Briefe


An Ilse Erdmann

Paris, 17, Rue Campagne Premiere, XIVe,
am letzten Januar 1914



Es wäre mir am Ende doch wie ein Zwang, sollte ich mir vorsetzen, Ihnen überhaupt nicht zu schreiben; ob wir uns da nicht, ganz unabhängig voneinander, könnten gehen lassen, dergestalt, daß auf beiden Seiten ein Brief jederzeit möglich bleibt, ohne daß sein Eintreffen, weder da noch dort, eine Beantwortung herausfordert oder auch nur nahelegt. Dies ist umso eher denkbar, als die Fragen, die wir einander zu lesen geben, auf eine wirkliche Antwort gar nicht eingerichtet sind; immerhin gehören sie auch für mich zu denjenigen, die mich am meisten und innersten bewegen, und Sie dürfen glauben, daß es mir, da der Weg einmal besteht, natürlich ist, mich Ihnen manchmal ebenso mitzuteilen, wie es Ihnen einfach selbstverständlich war, mir zu schreiben.
Auf Ihren vorletzten Brief hätte ich,Ihnen dies zu sagen gehabt: daß eine Überschätzung zwischen uns nicht eigentlich bestehen kann; wir wissen viel zu wenig voneinander, um uns Dinge, die wir einer im Anderen fühlen, geradezu zuzuschreiben; wieweit diese Dinge selbst in unserer Macht liegen, wie weit wir nur in den seltensten Stunden mit ihnen uns vertraulich benehmen dürfen: was liegt daran? Wir haben diese Dinge doch erfahren -, und wäre es nur der momentanste und ausnahmsweiseste Umgang, den sie uns zuließen: daß wir sie kennen, ist wahr, und diese reiche Wahrheit lassen Sie uns, wo sie an den Tag kommt, arglos und ruhig ineinander bewundern.
Die Freude, die mir damals Ihr schön beschreibender Brief bereitet hat, war mir durch keinerlei Umstand wieder wegzuenttäuschen; denn die Realität jeder Freude ist unbeschreiblich in der Welt, nur in der Freude geht noch die Schöpfung vor sich (das Glück dagegen ist nur eine versprechliche und deutsame Konstellation schon vorhandener Dinge), die Freude aber ist eine wunderbare Vermehrung des schon Bestehenden, ein purer Zuwachs aus dem Nichts heraus.



Wie schwach muß im Grunde doch das Glück uns beschäftigen, da es uns sofort Zeit läßt, an seine Dauer zu denken und darum besorgt zu sein: die Freude ist ein Moment, unverpflichtet, von vornherein zeitlos; nicht zu halten, aber auch nicht eigentlich wieder zu verlieren, indem unter ihrer Erschütterung unser Wesen sich gewissermaßen chemisch verändert, nicht nur, wie es im Glück der Fall sein mag, in einer neuen Mischung sich selber kostet und genießt.

Erfüllt von dieser Erfahrung, hab ich mich ziemlich vor Enttäuschung gesichert, da denn das Größere immer im Recht bleibt, unerwartet zu sein, zu kommen, zu gehen, und ich ihm lange nicht mehr zumute, als Konsequenz aus etwas vorigem Großen hervorzugehen. Es steht für mich nicht in der Reihe, es tritt gleichsam immer gerade aus der unkenntlichen und unabsehbaren Tiefe hervor, und drum höre ich nie auf, es als Möglichkeit zu fühlen, auch da, wo es ausbleibt.
Lassen Sie nun, so gut es geht, sich von diesen Zeilen überzeugen, daß Sie mir "ganz frei" schreiben können, wie an Niemanden und an Alle, wie man den Blick hebt und, innerlich schauend, meint in die Landschaft hinauszusehen, nicht anders; nur damit die Distanz da sei, die zum Schreiben nötig ist.

Rainer Maria Rilke