Briefe


An Marie Taxis

Paris, 77 rue de Varenne,
am 27. September 1911


Nun werden, liebe Fürstin, Entschlüsse für mich gefaßt, das Erste, was mich hier erwartete war Ihr Brief (de bonne augure), das zweite die Nachricht, daß wir alle (Rodin nicht ausgenommen) zum ersten Januar aus diesem Hause ausgekündigt sind, - so ist Eines weniger zu überlegen, was mir doch immer anlag, ich bins froh, alle andern, hör ich, sind untröstlich und verbringen ihre Zeit abwechselnd mit Hoffen und Sich-Sträuben. Wüßte ich, daß ich gar nicht her zurückkomme die nächsten Monate, so würde ich jetzt schon alle meine Kisten packen lassen und mit den paar Möbeln so zusammenschieben, daß Ende Dezember das Ganze ohne mein Dasein, etwa in ein Garde-Meubles, übersiedelt werden kann. Meine Pläne -? vor der Hand gehen sie ganz in den Ihren auf und kommen von allen Seiten her in Duino zusammen, und weiter, ich weiß nicht. München hat mich auf wunderlichste Gedanken gebracht, etwa die, dort eine Weile zu leben, an der Universität ägyptologische und medizinische Sachen zu hören, dabei große Wege zu machen und reiten zu lernen. Das ist doch ein vollständiges Programm, und ich werde schon recht haben, vermuth ich, mein von den Musen nun gemiedenes Leben, so programmatisch als möglich einzurichten, um der inneren Überraschung und Überwältigung die Erwartung nichtmehr vorzubereiten, die sie obstinat leer läßt. Die letzten Tage sprach ich viel mit einem Arzt, er hätte am Liebsten gesehen, wenn ich mein Bedürnis nach Wald und Alleinsein doch noch durchgesetzt hätte, hielt Kohlensäure-Bäder für angezeigt und gab mir sonst allerhand Brauchbares an die Hand. Aber schließlich war es das Richtige, jetzt hierher zu gehen, Ihr Telegramm beschleunigte mich ein wenig, zusammen mit einem Briefe Kassner's, der mir seine Cousine, Frau Olden, in Paris anmeldet und mich bittet, in den nächsten Tagen womöglich ein wenig für sie da zu sein. Sie hat sich bisher noch nicht eingestellt. In Kassner's Brief war an allen Stellen ein fast heftiges Verlangen nach Aussprache, die geschriebenen Worte, indem sie dies ausdrückten, blieben ganz dahinter zurück, als ob er, ermüdet von unwilligem Alleinsein, den Andern erst sehen müßte, um an ihn zu glauben und sich ihm mitzuteilen. Wie wird er zurückkommen und was geht dort in ihm vor?

Fürstin, wissen Sie, daß ich eine einzige Sehnsucht hätte: nach Toledo zu reisen. Diese Nacht bildete ich mir plötzlich ein, wir thätens, halb dachte ichs, halb träumte ichs und ließ mich in Beidem recht weit gehen. Ich kann verfolgen, wie das entstehen mußte: Ihr Brief zeigte mir, daß Sie noch im Einzelnen unentschlossen sind (was mich, Zögerer von Beruf, übrigens sehr tröstete), aus Oberitalien hörte auch ich in München und Berlin immer wieder Choleragerüchte, und um direkt nach Duino zu gehen, ist es Ihnen vielleicht zu früh... Dies müssen so die Voraussetzungen meines Traumes gewesen sein, dann kam dazu, was mir alle diese Tage nachgeht: die Greco's, die ich jetzt in München sah und wiedersah, durchmachte, erlebte: ich schrieb Ihnen davon, kam aber wohl nicht dazu, zu erzählen, daß da dieser seltsame Laokoon war: stellen Sie sich vor, ein geräumiges Bild, im Vordergrund auf braunem steinigem, von den Wolken herüber rasch und tragisch verdunkeltem Erdreich, Laokoon, umgerissen von der Schlange, die er hinter sich wegzuhalten versucht, einer der Söhne schon gefällt, einer links, stehend, zurückgekrümmt und wieder gespannt von dem starken Bogen der zweiten Schlange, die ihm schon ans Herz reicht, zwei Söhne rechts noch kaum begreifend (so schnell wälzte sich das heran und nahm überhand), und durch alles das hindurch, durch Stehen und Stürzen und Widerstand, durch alle die spannenden Zwischenräume dieser Verzweiflung durch - Toledo gesehen, wie wissend von diesem Schauspiel, hinaufgedrängt auf seine unruhigen Hügel, bleich von dem Schein der hinter ihm hinstürzenden Himmel -. Ein unvergleichliches, unvergeßliches Bild. - So kam es also und klärt sich auf; es müßte herrlich sein, diese Stadt zu sehen und den Greco im Zusammenhang mit ihr. Aber ich phantasiere natürlich, das wäre mehr als ein Umweg, weiß Gott, was das wäre. Wie freu ich mich aufs Mündliche. Bitte recht bald.

Ihr:

Dottor serafico

(NB: Die zwei Exemplare des Dilettantismus bestellte ich gestern telegrafisch durch die Insel. Mein Exemplar, das ich sonst gleich geschickt hätte, war leider nicht zu finden.)