Erscheinungen. eines bestimmten Innenlebens sich dort zu begegnen scheinen. So kommt es, daß Lieutnant Gustl interessant und bis zu gewißem Grade als Schauplatz eines Schicksals erscheint, das viel größer als das seine sich anfühlt. Mit dem Willen und Bewußtsein des Dramatikers ist hier viel erreicht. Erscheinungen, die kaum sichtbar geworden waren, sind für diese innere Schaubühne gewonnen, durch dieses enge Flußbett durchzufließen, wobei denn ein großes Rauschen geschieht ... Darin liegt der Wert des 'Lieutenant Gustl'. Man kann natürlich eine Tendenz drinnen erkennen und eine Auflehung und eine Überlegenheit*, wenn man nicht über die Fabel hinaus in die Tiefe sondiert.
Daß eine gewisse offizielle Meinung nicht einmal bis zur ersten Tiefe kam, ist bedauerlich, aber keineswegs erstaunlich. Es kommt bei alledem im 'Lieutenant Gustl' etwas zum Ausdruck, was man in Oesterreich schwer verträgt: eine Verurtheilung jeder Lebensspielerei und ein Bedürfnis nach Ernst, welches den bevorzugten Ständen jedesmal, wo es auch auftreten mag, als Gefahr erscheint und als Angriff. Wenn eine Gemeinschaft, die sich so eng faßt und so ängstlich schließt, schließlich merkt, daß man außerhalb ihres Kreises steht und das laut erklärt, ist das für sie auch ein Fortschritt, eine Zunahme an Einsicht, über welche jeder unbetheiligte Beobachter sich freuen kann. Es ist viel Wehleidigkeit in unserem Vaterlande, so daß, wenn einer sich nur einmal frei bewegt, alle Nachbaren, an die er rührt, sich geschlagen fühlen!
Nun es verlohnt nicht, mehr als das Allernächstliegende dabei zu sagen.
Nochmals meinen herzlichsten Dank! Ich schicke Ihnen in diesen Tagen zwei Sonderhefte mit Versen. Eines ist in Prag erschienen, eines in München; denn ich habe nichts anderes im Augenblick, um Ihre liebe Gabe zu erwidern als jene Flugblätter und natürlich dieses:

die herzlichste Zuneigung
Ihres sehr ergebenen
Rainer Maria Rilke


* oder wenn man kein gutes Gewissen hat