Es war ein schönes und fruchtbares Land
mit Wäldern, Feldern, Flüssen, Straßen und
Städten. Ein König war darüber gesetzt von Gott, ein
Greis, älter und stolzer als alle Könige, von denen man je
Glaubwürdiges gehört hat. Dieses Königs einziges Kind
war ein Mädchen von großer Jugend, Sehnsucht und
Schöhnheit. Der König war verwandt mit allen Thronen der
Nachbarschaft, seine Tochter aber war noch ein Kind und allein, wie
ohne alle Verwandtschaft. Gewiß war ihre Sanftmut und Milde und
die Macht ihres unerwachten stillen Angesichtes die unschuldige Ursache
jenes Drachens, welcher, je mehr sie emporwuchs und aufblühte,
desto näher heranschlich und sich endlich im Walde vor der
schönsten Stadt des Landes, wie der Schrecken selber,
niederließ; denn es bestehen geheime Beziehungen zwischen dem
Schönen und dem Schrecklichen, an einer bestimmten Stelle
ergänzen sich beide wie das lachende Leben und der nahe
tägliche Tod.
Damit ist nicht gesagt, daß der Drache
der jungen Dame feindlich war, wie ja auch niemand auf Ehre und
Gewissen sagen kann, ob der Tod des Lebens Widersacher ist. Vielleicht
hätte das große kochende Tier sich wie ein Hund neben dem
schönen Mädchen niedergelegt und es wäre vielleicht nur
durch die Abscheulichkeit der eigenen Zunge abgehalten worden, die
lieblichsten Hände in tierischer Demut zu liebkosen. Aber man
ließ es natürlich auf eine Probe nicht ankommen, zumal der
Drache gegen alle, die zufällig in den Kreis seiner Kraft traten,
erbarmungslos war und, einem sichtbaren Tode vergleichbar, alles,
Kinder und Herden nicht ausgenommen, ergriff und behielt.
Der König wird es zuerst mit hoher
Befriedigung vermerkt haben, daß diese Not und Gefahr viele
Jünglinge seines Landes zu Männern machte. Diese jungen Leute
aus allen Städen, Adelige, Priesterschüler und Knechte, zogen
aus wie in ein fremdes, fernes Land, hatten das Heldentum einer
einzigen, heißen, atemlosen Stunde, in der sie Leben und Tod
hatten und Hoffnung und Angst und alles wie im Traum. Schon nach
einigen Wochen fiel es keinem mehr ein, diese kühnen Söhne zu
zählen und ihre Namen irgendwo aufzuzeichnen. Denn in solchen
bangen Tagen gewöhnt sich das Volk auch an Helden; sie sind dann
nichts Unerhörtes mehr. Das Gefühl, die Furcht, der Hunger
von Tausenden schreit nach ihnen, und sie sind da, wie eine
Notwendigkeit, wie Brot, von jenen letzten Gesetzen bedingt, die auch
in den Zeiten des Unheils nicht aufhören zu wirken.
Als aber die Zahl derer, welche sich nach
hoffnungslosem Gegenwehr opferten, immer noch wuchs, als fast in jeder
Familie des Landes der beste Sohn (und oft noch in knabenhafter Jugend)
gefallen war, da begann der König mit Recht zu fürchten,
daß alle Erstlinge seines Landes zugrunde gehen könnten und
daß zu viele junge Mädchen eine jungfräuliche
Witwenschaft auf sich nehmen müßten für die langen
Jahre eines kinderlosen Frauenlebens. Und er versagte seinen Untertanen
den Kampf. Fremden Kaufleuten aber, die in namenlosem Entsetzen aus dem
heimgesuchten Lande flohen, gab er eine Kunde mit, welche Könige,
in ähnlicher Lage, seit alten Zeiten verbreiten ließen: wem
es gelänge, das arme Land von diesem großen Tode zu
befreien, der sollte die Hand der Königstochter erhalten, mag er
von Adel sein oder eines Henkers letzter Sohn.
Und es zeigte sich, daß auch die Fremde
voller Helden war, und daß der hohe Preis seine Wirkung nicht
verfehlte. Die Fremden waren aber nicht glücklicher als die
Einheimischen: sie kamen nur um zu sterben.
In der Tochter des Königs ging in diesen
Tagen eine Veränderung vor; wenn ihr Herz bis jetzt, von der
Trauer und dem Verhängnis des Landes bedrückt, den Untergang
des Untiers erflehte, so verbündete sich nun, da sie einem starken
Unbekannten zugesprochen war, ihr naives Gefühl dem
Bedränger, dem Drachen, und es kam so weit, daß sie in der
Aufrichtigkeit des Traumes Gebete zu seinen Gunsten erfand und von
heiligen Frauen verlangte, daß sie das Ungeheuer in ihren Schutz
nehmen sollten.
Eines Morgens, als sie aus solchen
Träumen voll Scham erwachte, kam ein Gerücht zu ihr, das sie
erschreckte und verwirrte. Man erzählte sich von einem jungen
Menschen, der - Gott weiß woher - zum Kampfe gekommen war, und
dem es allerdings nicht gelang, den Drachen zu töten, wohl aber
wund und blutend aus den Klauen des gräßlichen Feindes sich
loszureißen und in den dichtesten Wald sich zu verkriechen. Dort
fand man den Bewußtlosen, kalt in seiner kalten eisernen Schale,
und brachte ihn in ein Haus, wo er nun in tiefem Fieber lag, mit
heißem Blut hinter den brennenden Verbänden.
Als das junge Mädchen diese Nachricht
vernahm, wäre sie gerne, wie sie war, in ihrem Hemde von
weißer Seide, durch die Straßen gelaufen, um an dem Lager
des Todkranken zu sein. Aber als die Kammermädchen sie angekleidet
hatten, und sie ihr wunderschönes Kleid und ihr trauriges Gesicht
in den vielen Spiegeln des Schlosses gehen und kommen sah, da
verließ sie der Mut, so Ungewöhnliches zu wagen. Sie brachte
es nicht einmal über sich, irgendeine verschwiegene Dienerin in
das Haus zu senden, darin der fremde Kranke lag, um ihm eine Linderung
zu schaffen, feine Leinwand oder eine sanfte Salbe.
Aber es war eine Unruhe in ihr, die sie
beinahe krank machte. Bei Einbruch der Nacht saß sie lange am
Fenster und suchte das Haus zu erraten, in dem der fremde Mann starb.
Denn, daß er starb, schien ihr selbstverständlich. Nur Eine
hätte ihn vielleicht retten können, aber diese Eine war viel
zu feige, ihn zu suchen. Dieser Gedanke, daß das Leben des wunden
Helden in ihre Hand gegeben sei, verließ sie nicht mehr. Dieser
Gedanke stieß sie endlich nach dem dritten Tage, den sie so in
Qualen und Selbstvorwürfen verbracht hatte, in die Nacht hinaus,
in eine schwarze, bange, regnende Frühlingsnacht, in der sie
herumirrte, wie in einem dunklen Zimmer. Sie wußte nicht, woran
sie das Haus erkennen würde, das sie suchte. Aber sie erkannte es
ohneweiters an einem Fenster, das weit offen stand, an einem Licht, das
drinnen im Zimmer brannte, einem langen seltsamen Licht, bei dem
niemand lesen oder schlafen konnte. Und langsam ging sie an dein Hause
vorbei hilflos, arm, versunken in die erste Traurigkeit ihres Lebens.
Sie ging weiter und weiter. Der Regen hatte aufgehört; über
losen Wolkenstreifen standen einzelne große Sterne, und irgendwo
in einem Garten sang eine Nachtigall den Anfang ihrer Strophe, die sie
noch nicht vollenden konnte. Sie hob immmer wieder fragend an, und ihre
Stimme war groß und gewaltig aus der Stille gewachsen, wie die
Stimme eines Riesenvogels, dessen Nest auf den Wipfeln von neun Eichen
ruht.
Als die Prinzessin endlich die Blicke, in
denen Tränen standen, von ihrem langen Wege erhob, sah sie einen
Wald und einen Streifen Morgen dahinter. Und vor diesem Streifen hob
sich etwas Schwarzes ab, das sich zu nähern schien. Es war ein
Reiter. Unwillkürlich drückte sie sich in das dunkle, nasse
Gebüsch. Er ritt langsam an ihr vorbei, und sein Pferd war schwarz
von Schweiß und bebte. Und er selbst schien zu zittern: alle
Ringe seines Panzers klangen leise aneinander. Sein Haupt war ohne
Helm, seine Hände waren bloß, sein Schwert hing schwer und
müde herab. Sie sah sein Gesicht im Profil; es war heiß, mit
verwehtem Haar.
Sie sah ihm nach, lange. Sie wußte: er
hat den Drachen getötet. Und ihre Traurigkeit fiel ihr ab. Sie war
kein verirrtes, verlorenes Ding mehr in dieser Nacht. Sie gehörte
ihm, diesem fremden, zitternden Helden, sie war sein Besitz, als ob sie
eine Schwester seines Schwertes wäre.
Und sie eilte nach Hause, um ihn zu erwarten.
Sie kam unbemerkt in ihre Gemächer, und sobald es anging, weckte
sie die Kammermädchen und ließ sich das schönste ihrer
Kleider bringen. Während man es ihr anzog, erwachte die Stadt zu
lauter Freude. Die Menschen jubelten und die Glocken überschlugen
sich fast in den Türmen. Und die Prinzessin, die diesen Lärm
hörte, wußte plötzlich, daß er nicht kommen
würde. Sie versuchte, sich ihn vorzustellen, umwogt von der lauten
Dankbarkeit der Menge: sie vermochte es nicht. Fast ängstlich
suchte sie sich das Bild des einsamen Helden, des Zitternden, zu
erhalten, wie sie ihn gesehen hatte. Als ob es wichtig wäre
für ihr Leben, das nicht zu vergessen. Und dabei war ihr so
festlich zu Mut, daß sie, obwohl sie wußte, daß
niemand kommen würde, die Kammermädchen, die sie
schmückten, nicht unterbrach. Sie ließ sich Smaragden und
Perlen ins Haar verflechten, das sich, zum größten Erstaunen
der Dienerinnen, feucht anfühlte. Die Prinzessin war fertig. Sie
lächelte den Kammermädchen zu und ging, etwas bleich, an den
Spiegeln vorbei, im Geräusche ihrer weißen Schleppe, die
weit hinter ihr herkam.
Der greise König aber saß, ernst
und würdig, im hohen Thronsaal. Die alten Paladine des Reiches
standen um ihn und glänzten. Er wartete auf den fremden Helden,
den Befreier.
Der aber ritt schon weit von der Stadt, und es
war ein Himmel voll Lerchen über ihm. Hätte ihn jemand an den
Preis seiner Tat erinnert, vielleicht wäre er lachend umgekehrt;
er hatte ihn ganz vergessen.