(1901)
Der Tag wird immer verlegen in der kleinen
Mietswohnung, in welcher so schwere, unverständliche Möbel
stehen. Aber die Dämmerung begreift alles. Sie weiß,
daß das Vergangenheit ist, was da in Stühlen und
Schränken und Bildern sich erhält, und daß die engen
Stuben, drei Treppen hoch, schuldlos sind an dieser fremden
Vergangenheit, wie Menschen, deren Gesicht von irgend einem Vorfahr den
Namen eines Gefühls geerbt hat, das sie mit ihren eigenen
schwächeren Herzen gar nicht zu tragen vermöchten.
Die beiden Fenster führen den roten Abend herein, der über
die Dächer kommt und leise zu den wartenden Dingen tritt, welche
ihn schweigend empfangen. Am freudigsten nimmt ihn die schmale, mit
Säulen geschmückte Kommode auf, die wie ein kleiner Altar
ist: mit all dem Silber und Glas auf ihr lächelt sie ihm zu.
Marie Holzer steht gerade vor dieser Kommode. Sie hält von den
kleinen Miniaturen, welche da neben den massiven Armleuchtern
aufgestellt sind, eine nach der anderen in den Abend und betrachtet
jede aufmerksam. Dabei ist ihr junges, helles Gesicht ernst und
nachdenklich. Für eine Weile wendet sie es einer Dame in Schwarz
zu, die, nah bei ihr, auf dem Fensterplatze sitzt und vor sich
hinsieht, ohne daß ihre großen Augen etwas halten. Und so
kann Marie Holzer sie ruhig anschauen, als wäre auch das ein Bild:
dieses Gesicht, dem man kein Alter zu geben wagt, obwohl es nicht jung
ist, diesen feinen Mund, der, von wehen Erinnerungen bewegt, ein
unsichtbares Leiden überwindet, und dieses Haar, von dem man zu
wissen glaubt, daß es schwer ist. Und vor allem die Vornehmheit
dieser zarten, stillen Gestalt, die geduldige Ruhe diesen schwarzen
Schultern, auf denen das schlichte Nutzkleid wie eine Würde liegt.
Jetzt erhebt die schlanke Uhr, die fast verheimlicht zwischen den
Fenstern steht, ihre zitternde Stimme und sagt feierlich sechs
Schläge, von denen sie jeden anders betont; Marie Holzer
läßt sie ganz ausreden und wartet auch noch das
Geräusch ab, mit welchem die geteilte Stille sich hinten dem
letzten Schlage wieder schließt. Dann sagt sie:
»Merkwürdig.« Und nimmt wieder ein Bild von der
Kommode und wiederholt: »Merkwürdig.« Da erschrickt
die Frau am Fenster: »Sie haben etwas gesagt, Marie?« Das
Mädchen stellt zuerst die Miniatur wieder an die alte Stelle, ehe
es antwortet. »Gesagt? - Eigentlich nicht. Es ist nun so
seltsam.« Die Dame sieht flüchtig über den Abendhimmel
hin und fragt leise: »Was denn, Kind?«
»Daß man hier bei Ihnen immer so anders wird. So
eigentümlich fromm. Man ist immer wie zum allererstenmal hier. Man
kann das Staunen nicht verlernen.« Pause. Sie biegt die Arme in
jungmädchenhafter Art hoch zurück und bettet den Kopf hinein,
wie man es wohl während eines leisen Traumes tun mag, den man
tief, mit allen Sinnen genießt. Ihre Augen sind auch geschlossen,
als sie fortfährt: »Und das giebt es hier, mitten in den
Stadt, hoch in diesem lauten, alltäglichen Zinshaus, in dem
nüchterne, unwichtige Menschen wohnen. Über ihnen ist dieses
Seltsame. Sie tragen es gleichsam auf ihren Köpfen und ahnen
nichts davon.« Sie läßt die Arme fallen. »Nein,
sehen Sie, Frau Malcorn, daß es so etwas giebt!...«
»Aber was denn eigentlich, Kind?«
»Alles das: diese Bilden und diese Dinge und Sie, Frau Malcorn,
und Harald - ja, auch Harald.«
Frau Malcorn schüttelt leise den Kopf. »Sind denn einsame
Menschen so anders als -«
»Einsame Menschen? - Ja. Vielleicht. Aber das ist es nicht
allein.« Marie Holzer geht zu dem anderen Fenster hin. Und dann:
»Sie sind nicht einsam eigentlich. Sie leben unten vielen,
bloß nicht unten uns, nicht unten uns Heutigen. - Sie haben so
viel Bilden hier. Sie haben mir ja schon oft gesagt, wer alle diese
Menschen waren. Diese traurigen Frauen alle und diese feierlichen
Herren. Und ich weiß auch, daß sie längst gestorben
sind. Manche von zweihundert Jahren, manche noch früher. In
Frieden gestorben, - aber - wissen Sie auch wirklich, daß das
alles nun Bilder sind?«
Wie beunruhigt durch die leise Furcht, die diese Frage des
Mädchens von sich herjagt, steht Frau Malcorn auf und kommt zu
Marie. Und während sie eine Hand auf Mariens Schulter legt,
streichelt diese leise die andere Hand. »Sie sind so zart, so
blaß. - Als ob viele Menschen von Ihrem Leben mitlebten.«
Pause. »Alle diese....«
Man erkennt schon kaum mehr die furchtsame Bewegung, mit welchen Marie
in das Zimmer weist. So dunkel ist es geworden. Und in das Schweigen
wirft sich von draußen der Sturm.
Aber da beginnt Marie Holzer laut und in anderem Ton:
»Sie müssen sich schonen, Frau Malcorn. O, verzeihen Sie,
wenn ich so spreche. Ich fühle mich manchmal älter - wie Ihre
ältere Schwester.«
»Und sind doch so jung?« lächelt Frau Malcorn und
küßt sie auf die Stirn.
»Ja, ich bin jung. Und ich bin dessen froh. Ich fühle so
viel Kraft in mir. Ich möchte so vieles tun.« Und da ist
eine Ungeduld in ihnen Händen, als ob sie sie gleich an alles
Wenden legen wollte, das zu langsam geht.
Dabei erinnert sich Frau Malcorn: »Das hat Harald auch immer
gesagt: Ich habe so viel Kraft in mir.«
»Das hat er! Das hat uns zusammengeführt!
Zusammengetrieben! Dieses Gefühl von Kraft.« Und Marie
erzählt atemlos: »Gleich damals, als ich ihn zum erstenmal
sprechen gehört habe, in den Versammlung. Viele hatten vor ihm
gesprochen. Ich weiß noch: es handelte sich um die Organisation
eines Hilfsvereins zur Unterstützung der Arbeitsunfähigen,
ihnen Frauen und Kinder. Die anderen hatten so trocken und von oben her
die Sache erörtert. Man sah ihnen an, sie waren satt und kannten
die Sorgen vom Hörensagen. Man war müde geworden dabei. - Da
kam er! Wie ein Sturm war das. Wie ein Erwachen bei Feuerschein! Nicht
mehr von den Versorgung diesen paar armen Menschen war die Rede. Als
sollte Raum wenden für ein neues Geschlecht, mitten unten uns,
rücksichtslos.«
Marie Holzer holt tief Atem und macht eine Bewegung, als stellte sie
etwas in das Dunkel, als Ziel für ihre hellen, seligen Augen.
»O Frau Malcorn, ich sehe ihn immer so vor mir. Er war groß
geworden, - groß. Und seine Stimme hing über den
Unschlüssigen wie ein Schwert. >Kleingläubige,< -
riefen - >Kleingläubige!< - Und da kam sein Glauben
üben mich. Dieser Glaube eines Kindes oder eines Märtyrers.
Er hatte seine Hände erhoben, und es war, als hielte er etwas in
den Saal hinein, was uns blendete. Unsere Schatten waren auf einmal
schwer, fielen uns ab, und wir standen da; Licht von seinem Licht, Herz
von seinem Herzen...«
Unten den allzugroßen Worten sucht Marie nach etwas Sagbarem, und
merkt nicht, wie Frau Malcorn ihr horchendes Gesicht in den Händen
verbirgt. Endlich erzählt sie weiter. »..... Und dann, als
alle gingen, drängte ich mich durch. So, mit den Ellbogen, mit den
Fäusten, wie's kam. Ich hätte den gewürgt, der mich
gehalten hätte. Zu ihm. Er sah gar nicht müde aus. Nur
ruhigen, dunklen. Ich konnte nichts sagen, nicht eine Silbe. Ich hatte
Weinen im Hals. Mich schwindelte. Ich griff nach ihm, ins Unbestimmte.
Er nahm meine Hand und wärmte sie in seinen beiden. Und hielt sie.
Und fragte: >Du willst mir helfen?< Da hab ich mit einemmal
weinen können; nie frühen hab ich's gekonnt, - auch nicht,
als meine Mutter starb. Aber damals. - Und es war so gut!«
Hier unterbricht sie ein heftiges Schluchzen. Sie wird fast
mütterlich, als sie zu den Weinenden tritt, leise den Arm um ihre
zuckenden Schultern legt und bittet: »Aber! - Das ist doch eine
Freude, Frau Malcorn, nicht?«
Sie fühlt, daß die andere eine bejahende Bewegung macht.
»Also, sehen Sie...«
»Aber auch eine Angst.« Und Frau Malcorn beschwichtigt ihre
Tränen.
»Wie?«
»Er war nie so früher. Er war früher viel bei mir...
Früher war er gern zu Hause... «
»Ja sehen Sie -« sagt Marie rasch mit ihnen breiteren
Stimme - »da müssen Sie schon freigebig sein. Er hat
Reichtum für viele. Alle brauchen etwas von ihm. Er ist die Seele
von allem. Begreifen Sie das?«
»Ja«, sagt Frau Malcorn, wie gestrafte Kinder ja sagen.
»Er ist reichen als wir alle. Er nimmt Ihnen nichts fort, auch
wenn er hundert andere beschenkt. Fühlen Sie das?« Dasselbe
Ja.
»Er ist ein König...«
»Aber er meidet mich.« Und trotz Mariens abwehrenden Geste
beharrte sie, die zarte Frau. »Ja, ja, ja, er meidet mich, Marie.
Mich und die Stube hier und überhaupt...«
»Aber, liebe...«
Frau Malcorn drückt das Gesicht an die starke, bewegte Brust des
Mädchens und klagt, wie von sich selbst beschämt:
»O, warum haßt er mich?«
»Um Gotteswillen, Frau Malcorn, Sie versündigen sich ja!
Wissen Sie, wie Harald von Ihnen spricht? - «
»Wie von einem Traum. Wie von einem Märchen, von dem
schönsten Märchen, das man als Kind gehört hat und das
man wiederfindet in jedem Schönen, immer und immer.« Ganz
weich ist Mariens Stimme jetzt, ganz sanft.
»Wirklich?« Zaghaft hebt Frau Malcorn die verweinten Augen.
»Wie von einem Kleinod, das man am sichersten Platz verwahrt
hält, - wie von einem Feiertag.«
»O, mehr, mehr!«
»Ich hab Sie doch schon so lieb gehabt, Frau Malcorn, lang ehe
mich Harald zu Ihnen führte. Lang bevor ich Sie kannte. Woher
sollte mir das gekommen sein?« Ungeduldig und glücklich,
bittet die zarte Frau: »Was hat er Ihnen von mir
erzählt?«
»O, alles. Von seinen Kindheit. Wie die Tage waren. Und was Sie
ihm am Abend vorlasen. Und welches Kleid Sie in die Kirche
trugen...«
»Das schwarze mit dem Spitzeneinsatz, - ja?«
»Eben das. Oft unterwegs begann er davon zu sprechen. So,
unvermittelt. Und seine Stimme war ganz anders dann,
wärmen...«
»Nicht wahr? Seine Stimme kann seltsam wenden?...«
»Ja. So, als ob sie weit her käme...« Pause.
»Sehen Sie, Marie, einmal war Harald so wie diese Stimme... Eh
das ihn erfaßte, das Fremde, Neue, Unruhige, das ich nicht
begreife...«
»Eh er ein Mann wurde, Frau Malcorn; eh er einen Beruf auf sich
nahm, eine Pflicht, - eh er ins Leben sprang, Frau Malcorn. «
»Ja,« nickt Frau Malcorn traurig - »ins
Leben...«
»O, fürchten Sie nicht für ihn! Er ist einen, den es
üben sich hat, das Leben. Es ist keine Gefahr für ihn. Er hat
es umgenommen wie einen Mantel, wie einen Purpurmantel... «
»Das Leben?« fragt die andere befremdet.
»Das moderne Leben, ja. Dieses ungestüme, stündliche
Werden. Diese Hast eines Frühlingssturmes: alle Himmel über
Einem Tag. O, Sie glauben gar nicht, wie lieb man es hat, wenn man erst
mitten drin steht. Wie man sich eins fühlt mit ihm...«
»Wissen Sie das durch sich selbst, Marie?«
»Ja, Frau Malcorn. Ich gehöre ihm ja ganz. Das Schicksal hat
mich so mittenhinein geworfen. Zeitig schon, als meine Mutter starb.
Das Schicksal und - die Sehnsucht...« »Sehnsucht,
wonach?«
»Nach Macht.«
»Macht?«
»Ja, üben sich und - üben das Leid.«
Pause. »Sie haben Ihre Mutter lieb gehabt?«
»O ja. Aber wir waren sehr arm. Wir haben nie Zeit gehabt, es uns
zu sagen. - Ich glaube, sie hat es nie gewußt.«
Pause. Und Marie Holzer fühlt eine Bangigkeit kommen. Und sagt
rasch, wie jemand, den sich versprochen hat, nie traurig zu sein:
»Aber wollen wir nicht die Lampe anzünden?«
»Ja, bitte, Marie. Übrigens sollte doch Harald schon
zurück sein!«
»O, Sie wissen ja, wie das geht.«
»Aber es ist halb sieben?«
Marie hat hinten auf den Kommode die Lampe angezündet und bringt
sie zum Sofatisch, wo man abends zu sitzen pflegt.
»Er wird jemanden getroffen haben«, beruhigt sie, und ihn
Gesicht, das sich über die Lampe neigt, beweist, daß sie
nicht besorgt ist. »Oder er holt sich noch irgend etwas aus den
Bibliothek.« Sie ist froh, noch eine Erklärung seines
Ausbleibens gefunden zu haben.
Aber Frau Malcorn versteht es anders: »Diese Bücher
-«klagt sie - »diese vielen großen
Bücher!«
Marie lacht. »Ja, das ist seine alte Leidenschaft.«
»Und er liest so lange. Jede Nacht bis eins oder zwei.«
»Er lebt zwei Leben. Eines nach vorn und eines tief zurück
in die Vergangenheit. Das macht ihn so, - so breit...«
Frau Malcorn, die noch immer nicht in den Kreis den Lampe kommt, steht
irgendwo im Dunkel, unten den Dingen. Sie scheint die letzte
Erklärung nicht gehört zu haben. »Ich schleiche oft bis
zur Tür und schaue durch die Spalte: immer noch Licht. Ich wage
nicht zu rufen. Aber ich horche immer...«
»Ja, ja, er liest gern laut«, sagt Marie
oberflächlich, zieht die Fenster-Vorhänge zu und vollendet
damit den Abend. Und den Kreis der Lampe wird ruhig und rund.
Aber da flüstert Frau Malcorn, als ob das ein Geheimnis wäre:
»Er hustet.«
»Na -« macht die Holzer, »- das Wetter ist auch
danach.«
»Nein, nicht so. Schon lange und so, so fürchterlich
tief...«
Da ist auch Marie erschrocken, ohne Fassung. Nur einen Augenblick
freilich. Dann schüttelt sie's ab. »Sie sind aber auch, Frau
Malcorn! Immer gleich alles von den schwärzesten Seite
sehen.« Sie sieht ein, daß man schnell etwas Scherzhaftes
sagen muß, um jeden Preis. »Wenn Sie nun mal reden
müßten, so vor fünf-, sechshundert Menschen im
heißen, dunstigen Saal und zwei, drei Stunden lang...«
Frau Malcorn wagt sich ins Licht. »Meinen Sie wirklich,
Marie?«
»Aber natürlich, Frau Malcorn. Denken Sie nur. Aber damit
Sie ganz beruhigt sein können, will ich ihn überreden, mal
zum Arzt zu gehen.«
»Wie gut -«
»Ja, zu Ihrer Beruhigung. Es wird kein leichtes Stück sein
bei ihm. Weiß Gott! Er gönnt sich so ungern für sich
selben Zeit. Aber ich glaube, ich kann schon etwas wagen bei
ihm.« »Er tut alles, was Sie wollen, Marie...«
»O - wir sind gute Kameraden. Da gleicht sich das aus. Im
übrigen, er ist ja so weit über mir in allem.« Pause.
»Ich bin oft ganz bange deshalb.«
»Bange?«
»Er fühlt alles so! Oft wenn wir unter Menschen sind: Ein
Wort, ein Blick, eine Bewegung irgendwo. Ich merke es kaum, aber ich
sehe an ihm sofort: es ist etwas geschehen. Dieses Wort, dieser Blick,
diese Gebärde, war ein Ereignis, etwas Entscheidendes... «
»Wie meinen Sie das, Marie?«
»Nun, das ist ja selbstverständlich. Er ist reif. Er hat
jahrhundertelange Entwicklungen hinter sich. Unter ihm sind Feldherren,
Bischöfe, - Könige vielleicht sogar. Immer einer auf den
Schultern des andern. Und ganz zuhöchst: Er, Harald. Und alle
leisesten Schwankungen dieser breiten Basis sind in ihm
sichtbar...«
Dann spricht Marie Holzer von sich, ganz anders im Ton, fast grob:
»Mein Großvater war Bauer...« Und nun vergißt
sie alle Ehrfurcht und fährt fort, trotzdem die Uhr siebenmal
schlägt. Hastig, als ob sie erst froh sein könnte, sobald
alles gesagt ist.
»Ich bin so von gestern. Ich bin den Ende nähen, dem Lehm,
mein' ich, dem Rohstoff. Ich bin jünger, jünger in den
Kultur. Ich habe Gesundheit und Kraft. Aber meine Gesundheit prahlt.
Meine Kraft ist protzig und voll Eigennutz; sie will hinauf, sie
muß erst noch hinauf. Ja, ja, das ist es. Harald kann anderen
helfen. Er kann es wirklich: andere heben. Er ist oben. Er war immer
oben. Seine Hilfe ist reif, mühelos, schön...«
Aber Frau Malcorn steht rasch auf und geht hastig an Marie vorbei und
an allen Worten. Schon seit einer Weile weiß sie, daß
Harald kommt. Und nun hört auch Marie seine nahen Schnitte.
»Guten Abend, Mama. Es ist wohl spät? Guten Abend, Marie.
Ihr habt wohl schon gewartet? Ja, es gab da wieder eine Menge
unvorhergesehener Dinge...«
Alles das sagt Harald rasch, und seine Stimme schwankt im Laufen. Er
hebt sich aus der dunklen Umarmung den Mutter und reicht Marie eine
Ledermappe zu. »Nimm, Marie. Wir müssen das dann durchsehen,
heute noch. Es handelt sich um die Eingaben - nun, du wirst ja
sehen....«
Plötzlich bemerkt Harald, daß er steht und es sich gefallen
läßt, daß seine Mutter den nassen Mantel von seinen
Schultern nimmt. Er macht eine erschreckte Bewegung, als ob er ihre
feinen Hände schützen wollte.
»Es regnet?« fragt Frau Malcorn besorgt.
»Nebel ist, greulichen, dicker Nebel. Man sieht nicht drei
Schnitte vor sich. Das legt sich so in die Kleider und auf die Lunge.
Wenn nun erst die Herbsttage wieder vorüber waren.«
Marie Holzer hat inzwischen den Inhalt den Mappe flüchtig
durchgesehen. Sie wendet ihre ruhigen, klugen Augen zu Harald.
»Hast du heute gesprochen?«
»Ja, im Studentenverein. «
»Nun - und?..«
»Was?«
»Wie wars?«
Harald sieht auf seine fröstelnden Hände. »Na, wie
immer, du weißt ja. Bist du schon lange hier?«
Frau Malcorn beeilt sich teilzunehmen. »Ich war so froh, sie hier
zu haben. Mir war schon bange nach dir, Harald.«
»Ja, Mama, du weißt ja: ich bin nicht Herr meinen
Zeit.« Haralds Stimme und seine Bewegungen haben noch die
Maße des Saales, und es fällt ihm schwer, sie an die kleine
Stube zu gewöhnen. Deshalb wendet er sich an Marie. »Aber,
wollen wir das nicht gleich durchsehen?..«
Die Holzer bemerkt die Enttäuschung von Haralds Mutter und
versucht ihn zurückzuhalten. »Nein, Harald, jetzt will ich
dich erst mal wiedersehen, weißt du. Wenn du deine Augen erst
wieder in diese schrecklichen Papiere steckst, sind sie mir ja doch
für heute verloren. Und ich hab doch auch ein Recht auf sie -
nicht?«
»Ja, ja, Marie,« und Harald ist es, als ob man etwas
ausgedacht hätte, um ihn zu quälen. »Ihr habt alle ein
Recht auf mich, ich weiß. Alle, - alle, alle...«
Frau Malcorn ist sehr erschrocken. »Komm, setz dich da an den
Ofen, du mußt ganz durchgekältet sein.«
»Ja, ja, an den Ofen, immer sich an den Ofen setzen, hinten den
Ofen womöglich...« Aber plötzlich tritt Harald auf die
Mutter zu, ganz beschämt. »Mama, verzeih mir... Du siehst,
es steckt wieder mal so ein boshafter Ärger in mir, den noch nicht
herauskam. Marie weiß, das hat nichts zu bedeuten, nicht wahr?
Das kommt schon so mit. Und hier soll er mir, weiß Gott, nicht
heraus, hier nicht!« Er führt Frau Malcorn sanft zu ihrem
Lieblingsplatz bei der Lampe, und seine Stimme findet eine ungeahnte
Zärtlichkeit. »Du hast ganz rote Augen, Mama. Wahrhaftig,
deine Augen sind ganz rot! Hast du mir auch nicht zu viel gearbeitet?
Was? - Dieses schreckliche Rot in deinem Stickmuster... Ja, muß
es denn gerade dieses Rot sein, dieses blutige? - Was wird es denn
überhaupt?«
Frau Malcorn kann so viel Glück gar nicht glauben. »Ein
Tischläufen -«, sagt sie leise, mit vor Rührung
zitternden Stimme.
»Soso« macht Harald, schon wieder weit, von ganz Fremdem
erfüllt, und wendet sich an Marie. »Es ist nämlich
wichtig, daß wir die Sache heute noch erledigen. Es kommt jetzt
so viel. Als ob es auch in den Herzen nicht Tag würde jetzt, - wie
draußen. So viel Elend überall. Physisches Elend, Not,
Armut, Krankheit; - geistiges Elend, Dünkel, Vorurteil und
Eigennutz. Und zu allem: Das Beharren darin, die Trägheit. Die
fürchterliche, dumpfe, unheilbare Trägheit! Dieses
große Joch des Gestern, in dem sie alle gehen. Sie haben ihre
Leiden und ihre Freuden. Unbedeutende, gehässige Schmerzen und ein
banges, falsches, ängstliches Glück. Aber sie bleiben dabei.
Versuchs, sie heraus zu heben: sie wehren sich. Und reißt du sie
einfach los von ihrer armseligen Gewohnheit, - so sind sie wie
Ausgestoßene und wollen zurück in die Pesthütte ihrer
Vergangenheit. Alles umsonst.« Und nach einer ratlosen Pause:
»Und dabei hat man doch diesen ehrlichen Willen, diese
ehrfürchtige Kraft, die nicht herrschen will, die bereit ist zu
dienen und die kleinste, geringste Arbeit nicht scheut, wenn sie nur
auf dem Wege nach vorwärts liegt. - Du weißt doch, Marie,
wie gut, wie gerne ich überzeugt bin vom Ziel, nicht wahr? Du
weißt doch, aus welchen Tiefe mir das alles kommt? Du hasts ja
selbst einmal empfunden, nicht?«
»Lieber, ich empfind es jeden Tag wieder!«
»Und du glaubst an mich?«
»Wie an die Sonne.«
Da hält Harald ihr dankbar die Hand hin und fragt:
»Heißt das: Blüten oder Früchte glauben?«
»Beides. Eines nach dem andern, Harald.«
»Eines nach dem andern?... Das braucht Zeit, Marie, viel
Zeit...«
»Wir sind jung.«
»..und Geduld...«
»Die hast du.«
»Weißt du das so bestimmt?«
»Weil du die Liebe hast, Harald.«
Beide schweigen. Bis Harald, wie erleichtert, aufatmet: »Dank
dir.« Und gleich darauf versucht er wieder froh zu sein.
»So... du, .. . Mama, - sag, darf ich mir mal den Läufer
ansehen; deine Arbeit?«
Frau Malcorn will es lächelnd verwehren. Aber nun wird der
Läufen geholt und unten den Lampe langsam aufgerollt. »O-
O-« macht Harald, noch ehe er die Stickerei ganz geöffnet
hat, »schau, Marie, da reden wir so viel und reden, aber wenn wir
zeigen sollten, was wir gemacht haben - hm? da würden wir wohl in
Verlegenheit kommen! Und da, Mütterchen, macht so etwas ganz in
der Stille, ohne ein Wort, - etwas so Prächtiges. Und das wird nur
ein Läufen. Nun ein Läufer. Wie man sich doch irren kann! Das
hätt ich nun für... für irgend etwas viel Festlicheres
gehalten.«
Marie ist neugierig: »Zum Beispiel?«
»O - für... für ein Kleid...«
»Kleid!« lacht die Holzer ausgelassen. »Trägt
man bei dir solche Kleider?« Harald schaut auf. »Bei mir?
Bei mir? Wie merkwürdig das klingt: bei mir. Ich glaube es ist zum
erstenmal, daß ich diese Worte nebeneinander ausspreche. Wie eine
Erfindung ist das. Und doch so einfach. Eben wie alle Erfindungen....
Bei Gott, - bei den Menschen, bei - dir, - bei.... und nun, ganz analog
konstruiert: bei mir bei mir. - Ja, aber was wollte ich doch?... Wovon
sprachen wir?« Und er erinnert sich seinen Zärtlichkeit.
»Ja - und wozu stickst du denn diesen Läufer, Mama? Wollen
wir ein Fest geben?« Traurig sieht Frau Malcorn ihn an. Aber
Marie Holzer weiß Rat. »Gott, man feiert eben mal irgend
was. Man kann alles feiern. Den ersten Frühlingstag und den ersten
Schnee. Na, und wenn sonst nichts zu finden ist, feiert man eben den
Läufer selbst, wenn er fertig ist, nicht?«
Aber die andern scheinen ihren lustigen Vorschlag gar nicht gehört
zu haben, so ernst und still sind sie beisammen. Und Harald fragt nun,
aus Gedanken heraus: »Das dauert wohl lang, so eine Decke zu
vollenden? -«
»Wenn man fleißig ist...«, seufzt Frau Malcorn. Aber
Harald geht in seinen Gedanken weiten. »Ich« - lächelt
er -»würde gewiß nie ganz fertig wenden damit. Ich
würde sitzen und sticken, und lauter recht dunkeltiefe Farben
haben, in denen man so verloren geht. Und immer weiter wandern durch
den Kanevas. Immer ins Dunklere hinein, wie in einen Wald - und nie das
Ziel finden ... . Ich würde mich fürchten, zu Ende zu
kommen!«
Jetzt ist Harald weit fort von den beiden Menschen, die ihm erstaunt
und besorgt zuhören; sie verstehen ihn nicht mehr. Er aber geht
immer mehr weg von ihnen. Über die geschlossenen Augen hebt er
seine Arme.
».... . Und doch: ich habe solche Sehnsucht nach Festen, nach
einen einzigen ungemeinen Stunde! Nach Rot und Rosen, nach Duft und
Gold, nach Glanz, nach unerhörtem Glanz! Man müßte
erblinden davon, nichts mehr sehen hernach, - nie mehr. Aber wissen: es
war. Und das Gefühl haben von einer namenlosen Verschwendung.
Es kommt manchmal über mich, die Menschen fortzuschicken: >Geht
alle nach Haus, legt eure besten Kleiden an, nehmt alles, was ihr in
den Truhen habt, von den Großeltern her, die lau duftenden
Tücher, und die schweren, verschlungenen Broschen, die wie goldene
Knoten sind. Und die Blumen, die ihr in den Töpfen von den
Fenstern zieht, gebraucht sie einmal! Gebt sie euren Kindern in die
Hände, damit sie lächeln lernen. Und dann - kommt wieder!
Kommt alle wieder!< « Aber Haralds Hände fallen mutlos
aus seiner schönen träumerischen Willkommengebärde, und
er fährt mit müder, enttäuschter Stimme fort: »-
und wenn sie wirklich wieder kämen, alle, in ihnen geschmacklosen
Sonntagsmaskerade mit den zu kurzen Hosen und den steifen, von Falten
gebrochenen Shawlen, die nach Kampfer riechen, - dann .... darin
würden wir einander nichts zu sagen haben, und uns benehmen wie
fremde Kinder, die plötzlich miteinander spielen sollen ...«
Pause.
Und da er nichts hinzufügt, schwärmt Marie Holzer, die im
Schweigen keine Übung hat: »Du sprichst erst wie ein
König und dann - wie ein Dichter ...«
» Und bin - keines von beiden ..« Harald ist aufgewacht.
»Es gab ja wohl Könige in unserem Geschlecht, nicht wahr,
Mama? - Die Sage geht. In langverlorener Zeit. Vor tausend Jahren
vielleicht ...«
Marie schließt die Augen, wie auf einem hohen geländerlosen
Turm: »Tausend Jahre...«
»Ja; wenn du unseren Namen sagst, leise, - klingt noch den alte
Name darin, dumpf, dunkel, wie die Glocken einer versunkenen Kirche ...
« Und Harald spricht weiten, wie mitten in einen Geschichte:
»... Dann schlug eine große Welle üben den
Königsthron und riß den Letzten mit ins tiefe Vergessensein.
Dort bleiben seine Enkel wohnen, Tal-Kinder. Aber viel später, im
Mittelalter, kommt doch wieder einen von ihnen zu Macht und Land. Nicht
wahr, Mama? In einem andern Reich zwar, mit verdunkeltem Namen und nun
als kleinen, abhängiger König. Nach ihm bleiben sie eine
Weile obenauf, und erscheinen nochmals in der Geschichte, zur Zeit des
Dreißigjährigen Krieges. Aber schnell ermatten sie in
kleinen Händeln und feindseligen Streitereien und lassen,
ohnmächtig, den alten Namen los. Und er fällt, fällt
lang bis auf die alten Heidenkönige zurück ... Und ich - ich
kam gerade in eine Namenlosigkeit hinein.« Niemand sagt etwas.
Nun die Uhr spricht darüber, in ihrer milden altmodischen Art.
Beim achten Schlag erinnert sich Harald an etwas.
»Wie ein Dichter ... . Wer hat das gesagt? Du, Marie? - Aber du
bist nicht die erste! Lang von dir hats eine Stimme ausgesprochen, tief
in mir: Dichter! - Ich kann nichts dafür. Weißt du, es war
dort, wo man nicht hinreicht. In jenem Dunkel, wo ein anderer Macht
hat, war es - ... Künstler sein, jung sein! Als ob das dasselbe
wäre - nicht?« Und plötzlich durchbricht es seinen
Willen: »Möchtet ihr, daß ich ein Künstler
wäre?« Pause. »Sag, Mama?«
»Bliebst du dann bei mir, zu Hause?«
»Wer weiß. Ich kann nicht davon reden. Vielleicht.
Vielleicht hat man dann alles in sich. Vielleicht giebt es dann nichts,
was man nicht in sich hat. Vielleicht ... Möchtest du's,
Marie?«
»Daß du ein Künstler wärst? Ich glaube, du bists,
Harald.«
»Du irrst dich, Kind. Gewiß! Du siehst das alles zu licht.
Du hast so viel Licht in dir für alles. Ich bin es nicht. - Ich
hätte es sein können vielleicht. Ich hätte es - bleiben
können, obwohl ich es noch nie war. - Es ist zu spät. «
Und ganz erregt tritt er auf Marie zu:
»Du sagtest früher, ich habe die Liebe, Marie. Ja, - hab
ich sie denn? Hab ich sie nicht vergeudet, ausgestreut mit vollen
Händen? Ist das nicht mein Leben gewesen, sie zu verschwenden,
seit zwei, seit drei Jahren, bis zu diesem Augenblick? Kann ich
über sie verfügen, da Hunderte sich daran halten? Und wenn
ich sie zurück begehre von ihnen, - was soll ich tun mit diesen
Liebe, die die Spuren von hundert krampfhaften Händen trägt,
die abgenutzt, alt, welk geworden ist? Und das nicht hinter ihrem
Sommer etwa. O nein! Ich habe sie gar nicht reif werden lassen; ich
habe den Hungernden diese grünen Früchte zugeworfen: Da! da!
da! ... und sie konnten doch nicht satt und nicht gesund werden davon!
Warum kamst du mir damals die Hand reichen, Marie? Damals war es noch
Zeit. Damals hätt ich noch netten können und - sparen.
Ich will dich nicht anklagen - nein! Nun >Künstler< darfst
du mich nicht nennen. Das ist wie ein Hohn, wenn du das tust ...«
Und da beginnt er leise zu husten, so daß Frau Malcorns Augen
starr und bange werden; aber Marie Holzer achtet jetzt nicht darauf.
Sie fühlt die Verpflichtung zu antworten.
»Du bist erregt, Harald. Du hast kein Recht, so zu reden. Du bist
durch Siege gegangen! Du darfst nicht wankelmütig werden! Du hast
gewußt, was du willst. Muß ich dich daran erinnern?«
Sie läßt sich von Haralds ab Wehrender Bewegung nichts
befehlen. »Ich danke dir alles, auch meine Zuversicht. Du hast
sie mir gegeben. Sie ist mein Besitz. Und wenn du sie wieder willst, -
nicht ohne Kampf!«
Harald fühlt den Husten kommen, und so sagt er nun rasch und hart:
»Du machst so große Worte, Marie.«
»Es sind deine eigenen, die ich dir wiedergebe - alle, auch
dieses: Kleingläubigen! Kannst du deinen Sommer nicht abwarten?
Nicht halbreife Früchte, - Samen hast du ausgestreut an hundert
Stellen, und also mußt du warten auf hundert Ernten.«
Die Holzer erwartet eine Antwort, eine, die alles wieder gut macht.
Aber Harald nickt nur, es scheint ihm so gleichgültig jetzt. Und
dann fürchtet er den Husten, der kommt. Und seine Mutter sieht ihn
immerfort an.
Da nimmt Marie noch einmal alle Kraft zusammen, und ihre Worte sind
warm und unbefangen. »Hab Mut, Harald! Du bist ungerecht. Denk!
Einmal hast du gesagt, wörtlich: >Ich möchte wohl
Künstler sein, aber noch ist es nicht Zeit für die Kunst<
...«
»Hab ich das....? Verzeih also.« Es klingt fast
spöttisch.
Aber Marie Holzer giebt nicht nach: »Ist nicht ein helfendes
Leben ein zehnfaches? Haben wir nicht eine sehr stolze Pflicht? Macht
uns das nicht reich? Wissen wir nicht unsern Weg, Harald? - Sind wir
nicht Sieger? Harald, glaubst du an uns?«
Er muß doch die Hand sehen, die Marie Holzer ihm hinstreckt. Aber
trotzdem geht er vorbei, geht auf die Mutter zu, die ihn bange
erwartet, und sagt langsam im Gehen: »Ich - bin -
müde...«
Und die Holzer sieht, wie er sich in den Lehnstuhl fallen
läßt und wie die zarte Frau, die sich zu ihm niederbeugt,
ihn ganz verdeckt. Und sie sagt nichts weiter; man hätte es auch
nicht gehört, denn Harald hustet sehr laut. -
* * *
Wie traurig muß es für die sein,
die im
Winter gesund waren, - wenn den Frühling kommt. Wie können
sie ihn verstehen, wenn sie nicht zugleich Genesende sind? - denkt
Harald, und er sieht immerfort den Himmeln zu, die, abwechselnd wolkig
und klar, an den Fenstern vorüberjagen, hoch üben dem
Nachmittag des Vorfrühlings. Er schaut nicht mit den strahlenden
Augen allein, er schaut mit seinem ganzen Gesichte, in welchem nichts
Verheimlichtes ist. Nur unter dem Bart, den wild die Lippen
überwuchert, steht ein kleines Lächeln und blüht,
wartend, daß ein Wort es mit zu den Menschen nimmt. Aber Harald
schweigt.
Sogar als Frau Malcorn eintritt, leise, wie man zu Kranken kommt, und
fragt: »Schon allein? Marie ist schon fort?« nickt er nun,
sagt aber dann unbestimmt: »Sieh mal.« Mit dem geübten
Verständnis den Pflegerin wendet sich Frau Malcorn den Fenstern
zu, bemerkt aber nichts. Und so erklärt Harald: »Die Wolken
... Es ist ein wundersames Bild. Und ich habe es so lange nicht
gesehen. Als Knabe manchmal und dann lange nicht mehr ... « Und
dann nach einer Weile beantwortet er auch die Frage den Mutter.
»Marie müßte eigentlich nicht mehr kommen. Ich habe
sie fortgeschickt. Ich wollte schlafen, hab ich ihr gesagt. Aber ich
war bloß müde, - müde sie zu sehen. Müde - immer
wieder diese alten Dinge zu hören. Ich meine, von denen da unten.
Da war ich nun ein halbes Jahr nicht bei ihnen. Ein halbes Jahr! Und
während dieser ganzen Zeit ist nichts geschehen, scheint es.
Wenigstens was Marie erzählt ...«
»Siehst du, sie können nichts anfangen ohne dich ...«
»Du Gute. Sie können auch mit mir nichts anfangen.
Und vor allem: ich kann nichts mit ihnen anfangen,
wirklich.« Und er wendet sich wieder den Fenstern zu, als
wäre jetzt nichts so wichtig wie dieser helle, bewegte Himmel.
»Das hab ich frühen alles nicht gesehen. Und es ist doch so
viel! Ich weiß nicht, Mama, macht das das Kranksein, daß
man so aufmerksam wird auf alles und so dankbar, - fast weise ... So
unwillkürlich weise, wie man als Kind ist? Man kann garnicht aus
der Rolle fallen.« Pause, dann leise: »Glaubst du,
daß es zu spät ist?«
Frau Malcorn richtet die Kissen, die über die Lehne des Sessels
gelegt sind.
»Zu spät, Harald, wozu?«
»Zu beginnen. Noch einmal gleich hinter der Kindheit zu beginnen.
Als ob diese drei Jahre da unten nichts gewesen wären. Oder, als
ob sie eine lange Krankheit gewesen wären, aus welchen ich jetzt
langsam zurückkomme...«
Er fühlt einen Kuß auf seiner Stirne und fragt: »Nicht
zu spät?«
Frau Malcorn schüttelt den Kopf; dann kniet sie neben Harald
nieder, und er legt ihr seine feinen, ausgeruhten Hände leicht
aufs Haar und spricht: »Schwer wird es mir nicht fallen, glaub
ich. Ich bin viel nähen bei allem, was in der Kinderzeit liegt,
als bei dem nachher. Alles weiß ich. Wenn du mich doch
prüfen wolltest. Bis ganz zurück. Bis damals, da du ein Kleid
trugst, ganz aus Spitzen, wie aus lauter solchen Wolken gemacht, - aus
Frühlingswolken. Und - als du oft weintest... O ich weiß
noch. Und als du kleine, leise Lieder spieltest in der Dämmerung,
- kannst du sie noch?« Frau Malcorn senkt die Stirne tief; so
daß Haralds Hände weitergleiten in ihrem Haar, von Stellen,
die unten ihnen warm geworden sind, zu anderen, kühlen. Und wieder
hört sie Haralds Stimme üben sich. .... . Freilich, das ist
lang. Und doch, ich fühle genau, wie es war. Als ob ein
Glänzen glitte durch die Dunkelstunde, ein Aufleuchten, ein
letztes Lächeln der Dinge vor dem Einschlafen: so war dein Lied.
Und einmal, als ich ganz leise zu dir trat (du hörtest mich
garnicht kommen), da nanntest du mich ... du nanntest mich damals ...
Jerôme...... Seltsam: Jerôme... trotzdem ich Harald bin ...
und ... den Vater ... hieß auch Harald .... aber du sagtest
damals Jerôme zu mir trotzdem ... Und das paßte so gut zu
dem, was du spieltest.... das war wie das Lied selbst ... Siehst du
wohl, was ich alles noch weiß?« Pause. Und dann steht Frau
Malcorn auf und zwingt sich zu sagen: »Willst du mir etwas
zuliebe tun, Harald?«
»Alles.«
»Laß uns nicht nach Skal gehen, - laß uns hier
bleiben!«
Harald staunt über den flehentlichen Ton dieser Worte.
»Aber das sollte doch ohnehin nur auf deinen Wunsch
geschehen?«
»Ja - siehst du - es ist ein großer alter Park beim
Schloß und überhaupt ... deshalb hab ich an den Onkel
geschrieben, ob er uns nicht einladen möchte. Ich hoffte: dort
würdest du dich naschen erholen, - aber -« Rasch fällt
Harald ein: »Ich hätte dich wahrscheinlich um das gleiche
gebeten, Mama. Heut oder morgen. Im Anfang schien es mir ja eine
große Freude und Freiheit ... Aber mir sind unsere Stuben hier
doch lieber. Jetzt, weißt du, während der Krankheit, sind
sie mir so lieb geworden. Und ich kenne sie eigentlich noch wenig. Ich
war ja so selten zu Haus - früher, - damals ... Natürlich:
bleiben wir.«
Hilflos und gequält fängt Frau Malcorn wieder an: »Und
du fragst garnicht, weshalb ich diesen Plan..?«
»Du wirst deine Gründe haben, Mütterchen ... Und ich
glaube beinahe, ich errate sie; ich kenne dich ja! Es widerstrebt dir,
vom Onkel eine Gnade anzunehmen, - du Stolze...«
Aber gerade damit zwingt er Frau Malcorn zum Reden. Und blindlings,
ganz außen sich von Scham, wirft sie sich in die Worte:
»Nein, Harald ... ich kann nicht lügen ... von dir... ich
muß es dir sagen ... es ist nicht ... nicht ... aus Stolz, ..
aus... Furcht...«
»Furcht?«
»Ja. Vor der weißen Frau ...«
Harald versteht noch gar nicht: »Furcht? Von Frau Walpurga?
- Aber meine mutige kleine Mama und - Furcht?«
Frau Malcorn versucht zu lächeln. Doch am liebsten möchte sie
dem Blicke ihres Sohnes entgehen. Sein Auge schaut so groß, und
sie bleibt immer in seinem Kreis, seinem sanften Glanze erreichbar, wie
sie auch unten den Dingen herumirrt. Endlich kauert sie sich vor den
Ofen, als ob es dringend notwendig wäre, das Feuer zu erhalten.
Und so, von diesen Zuflucht aus, knieend, das gesenkte Gesicht im
heißen Schein der angefachten Glut, beginnt sie ein
flüsterndes Gespräch. »Erinnerst du dich den Sage von
Frau Walpurga?«
»Ungefähr. Sie ist in verschiedenen Schlössern gesehen
worden?«
»Ja, am häufigsten in Skal.«
»So? Immer drei Tage bevor jemand stirbt, nicht wahr?«
»Ja. Es heißt so.«
»Und nach der Chronik ist es ja auch fünf- oder sechsmal in
Erfüllung gegangen. Wenn man aber bedenkt, daß Frau Walpurga
um die Mitte des 16.Jahrhunderts blühte und sich seither nun
fünf- oder sechsmal bemüht hat zu erscheinen, muß man
annehmen, daß die meisten Malcorns ohne ihnen Vorantritt
gestorben sind - es sei denn, sie lebten noch? ... «
»Und sonst weißt du nichts von ihn?«
»Einmal hab ich das alles gewußt, als Knabe, - als Kind ...
aber dann müßte ich's ja gerade jetzt, da ich die Kindheit
wie gestern empfinde, wieder wissen ... Wart mal: Sie war die Gemahlin
des ... des ... Grafen (oder waren sie damals noch Freiherren?...),
nein, ich glaube ... wir wollen später doch nachschlagen, ob es
richtig ist ... und, im Falle ich recht habe, bitt ich mir eine
Belohnung aus -ja?« Harald sucht in seinem Gedächtnis, und
so fällt es ihm nicht auf; daß Frau Malcorn nicht scherzhaft
erwidert auf die letzte Frage. Er richtet sich ein wenig im Stuhle auf
und zitiert richtig und sicher die betreffende Stelle: »
>Sigismund Fendinand, ersten österreichischen Graf von Malcorn,
Herr auf Tschakathurn und Hallpach usw. Söhne: Ferdinand III.,
Apel, genannt der Lahme, Christoph. Christoph, nachmals Herr auf
Sannkinchen und Skal, vermählt mit Walpurga, Freiin von
Indi....... < da haben wir's! Siehst du, du wirst sehen, es stimmt.
Willst du weiten hören? Ich glaube, jetzt weiß ich Enkel und
Enkelsöhne bis ins ,8. Jahrhundert herein...«
»Nein, nein«, wehrt Frau Malcorn heiser.
»Na, ich denke auch, das genügt. Ich begreife überhaupt
nicht, warum wir uns so gründlich mit Frau Walpurga
beschäftigen. Wenn sie schon mal keine Ruhe hat ...«
»Weißt du, weshalb?«
»Weshalb sie keine Ruhe hat? Offenbar wie alle >weißen
Frauen< den Welt: treulos, sündig, vom erzürnten Gemahl
erstochen...«
»Treulos, sündig.. .«, wiederholt Frau Malcorn mit so
unsicherer Stimme, daß Harald sich erstaunt umblickt. Sie ist
jetzt wieder ganz nahe, hinter seinem Stuhl, so nahe, daß die
Flügel ihrer Worte ihn streifen, als sie fragt: »Erinnerst
du dich an deinen Vater, Harald?«
»Kaum. Er hatte einen dichten weißen Bart. Er war
alt.«
Frau Malcorn möchte ihre Hand in Haralds Haar legen, aber sie hebt
sie nun bis auf seine Schulter; denn ihre feine Hand ist schwer. Und in
diesem Augenblick sagt Harald: »Seltsam wilde Hände hatte
er...«
»Harald!« Es ist wie ein Schrei, aber Harald kann ihn
Gesicht nicht sehen.
»Könntest du dir denken, Harald...?« hört er
hinten sich, und weiter, in bangen, merkwürdig leeren Pausen
--»daß... dein ... Vater --> --... mich..« Da
wendet Harald doch den Kopf. Frau Malcorn schaut --> --über ihn
fort in die beginnende Dämmerung und schneit fast: -->
--».. . daß er getan hätte wie Graf
Christoph?...«
Erst begreift Harald nicht. Dann langt er rasch nach ihrer Hand die
eiskalt ist, und zieht sie sanft zu sich. Und da kniet sie auf einmal
neben ihm und drückt ihr Weinen in seinen Schooß und
hört über sich Haralds Stimme gehen, leise, ernst, beinahe
feierlich: »Er war ein Greis. Ich hab ihn nicht geliebt.«
Und da küßt sie seine erschrockenen, sich sanft wehrenden
Hände. Harald aber ist schon bemüht, sie emporzuheben, und
lächelt: »Siehst du, dazu bin ich noch zu schwach. Das geht
noch nicht. Heben kann ich dich noch nicht.«
Dann, als sie leicht aufgestanden ist, lehnt er sich weit zurück,
wie zu glücklichem Schlaf. Sein Gesicht ist unbewegt. Nur unten
dem Kinn, auf dem gespannten, abgemagerten Halse fließt eine
kleine Ader in springenden Wellen dem stillen Herzen zu.
Nach einen Weile holt er tief Atem, und Frau Malcorn fragt: »Ist
dir gut?«
Harald öffnet die Augen nicht:
»Ja. Heute wird es am Ende gar nicht kommen - das Abendfieber
...«
»Aber ruh nur jetzt ...«
»Nicht - fortgehen -«
»Nein, ich bin immer da.«
Und in dem Schweigen, das dann folgt, vollzieht sich die
Dämmerung. Die Dinge treten lautlos aus dem Glanz zurück, wie
aus einer Kirche, deren Tore geschlossen wenden. Sie kauern sich
längs der Wände, wärmen sich eines am andern, und es
geht ein Schläfern von ihnen aus, welches die Uhr am Pfeiler
mühsam überwindet. Im letzten Augenblick, da die Stunde schon
unerkannt vorüber will, ruft sie sie an, hastig und hell.
Das macht Harald wach. .... Bist du da?« »Ja, Liebling.
Brauchst du etwas?«
»Ich will nicht schlafen.«
»Doch; Harald, schlaf! Das giebt Kraft.«
»Mir ist zu gut zum Schlafen. Mir ist so gut. Wenn ich schlafe,
vergesse ich es. Und ich möchte gern wissen, daß mir gut
ist. - Wir wollen reden.« Jetzt erst rührt sich Harald. Die
Augen bleiben im Schlaf; aber die Linke streckt er so nach den Seite
hin und bittet: »Hand!« Und dann, als sein Wunsch
erfüllt ist: »Das ist deine Hand ... Wenn ich erblinden
müßte, ich würde dich doch erkennen an diesen Hand ...
Ich muß also keine Angst haben, nicht einmal vordem
Blindwerden... nicht einmal --- wenn ... doch ... dann muß ich
sie ja --> --loslassen ... «
Frau Malcorn erschrickt, auch deshalb, weil sie sein >dann<
gleich versteht. Unwillkürlich zieht sie ihre Hand zurück.
»O« - macht Harald, als ob er etwas Gläsernes fallen
gelassen hätte, und auf seinem Gesichte ist eine ängstliche
Spannung, es aufklirren zu hören an dem harten Boden.
Aber schnell beschwichtigt Frau Malcorn seine Angst. »Ich bin ja
da, Harald.« »Ja.« Und er läßt die Augen
schlafen und spricht leise, wie um sie nicht aufzuwecken. »Es ist
doch gut, daß ich krank geworden bin. Denk nur! Wenn ich nicht
krank geworden wäre, das wäre so fort gegangen, da unten,
immer und immer, bis ... Aber jetzt ... jetzt darf ich mein Leben
wieder aufbauen ganz von Anfang ... Kindheit? Hm. Mit den war ich
zufrieden. War da jemand, der mir sie so schön gemacht hat, so
märchenhaft schön! Du wirst ... erraten ... wen... Nicht
gerade froh war sie, was man so froh nennt: voll von Gespielen und
Festen. Ich war immer allein, oder doch allein mit dir. - Aber sie war
so... tief. Ich kann ihren Anfang nicht erschauen. Es könnten
Jahrtausende gewesen sein -Jahrtau... Und doch, dann ist es wieder wie
ein einziger Tag, der noch immer nicht zu Ende ist und von dem ich
träume, daß er nicht enden soll. Kannst du dir das
denken?«
Er erwartet keine andere Antwort, als die Stille. Und nachdem er diesen
eine Pause lang zugehört hat, fährt er fort: »Es
muß schwer sein, sich das zu denken. Ich hätte es selbst
kaum gekonnt vorher; aber jetzt scheint es mir ganz natürlich. Die
Kindheit ist ein Land, ganz unabhängig von allem. Das einzige
Land, in dem es Könige giebt. Warum in die Verbannung gehen? Warum
nicht älter und reifen werden in diesem Lande? ... Wozu sich
gewöhnen an das, was andere glauben? Hat das etwa mehr Wahrheit,
als was man glaubt im ersten starken Kindervertrauen? Ich kann mich
noch erinnern . . . da hatte jedes Ding einen besonderen Sinn, und es
gab unzählbar viele Dinge. Und keines war mehr im Werte als ein
anderes. Gerechtigkeit war üben ihnen. Jedes durfte einmal das
Einzige scheinen, durfte Schicksal sein: ein Vogel, der in der Nacht
geflogen kam, und nun, schwarz und ernst, auf meinem Lieblingsbaum
saß; ein Sommerregen, den den Garten verwandelte, so daß
alles Grün Dunkelheit und Glanz bekam; ein Buch, in dessen
Blättern eine Blume lag. Gott weiß von wem, - ein
Kieselstein von fremder deutsamen Gestalt, - das alles war so, als ob
man viel mehr davon wüßte, als die Großen. Es schien,
als könnte man glücklich wenden und groß durch jedes
Ding, aber auch, als könnte man an jedem Dinge sterben ... «
Dann rasch mit anderen Stimme die Frage: »Es ist nicht zu
spät, hast du nicht so gesagt?«
»Es ist nie zu spät, Harald.«
»Nie? Es kann doch einmal sein, wenn ich zum Beispiel ... Sagt
denn der Doktor auch wirklich die Wahrheit?«
»Du hörst es ja. Er spricht doch immer ganz laut und
froh...«
Jetzt braucht Harald die Augen zur Zeugenschaft. Er sieht die Mutter
fest an. »Und... er sagt dir nicht von den Tür etwas
anderes?«
Frau Malcorn war auf diese Frage vorbereitet. Ruhig hält sie
Haralds Blick aus, mit einem leisen, verschwiegenen Vorwurf im Gesicht.
»Verzeih, Mama. Aber es könnte ja sein. Ich habe das oft
gesehen frühen in Häusern, wo Kranke waren. Ich hatte ja
bisweilen Gelegenheit ... Aber was wollen wir denn nun Marien
sagen?«
Ganz unvermittelt sagt er das. »Was meinst du?« staunt Frau
Malcorn.
»Nun, damit sie nicht mehr wiederkommt.«
inst du das im Ernst?«
»Ja. Sie wird keinen Raum haben in der Zukunft, die ich mir
denke. Das Leben ist eng, und ich muß so vieles darin
unterbringen. - Marie gehört in das andere, in das Eintagsleben,
das ich vergessen habe. Ich will nicht daran erinnert sein. Sie aber
mahnt mich an das Vergangene, selbst wenn sie nicht davon spricht,
durch ihn bloßes Dasein. Sie muß fort!« Das klingt
entschlossen und rücksichtslos, und Frau Malcorn kann es gar nicht
gleich fassen. Eine Menge Fragen steigen in ihn auf; für die sie
keinen Ausdruck findet, und Harald ist auch schon wieder mit seinen
Worten voraus und froh, wie erleichtert durch diese Erledigung.
»Ich werde malen ... oder vielleicht ein Buch schreiben:
Kindheit und Kunst. Mir ist so manches eingefallen in diesen letzten
Wochen; ich wende es dir diktieren. Du mußt nicht Angst haben,
daß ich dich überanstrenge. Jeden Tag nur ein paar Zeilen,
aber vollendet, schön ... . Einmal ersinn ich vielleicht ein Lied,
- dann mußt du es spielen. Und wenn es mir mal einfällt, ein
Haus zu bauen, dann mußt du darin wohnen natürlich ... das
heißt: wir, - denn wir werden nie voneinander gehen ... Nicht
wahr?... Sag! ...«
Frau Malcorn lächelt zerstreut: »Du wirst heiraten ...«
»Heiraten?«
»Nun doch - einmal...«
»Glaubst du, daß ich Marien geheiratet hätte?«
Frau Malcorn nickt zustimmend. »Ich habe nie daran
gedacht.« Ganz verwirrt lenkt Frau Malcorn ab: »Und was
wolltest du malen? Das hast du nicht gesagt.« »Malen?
Wolken.« »Du Träumer!«
»Frühlingswolken! Ein Wolkenkleid! Dein Kleid! ...
Dich!«
»Ich habe keine Wolkenkleider mehr.«
»Dann mußt du dir eines machen lassen...« Ganz
wehmütig lächelt die zarte Frau. »Nur ein altmodisches
weißes Atlaskleid hab ich noch, vom letzten Ball her.«
»Ja, - weiß -« plant Harald. »Ich
müßte dich in Weiß malen und - mit Blumen. Mit irgend
welchen heißen, roten Blumen. Mit Blumen, die es nirgends giebt.
Mit solchen, roten ... (wo hab ich sie doch gesehen?...) In deinem
Läufen. Mit solchen Blumen. Hast du sie selbst erfunden? ...
«
»Durch Zufall -« flüstert sie und wird ganz rot.
»Seltsam -o! Blumen erfindest du!« Und Harald sieht sie
forschend an, als ob ihn Gesicht in seiner scheuen, schamhaften
Befangenheit ihn an etwas erinnern müßte. Dann unterbricht
er sich kurz. »Es ist vielleicht kindisch, daß ich so
spreche. Ich habe doch eigentlich nie versucht, zu malen. Aber soll ich
es deshalb nie versuchen? Vielleicht bin ich wieder . . . ein Beginn
... Mir ist, als hätten wir mal davon gesprochen, daß die
Malcorns immer wieder Könige wenden ... Und die kein Volk haben, -
das sind vielleicht die wahren Könige...«
»Auch in der Kunst kannst du dich üben ein Volk setzen ...
« »Vielleicht. Vielleicht kann den Künstler sich aus
allen Völkern sein Volk bilden, kann es sich erziehen ... Aber ich
will es nicht. Ich wende es nie wollen. Ich will nicht erziehen. Ich
will nicht den Erfolg, keinen Erfolg auf keiner Seite. Ich will
einfach: Schönheit...«
»Ja -« sagt Frau Malcorn, wie zu sich selbst.
»Du fühlst das?« Und beinahe überrascht sieht
Harald sie an.
»Ja ... « wiederholt sie leiser und wagt kaum die Augen zu
heben.
Und nach einen kleinen Stille hört sie ihn sagen: »Wie
schön du bist!« Und schauernd fühlt sie sich von ihm
angeschaut. Und wieder: »Wie schön du jetzt bist.«
Mit ganz leisen, verhaltenen Bewegungen steht sie auf und wartet, bis
er ruft: »Du warst nie so schön!«
Aber diesmal erkennt sie seine Stimme nicht. Und unsicher geht sie von
ihm fort und stellt sich ins Dunkel, wie unten den Schutz den Uhr,
denen Atem ganz nahe geht. -»Wie du gehst! Junge Mädchen
gehen so.«
Und sie steht zwischen den beiden Fenstern und horcht. Und er fragt
sie: »Wie heißt du eigentlich?«
Sie rührt sich nicht, denkt aber: das Fieber, und fühlt eine
große Erleichterung, aber zugleich ist ihn traurig, als ob ihn
etwas wieder genommen würde, etwas kaum Geschenktes. Und er sagt:
»Ja, ich habe dich nie beim Namen genannt. Ich hab ihn
vergessen.«
Eine Weile hört sie ihn Herz und wieder ihn. »Ich weiß
jetzt:
Edith heißt du -« Und wenn es doch das Fieber ist, denkt
sie und horcht.
»Aber wie haben dich die genannt, die ... die ... die du lieb
gehabt hast?«
Sie weiß kaum, daß sie antwortet und mit einer anderen,
jungen Stimme: »Edel.«
Und er nimmt den Namen und liebkost ihn: »Edel - ja, so
mußt du heißen. Edel: das ist weiß, ganz weiß
... Aber du hast ja immer noch das alte Kleid, das Kleid von gestern
und vorgestern, das schwarze Kleid, das kranke Kleid ... Du bist ja
nicht weiß. Du hast deinen Namen verraten. Du darfst ihn nicht
mehr verleugnen jetzt; geh, hol dir dein weißes Kleid!« Sie
klammert sich an den schwarzen Kasten der Uhr.
»Geh!«
»Morgen!...«
Er hört nicht. »Worauf sollen wir warten? Schönheit
will über uns kommen.«
Und seine Worte drängen sie zur Tür, aber sie zögert
noch. »Eil dich! Mach dich schön und komm bald. Indessen
wird hier alles festlich sein. Alle Kerzen, alle Lampen werden brennen,
wenn du wiederkommst, weiße Edel!«
Und da macht er eine Bewegung, als ob er sich erheben wollte. Und sie
will hin zu ihm, will es verhindern, will mütterlich ein. Aber er
steht schon da, stank, groß, die Arme wie Flügel, und lacht
ihn zu.
Und jetzt gehorcht sie und geht.
Und selig sieht er ihr nach. Und lächelt.
Aber das Lächeln hat nicht Halt auf seinen schmalen Lippen. Wie
die Uhr sich regt, fällt es ihm ab, und erschrocken deckt er sein
leeres Gesicht mit den Händen zu. Und fühlt sie kalt. Und er
ist allein, und das Dunkel ist groß und drückt ihn in den
Stuhl zurück, in dem er stumm versinkt.
So bleibt er, vielleicht lange.
Denn als er zu sich kommt, ist Nacht.
Seine Augen sind der schwarzen, schweren Dinge entwöhnt und gehen
bang in der Stille umher. Plötzlich wenden sie groß. Eine
Tür bewegt sich, und es kommt heraus, als ob Mondlicht ginge. Und
von dem Fenster sieht man: es ist eine Frau, ganz weiß ...
Da wehrt sich Harald mit den hageren Armen und schneit,
häßlich vor Angst, heiser: »Noch... nicht! Walpurga!
«
Jemand hat Licht gemacht.
Harald sitzt entstellt in den Kissen, den Kopf noch vorgestreckt, mit
herabhängenden Händen. Und vor ihm steht Frau Malcorn, welk,
in Atlas, mit Handschuhen. Und sie sehen sich mit fremdem Entsetzen in
die toten Augen.
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