I..
Ewald Tragy geht neben seinem Vater am
`Graben`. Man muß wissen, daß es Sonntagmittag ist und
Korso. Die Kleider verraten die Jahreszeit: so Anfang September,
abgetragener, mühseliger Sommer. Für manche Toiletten war es
nichteinmal der erste. Zum Beispiel für die modegrüne der
Frau von Ronay und dann für die von Frau Wanka, blau Foulard; wenn
die ein wenig überarbeitet und aufgefrischt wird, denkt der junge
Tragy, hält sie gewiß noch ein Jahr aus. Dann kommt ein
junges Mädchen und lächelt. Sie trägt blaßrosa
Crepe de Chine, - aber geputzte Handschuhe. Die Herren hinter
ihr schwimmen alle durch lauter Benzin. Und Tragy verachtet sie. Er
verachtet überhaupt alle diese Leute. Aber er grüßt
sehr höflich mit etwas altmodisch betonter Artigkeit.
Nur wenn sein Vater dankt oder
grüßt - allerdings. Er hat keine Bekannten für sich.
Umso öfter muß er den Hut mitabnehmen; denn sein Vater ist
vornehm, geachtet, eine sogenannte Persönlichkeit. Er sieht sehr
aristokratisch aus, und junge Offiziere und Beamte sind fast stolz,
wenn sie ihn begrüßen dürfen. Der alte Herr sagt
dann mitten aus einer langen Schweigsamkeit heraus: "Ja" und dankt
großmütig. Dieses laute `Ja` hat den Irrtum verbreiten
helfen, daß der Herr Inspektor mit seinem Sohn mitten im
Durcheinander des Sonntagskorso tiefe und bedeutsame Gespräche
hätte und daß eine seltene Übereinstimmung zwischen den
beiden bestünde. Mit den Gesprächen aber ist es so:
"Ja" sagt Herr von Tragy und belohnt damit
gleichsam die ideale Frage, welche in einem ergebenen Gruß sich
ausprägt und etwa lautet: `Bin ich nicht artig?` "Ja", sagt der
Herr Inspektor, und das ist wie eine Absolution.
Manchmal nimmt Tragy, der Sohn, dieses `Ja`
wirklich fest und hängt rasch die Frage daran: "Wer war das,
Papa?" Und dann steht das arme `Ja` mit der Frage dahinter, wie eine
Lokomotive mit vier Waggons auf falschem Geleise, und kann nicht vor
und nicht zurück.
Herr von Tragy, der Ältere, sieht sich um nach dem letzten
Gruß, hat gar keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte,
denkt aber doch drei Schritte lang nach und sagt dann zum Erbarmen
hilflos: "Jaaa?"
Gelegentlich fügt er hinzu: "Dein Hut ist wirklich ganz staubig".
"So", meint der junge Mensch, gottergeben.
Und sie sind beide einen Augenblick traurig.
Nach zehn Schritten ist die Vorstellung des staubigen Hutes in den
Gedanken von Vater und Sohn abnorm gewachsen.
`Alle Leute schauen her, es ist ein Skandal`, denkt der Ältere,
und der junge Mensch strengt sich an, sich zu erinnern, wie denn der
unglückselige Hut etwa aussieht und wo der Staub sitzen mag. An
der Krempe fällt ihm ein, und er denkt: `Man kann ja nie dazu. Es
müßte eine Bürste erfunden werden.`
Da sieht er seinen Hut körperhaft vor sich. Er ist entsetzt: Herr
von Tragy hat ihm den Hut einfach vom Kopf gehoben und knipst
aufmerksam mit den rotbehandschuhten Fingern drüber hin. Ewald
sieht eine Weile barhaupt zu. Dann reißt er mit einem
empörten Griff das schmachvolle Ding aus den behutsamen
Händen des alten Herrn und stülpt den Filz wild und
ungestüm über. Als ob seine Haare in Flammen stünden:
"Aber Papa" - und er will noch sagen:
`Ich bin achtzehn Jahre alt geworden, - dazu also. Daß du mir
hier den Hut vom Kopf nimmst, - am Sonntag, Mittag unter allen Leuten.`
Aber er bringt nicht ein Wort heraus und würgt etwas.
Gedemütigt ist er, klein, wie in ausgewachsenen Kleidern.
Und der Herr Inspektor geht aufeinmal fern drüben am anderen Rande
des Bürgersteigs, steif und feierlich. Er kennt keinen Sohn. Und
der ganze Sonntag flutet zwischen ihnen. Allein es ist nicht einer in
der Menge, der nicht wüßte, daß die beiden
zusammengehören, und jeder bedauert den rücksichtslosen und
brutalen Zufall, der sie so weit voneinanderschob. Man weicht einander
voll Teilnahme und Verständnis aus und ist erst befriedigt, als
man den Vater und den Sohn wieder nebeneinander sieht. Man konstatiert
gelegentlich eine gewisse zunehmende Ähnlichkeit im Gang und in
den Gesten der beiden und freut sich darüber. Früher war der
junge Mensch nämlich außerhalb des Hauses, man sagt, in der
Militärerziehung. Von dort kam er eines Tages - wer weiß
weshalb - sehr entfremdet zurück. Jetzt aber: "Bitte, sehen Sie",
sagt ein gutmütiger alter Herr, der von dem Inspektor eben ein
`Ja` geschenkt bekommen hat, "er trägt schon den Kopf ein wenig
nach links - wie der Vater -", und der alte Herr strahlt vor
Vergnügen über diese Entdeckung.
Auch ältere Damen nehmen Interesse an dem jungen Herrn. Sie legen
ihn im Vorübergehn eine Weile auf ihre breiten Blicke, wägen
ihn ab; sie urteilen: Sein Vater war ein schöner Mann. Er ist es
noch. Das wird Ewald nicht. Nein. Weiß Gott wem er ähnlich
sieht. Vielleicht seiner Mutter - (wo die übrigens stecken mag).
Aber er hat Gestalt, wenn er ein guter Tänzer wird... und die
ältere Dame sagt zu der Tochter in Rosa: "Hast du Herrn
Tragy auch freundlich gedankt, Elly?"
Aber eigentlich ist das alles überflüssig, - die Freude des
alten Herrn und die kluge Fürsorge von Ellys Mutter. Denn als die
Männer von dem Korso in die leere enge Herrengasse einbiegen,
atmet der junge auf:
"Der letzte Sonntag."
Er hat ziemlich laut Atem geholt. Trotzdem hat der alte Herr nicht vor,
etwas zu antworten. `Diese Schweigsamkeit`, denkt Ewald. Wie eine Zelle
für Tobsüchtige ist sie, taub und so unerbittlich gepolstert
auf allen Seiten.
So gehen sie bis zum Deutschen Theater.
Dort fragt Tragy, der Vater, unvermittelt: "Was?"
Und Tragy, der Sohn, wiederholt ungeduldig: "Der letzte Sonntag."
"Ja", entgegnet der Inspektor kurz, "wem nicht zu raten ist..." Pause.
Dann fügt er an: "Geh dir nur die Flügel verbrennen, du wirst
schon sehn, was das heißt, sich auf die eigenen Füße
stellen. Gut, mach deine Erfahrungen. Ich hab nichts dagegen."
"Aber Papa", sagt der junge Mensch etwas heftig, "ich glaube, wir haben
doch das alles schon oft genug besprochen."
"Aber ich weiß immer noch nicht, was du eigentlich willst. Man
geht doch nicht so fort, ins Blaue hinein. Sag mir nur mal, was wirst
du denn in München tun?"
"Arbeiten-", hat Ewald rasch bereit.
"Sooo - als ob du hier nicht arbeiten könntest!"
"Hier", und der junge Herr lächelt überlegen.
Herr von Tragy bleibt ganz ruhig: "Was fehlt dir denn hier? Du hast
dein Zimmer, dein Essen, alle wollen dir wohl. Und schließlich
man ist bekannt hier, und wenn du die Leute richtig behandelst, stehen
dir die ersten Häuser offen -"
"Immer die Leute, die Leute", fährt der Sohn in demselben
spöttischen Ton fort, "als ob das Alles wäre. Ich kümmer
mich den Teufel um die Leute -" (bei dieser stolzen Phrase fällt
ihm die Geschichte mit dem Hut ein, und er fühlt, daß er
lügt), deshalb betont er nochmals: "sollen mich gern haben - die
Leute. Was sind sie denn, bitte? Menschen - vielleicht ?"
Jetzt ist es an dem alten Herrn, zu lächeln, so ganz
eigentümlich lächelt es irgendwo in seinem feinen Gesicht,
man kann nicht sagen, ob es um seine Lippen unter dem weißen
Schnurrbart oder bei den Augen war.
Es ist auch gleich wieder vorbei. Aber der Achtzehnjährige kann es
nicht vergessen; er schämt sich und stellt lauter große
Worte vor seine Scham. "Überhaupt", sagt er endlich und macht
einen ungeduldigen Schnörkel mit der Hand durch die Luft, "du
scheinst nur zwei Dinge zu kennen, die Leute und das Geld. Um die dreht
sich Alles bei dir. Man liegt vor den Leuten auf dem Bauch, das ist der
Weg. Und man kriecht auf dem Bauch zum Geld, das ist das Ziel. Nicht?"
"Du wirst beides noch brauchen, mein Kind", sagt der alte Herr
geduldig, "und man muß nicht zum Geld kriechen, wenn mans nur
immer hat."
"Und wenn mans auch nicht hat, dann -", der junge Tragy zögert ein
wenig.
"Dann?" fragt der Vater und wartet.
"Ooh", macht der andere sorglos und winkt ab. Es scheint ihm gut, einen
neuen Satz zu beginnen. Aber der alte Herr beharrt: "dann" - beendet er
rücksichtslos - "wird man ein Lump und macht dem guten, ehrlichen
Namen Schande."
"O ihr habt Begriffe -" der junge Herr tut ganz entrüstet.
"Wir sind eben nicht von heute", sagt der alte Herr, "basta."
"Das ist es ja gerade -", triumphiert Tragy, der Sohn, "von irgendwann,
von anno olim seid ihr, verstaubt, vertrocknet, überhaupt -"
"Schrei nicht", kommandiert der Inspektor, und man merkt ihm den alten
Offizier an.
"Ich hab doch wohl das Recht..."
"Ruhig!"
"Ich darf reden -"
"Red du -" wirft Herr von Tragy verächtlich hin. Wie ein Schlag
ins Gesicht ist dieses kurze: `Red du!` Und dann geht der Vater Tragy
steif und feierlich hinüber auf die andere Seite der Straße.
Weil die Straße ganz leer ist, kommen die beiden nicht sobald
wieder zusammen, und es ist, als würde die heiße sonnige
Fahrbahn immer breiter zwischen ihnen. Sie sehen einander gar nicht
mehr ähnlich. Der alte Herr wird immer tadelloser in Gang und
Haltung, und seine Stiefel schleudern Glanzlichter vor sich her. Der
drüben verändert sich auch. Alles an ihm kräuselt und
sträubt sich wie verkohlendes Papier. Sein Anzug hat aufeinmal
eine Menge Falten, seine Krawatte schwillt an, und seinem Hut scheint
die Krempe zu wachsen. Den knappen Modeüberzieher hat er wie einen
Wettermantel gepackt und trägt ihn gegen irgend einen Sturm.
Seine Schritte kämpfen. Er ist wie ein altes Bild mit der
lithographierten Unterschrift: `1848` oder: `Der Revolutionär`.
Gleichwohl sieht er vorsichtig von Zeit zu Zeit hinüber. Es hat
etwas Beunruhigendes für ihn, den alten Mann so ganz verlassen auf
dem endlos öden Bürgersteig zu sehen. Wie allein er ist,
denkt er - , und: wenn ihm etwas geschieht...
Seine Augen lassen den Vater nichtmehr los, begleiten ihn und werden
fast wund vor Anstrengung.
Endlich stehen die beiden Menschen vor demselben Haus. Als sie in den
Flur treten, bittet Ewald: "Papa!" Er ist eine Weile verwirrt und
überstürzt sich dann: "Den Kragen mußt du aufschlagen,
Papa - es ist immer so kalt jetzt im Treppenhaus."
Seine Stimme ist zaghaft und fragt zum Schluß, obwohl es doch gar
keine Frage ist.
Und der Vater antwortet auch nicht, er befiehlt: "Richt dir deine
Krawatte."
"Ja", bestätigt Ewald pedantisch und richtet die Krawatte. Dann
steigen sie hinauf, bedächtig, wie es sich gehört vom
hygienischen Standpunkt aus.
Eine Treppe rechts wohnt Frau von Wallbach, genannt Tante Karoline, und
bei ihr speist an jedem Sonntag die Familie - Stunde halb zwei.
Die Herren Tragy, Vater und Sohn, sind pünktlich. Trotzdem ist
Alles schon da. Denn das Wort `pünktlich` läßt sich
steigern, wie man weiß.
Ewald zögert einen Augenblick im Vorzimmer vor dem Spiegel. Er
setzt das Gesicht `der letzte Sonntag` auf und tritt so hinter dem
Vater in den gelben Salon.
"Ah -"
Die Gesellschaft ist maßlos erstaunt, einer immer über das
Erstaunen des anderen. Der Eintritt der beiden Tragys wird so auf
billige Weise Ereignis. Man muß eben verstehen, sich das Leben
reich zu machen - irgendwie. Große Begrüßung. Die
Übung eines Setzers gehört dazu, aus diesen verschiedenen
Schoßen die richtigen Hände zu holen und sie ohne
Druckfehler loszulassen. Ewald leistet heute mit dem Gesicht `der
letzte Sonntag`
Großartiges. Während der alte Herr erst bei
seiner Schwester Johanna angekommen ist, hat der Jüngling drei
Tanten, vier Kusinen, den kleinen Egon und `das Fräulein`
überwältigt, ohne daß man die geringste Müdigkeit
an ihm bemerkt.
Endlich ist auch Herr von Tragy, der Ältere, am Ziel, und nun
sitzt man einander gegenüber und hungert sich an. Die vier Kusinen
finden allerdings, man müsse etwas reden. Sie versuchen auch da
und dort an ein Ding - zum Beispiel an das Barometer, an die Azaleen,
die im Fenster stehen, an die Kupferdruckprämie über dem
Kanapee ein Wort zu heften. Aber alle diese Gegenstände sind von
unglaublicher Glätte, und die Worte fallen von ihnen, wie satte
Blutegel. Ein Schweigen bricht herein. Es legt sich um Alle wie lange,
lange Fäden gebleichten Garnes. Und die Älteste der Familie,
die verwitwetet Majorin Eleonore Richter, regt ihre harten Finger
suchte im Schoße, als wickelte sie die endlose Langeweile sorgsam
zu einem Knäuel auf. Man sieht: sie stammt noch aus jener
trefflichen Zeit, da die Frauen nicht müßig sein konnten.
Doch auch das Geschlecht, welches die verwitwete Majorin `jung` nennt,
erweist sich in diesem Augenblicke nicht als träge. Die vier
Fräulein sagen fast gleichzeitig: "Lora?"
Hinter diesem Wohlklang lächeln Alle wie beschenkt. Und Tante
Karoline, die Hausfrau, eröffnet die Diskussion: "Wie macht der
Hund?"
"Wau, Wau" - bellen die vier Fräulein.
Und der kleine Egon kommt aus irgend einem Winkel gekrochen und
beteiligt sich lebhaft an dem Gespräche.
Aber die Hausfrau glaubt dieses Thema erschöpft und schlägt
vor: "und die Katze?"
Und nun ist man allgemein beschäftigt zu miauen, zu krähen,
zu
meckern und zu brüllen, je nach Verdienst und Neigung. Es ist
schwer zu sagen, wer das tiefste Talent bewies, denn über diesem
Gewühle von rollenden und kreischenden und gleitenden Lauten
bleibt nur das gackernde Organ der verwitweten Majorin, und sie wird
ordentlich jung dabei.
"Die Tante gackert", sagt jemand ehrfurchtsvoll.
Doch man hält sich nicht lange dabei auf. Man ist hingerissen von
der Fülle der Möglichkeiten, macht immer kühnere
Versuche, gibt immer mehr Eigenes in den seltsam stilisierten
Klangsilben. Und es ist rührend, zu erwähnen, daß bei
allem Individualisieren doch eine feine Familienähnlichkeit in den
Stimmen blieb, der gemeinsame Grundton der Herzen, auf dem allein
echte, sorglose Fröhlichkeit entstehen kann.
Plötzlich beginnt ein graugrüner Sittich hinter seinen gelben
Gitterstäben sich zu rühren und, man kann sagen, es ist eine
gewisse, vornehme Anerkennung in dem stummen, bedächtigen Neigen
seines Kopfes. Alle empfinden es so, werden leiser und lächeln
dankbar.
Und der Papagei hat die Miene eines jüdischen Musiklehrers und
verneigt sich noch ein paarmal gegen seine Schüler; Tatsache ist:
seit Lora Hausgenosse wurde, haben Alle in der Familie eine Anzahl
klangvoller Worte, von denen sie sich früher nie träumen
ließen, zugelernt und so ihren Sprachschatz bedeutend vermehrt.
Bei dem schweigsamen Lob des Vogels kommt dieser Umstand einem jeden
zum Bewußtsein und macht ihn stolz und froh. Man geht also in
bester Stimmung zu Tisch.
Jeden Sonntag wartet Ewald, bis die dritte der Tanten, Fräulein
Auguste, lächelt: "Das Essen ist doch kein leerer Wahn" - worauf
jemand in guter Gewohnheit bestätigen muß: "nein, es ist
nicht ohne."
Das kommt gewöhnlich nach dem zweiten Gang. Und Ewald weiß
ganz genau, was nach dem dritten kommt, und so fort. Während
aufgetragen wird, spricht man wenig, einmal der
`Dienstleute` wegen,
dann weil das Zwiegespräch mit dem eigenen Teler einen jeden
genügend beansprucht. Man verhindert höchstens den kleinen
Egon, der nur reden darf, wenn er gefragt wurde, durch eine
zärtliche Teilnahme daran, satt zu werden oder auch nur seine
Bissen fertigzukauen. So kommt es, daß der Kleine immer zuerst
das unbehagliche Gefühl des Übervollseins bekommt und `das
Fräulein`, das langsam rot wird, zur Vertrauten seiner intimsten
Empfindungen macht. Die andern sind lange nicht so diskret. Niemand
füllt seinen Teller, ohne leise zu stöhnen, und als das
Mädchen mit einer süßen Creme eintritt, seufzen alle
laut und schmerzlich auf. Die eisgekühlte Sünde drängt
sich an jeden heran, und wer kann widerstehen? Der Herr Inspektor
denkt: `wenn ich nachher Soda nehme...`, und Fräulein Auguste
wendet sich an die Hausfrau: "Ist Magenbitter zuhaus, Karoline?" Mit
schelmischem Lächeln zieht Frau von Wallbach ein kleines Tischchen
heran, darauf viele Schachteln und Büchsen neben seltsam geformten
Flaschen bereitstehen. Man lächelt, es beginnt nach Apotheke
zu riechen, und die Creme kann nocheinmal herumgehen.
Plötzlich geschieht eine unerwartete Störung. Die
Älteste steht wie eine Ahnfrau und ruft warnend. "Und du, Ewald?"
Ewalds Teller ist rein.
`Und du?` fragen alle Augen, und die Hausfrau denkt: `wie immer, dieses
Absondern von der Familie. Wir sind morgen Alle elend und - er ?
Schickt sich das?`
"Danke -" sagt der junge Mensch kurz und stößt den Teller
einwenig fort. Das will heißen: damit ist diese Sache abgetan -
bitte.
Allein niemand versteht das. Man ist froh ein Thema zu haben und
bemüht sich um weitere Aufklärung.
"Du weißt nicht, was gut ist -" sagt jemand.
"Danke."
Dann strecken die vier Kusinen, alle zugleich, ihre Löffelchen
her: "Kost mal."
"Danke -" wiederholt Ewald und bringt es zustande, vier junge
Mädchen zugleich unglücklich zu machen. Die Stimmung wird
bang. Bis Tante Auguste zitiert: "Die Großmutter hat immer
gesagt: "Was man essen... nein - wie man leiden..."
"Nein", bessert Tante Karoline aus: "Leiden was man -."
Aber auch so stimmt es nicht.
Die vier Kusinen sind ratlos.
Herr von Tragy nickt seinem Sohne zu: ´Zeig dich jetzt, imponier
ihnen - vorwärts.´
Tragy, der Jüngere, schweigt. Er weiß: Alle erwarten Hilfe
von ihm, und weil der letzte Sonntag ist, entschließt er sich
endlich: "Essen was man mag und leiden, was man kann", wirft er voll
Verachtung vor sich hin.
Da sind Alle Bewunderung. Man reicht sich das Wort weiter, betrachtet,
erwägt es - nimmt es in den Mund wie zu besserer Verdauung und
nützt es so ab, daß es schon wieder ganz dunkel ist, als es
zu Ewald, die Tischrunde entlang, zurückkehrt.
Er läßt es im Munde `des Fräuleins` , einer
bleichsüchtigen Französin, die es als Sprachübung
betrachtet und zu dem kleinen Egon geneigt wiederholt: "Was man mack
essen..."
Eine Weile bleibt Ewald der geistige Mittelpunkt der Familie. Man
staunt sein bereites Gedächtnis an, bis Tante Karoline
geringschätzig die Lippen kräuselt. "Hm - wenn man so jung
ist."
Freilich, denken die vier Kusinen: `wenn man so jung ist...`
Und sogar auf dem blassen Gesichtchen des kleinen Egon ist diese
verächtliche Ahnung: wenn man so jung ist, - so daß der
Achtzehnjährige fühlt: Was ist denn nun wieder los? Sie
erwarten hier demnächst meine Geburt, wahrscheinlich.
Er ist ohnehin gereizt, und es scheint ihm gelegen, daß Tante
Auguste zwischen zwei Bissen die Geschichte ihrer Zähne -
Glück und Ende - erzählt; er sagt an der spannendsten Stelle
in den weitoffenen Mund der Tante hinein: "Ich denke, bei Tisch..." und
hofft , man wird erwidern: `Du mußt ja nicht lange mehr
mitmachen, du kannst ja gehen, wenn es dir nicht recht ist.` Aber Alle
bleiben gekränkt und stumm. -
Später, als man mit `Cantenac` verschiedene Hoch ausbringt, denkt
der junge Mensch: Jetzt wird doch jemand sein Glas heben: `Also
Ewald...` Doch man trinkt einander zu, der Reihe nach, ohne daß
irgendwem einfällt zu beginnen: `Also Ewald - `.
Dann ensteht eine lange Pause, und Ewald hat Zeit zu bangen Gedanken;
er empfindet plötzlich, wie die Blicke Aller in
Gleichgültigkeit oder Bosheit an ihm haften, und müht sich
mit scheuen Gesten sie abzustreifen. Aber mit jeder Bewegung verwirrt
er nur noch mehr diese unsichtbaren Netze, wird erst heftig, dann
hilflos, und denkt beständig im Kreise; denn durch Unmut und
Ungeduld kommt er immer wieder bei diesem an: man müßte euch
etwas Ungeheures, Unerhörtes sagen, mit einem breiten Wort euch
die Augen totschlagen, damit sie loslassen, das müßte man.
Aber das bleibt Wunsch; denn er liebt selbst Vieles aus dieser
bequemen, armseligen Alltäglichkeit, in der sie ihn haben
aufwachsen lassen, und ist wie das Kind von Dieben, das das Handwerk
seiner Eltern verachtet und doch langsam stehlen lernt.
Mitten in seine Sorgen hinein sagt Tante Auguste harmlos: "Wenn dem
jungen Herrn da drüben keines von unseren Gesprächen passt,
sollte er doch wenigstens für eine Unterhaltung nach seinem
Geschmack aufkommen. Da würde man ja gleich sehen... nun, Ewald,
du kommst ja wohl viel herum?"
Ewald, der kaum hingehört hat, sieht auf und lächelt traurig:
Oh ich...
Er vernimmt auch nur wie von fern, daß die vier Kusinen ihn
erinnern: "Du hast vor vier oder fünf Wochen einmal eine
Geschichte zu erzählen begonnen -" und er will sich schnell
besinnen, wasfür eine Geschichte das gewesen sein mag. Aufmerksam
erkundigt er sich: "Was war das doch, bitte?"
Die vier Kusinen denken nach.
Indessen wendet sich die Hausfrau an ihn: "Dichtest du noch? -"
Ewald wird blaß und sagt zu den Kusinen: "Also wißt ihr
nicht...?" Und er hört, wie die verwitwete Majorin staunt: "Waaas,
er dichtet?" und sie schüttelt den Kopf: "Zu meiner Zeit..."
Aber trotzalledem will er sich seiner Geschichte, die er vor fünf
oder sechs Wochen begonnen hat, entsinnen. Er hofft: es wird sich
irgendwo anbringen lassen, daß heute der letzte Sonntag ist, und
dann kann man aufatmen. Allein plötzlich unterbricht ihn Frau von
Wallbach:
"Dichter sind immer zerstreut. Ich denke, wir sind Alle fertig in den
Salon zu gehen", und zu Ewald: "Das mit der Geschichte hat wohl Zeit am
nächsten Sonntag, nichtwahr?"
Sie lächelt geistreich und erhebt sich. Der junge Mann ist wie ein
Verurteilter. Er fühlt: Es wird also immer wieder ein
`nächster` Sonntag sein und Alles ist umsonst. "Umsonst",
stöhnt etwas aus ihm.
Allein das hört schon niemand mehr. Man rückt die
Stühle, streckt sich, sagt sich mit fetter, zufriedener Stimme,
die über vieles Schlucken wie über schlechtes Pflaster rollt,
"Mahlzeit" - und zieht sich an den schweißigen Händen in den
Salon. Dort ist es wie vorher. Nur sitzt man jetzt weiter voneinander,
und das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist nichtmehr so
lebhaft wie vor Tisch.
Die verwitwete Majorin wandert vor dem Klavier auf und ab und knackt
sich die Gichtfinger gerade. Die Hausfrau sagt: "Die Tante spielt Alles
nach dem Gehör - es ist staunenswert."
"Wirklich" - staunt Tante Auguste - "auswendig?"
"Auswendig", beteuern die vier Kusinen und wenden sich an die Majorin:
"bitte, spiel."
Lange läßt sich die verwitwete Richter bitten, ehe sie
großmütig fragt: "Was wollt ihr denn?"
"Mascagni", träumen die vier Kusinen - denn das ist gerade modern.
"Ja", sagt Frau Eleonore Richter und probt die Tasten.
"Cavalleria?"
"Ja", sagen einige.
"Ja", nickt die alte Dame und denkt nach.
"Die Tante spielt Alles nach dem Gehör -" sagt Tante Auguste, die
leise eingeschlafen war, und jemand fügt mit tiefem Atemholen an:
"Ja, es ist staunenswert -"
"Ja -", zögert die Majorin und probt die Tasten: "es muß
mirs einer pfeifen."
Der Herr Inspektor pfeift: "So such ich den Humor -" -
Mikado.
"Richtig" - lächelt die Tante: "Cavalleria", und lächelt als
ob das ihre `Jugend` wäre.
Sie beginnt also mit `Mikado` und spielt dann, wundersam versöhnt:
`Der Bettelstudent` und `Die Glocken von Corneville`.
Die andern schlafen darüber dankbar ein, und die Majorin selbst
kommt ihnen nach.
Da hält es Ewald nicht länger aus, er muß es
aussprechen um jeden Preis, und als ob das die selbstverständliche
Folge der `Glocken von Corneville` wäre, sagt er: "Der letzte
Sonntag".
Niemand hat das gehört als Fräulein Jeanne. Sie geht lautlos
über den tiefen Teppich und setzt sich dem jungen Mann
gegenüber ans Fenster.
Eine Weile betrachten sich die beiden.
Dann fragt die Französin leise: "Est-ce que vous partirez,
monsieur?"
"Ja", gibt ihr Ewald deutsch, "ich reise fort, Fräulein. Ich reise
- fort", wiederholt er gedehnt und freut sich an der Breite seiner
Worte. Er spricht eigentlich zum erstenmal mit Jeanne und ist erstaunt.
Er fühlt unvermittelt, daß sie nicht einfach `das
Fräulein` ist, wie die andern meinen, und denkt: `Merkwürdig,
daß ich das nie erkannt habe. Sie ist eine, vor der man sich
neigen muß - eine Fremde.` Und obwohl er still und beobachtend
bleibt, verneigt sich etwas in ihm vor der Fremden - tief - so
übertrieben tief, daß sie lächeln muß. Das ist
ein graziöses Lächeln, welches sich mit Barockschnörkel
um die feinen Lippen schreibt und nicht bis an die Traurigkeit ihrer
schattigen Augen reicht, die immer wie nach einem Weinen sind. Also
irgendwo lächelt man so - erfährt Tragy, der Jüngere.
Und gleich danach hat er das Bedürfnis, ihr etwas Dankbares zu
sagen, das ihr Freude machen muß. Ihm ist, als sollte er sie an
etwas erinnern, was ihnen gemeinsam war, zum Beispiel sagen: `Gestern`
und verständig aussehen dabei. Aber es gibt ja in aller Welt
nichts Gemeinschaftliches für sie. Da fragt sie ihn mitten in die
Verwirrung hinein in ihrem filigranen Deutsch: "Warum? Warum reisen Sie
fort?"
Ewald stemmt die Ellbogen auf die Kniee und legt das Kinn in die hohlen
Hände.
"Sie sind ja auch fortgegangen von Hause", antwortet er.
Und Jeanne warnt schnell:
"Sie werden Heimweh haben."
"Ich habe Sehnsucht", gesteht Ewald, und so reden sie eine Weile
aneinander vorbei.
Dann kehren beide um und kommen sich entgegen; denn Jeanne beichtet
leise: "Ich habe weg müssen, wir sind acht Geschwister zuhaus,
da können Sie sich vorstellen - aber mir ist sehr bang.
Freilich, - Alle sind ja gut hier -", fügt sie ängstlich an -
und dann bittet das Mädchen: "Und Sie?"
"Ich?", der junge Mensch ist zerstreut, "ich? - nein, ich muß
nicht fort, weiß Gott, im Gegenteil. Sie sehen ja: ein jeder hier
weiß, daß ich den letzten Sonntag hier bin,
und tut jemand was dergleichen? Aber trotzdem - Warum lächeln
Sie?" unterbricht er sich.
Sie zögert, und dann:
"Sind Sie ein Dichter, bitte?" Ganz rot ist sie und erschrocken wie ein
Kind.
"Das ist es eben, Fräulein", erklärt er - "ich weiß
nicht. Und einmal muß man es doch wissen, nicht? So oder so. Hier kommt man zu keiner Klarheit
darüber. Man kann nicht forttreten von sich, es fehlt die Ruhe,
der
Raum fehlt, die Perspektive.
Verstehen Sie das, Fräulein?"
"Vielleicht" - nickt die Französin, "aber - - ich meine - Ihr Herr
Vater muß doch Freude haben und dann Ihre - - -"
"Meine Mutter, wollen Sie sagen. Hm. Ja, das hat schon so mancher
behauptet. Wissen Sie, meine Mutter ist krank. Sie werden ja wohl
gehört haben - obwohl man vermeidet, hier ihren Namen zu brauchen.
Sie hat meinen Vater verlassen. Sie reist. Sie hat immer nur soviel
mit, als sie unterwegs braucht, auch von Liebe - Ich weiß lange
nichts von ihr, denn wir schreiben uns seit einem Jahr nichtmehr. Aber
gewiß erzählt sie zwischen zwei Stationen im Coupé:
`Mein
Sohn ist ein Dichter -`."
Pause. -
"Ja, und dann mein Vater. Er ist ein trefflicher Mensch. Ich hab ihn
lieb. Er ist so vornehm und hat ein goldechtes Herz. Aber die Leute
fragen ihn: `Was ist Ihr Sohn? ` Und da schämt er sich und wird
verlegen. Was soll man sagen? Nur
Dichter? Das ist einfach lächerlich. Selbst wenn es möglich
wäre - das ist ja kein Stand. Er trägt nichts, man
gehört in keine Rangsklasse, hat keine Pensionsberechtigung, kurz:
man steht in keinem Zusammenhang mit dem Leben.
Deshalb darf man das nicht unterstützen und zu nichts `Gut` und
`Amen` sagen. Begreifen Sie jetzt, daß ich meinen Vater nie etwas
zeige - überhaupt niemandem hier, denn man beurteilt meine
Versuche nicht, man haßt sie von vornherein, und man haßt
mich in
ihnen. Und ich habe selbst soviel Zweifel. Wirklich: ganze
Nächte lieg ich mit gefalteten Händen wach und quäle
mich: `Bin ich würdig?`"
Ewald bleibt traurig und still.
Die anderen sind indessen wach geworden und gehen zwei und zwei in die
Nebenzimmer, wo die Whisttische bereit stehen.
Der Inspektor ist guter Laune. Er klopft seinem Sohn leise auf die
Schulter: "Na, Alter?"
Und Ewald versucht zu lächeln und küßt ihm die Hand.
Er wird doch bleiben, - denkt
der Inspektor: das ist vernünftig. Und so geht er den anderen nach.
Der junge Tragy vergißt sofort sein Lächeln und klagt:
"Sehen Sie, so hält er mich. So leise, nicht mit Gewalt oder
Einfluß, fast nur mit einer Erinnerung, als ob er sagte: `Du
warst einmal klein, und ich habe dir einen Christbaum angezündet
jedes Jahr - bdenke -` Er macht mich ganz schwach damit. Aus seiner
Güte ist kein Ausgang, und hinter seinem Zorn ist ein Abgrund. Zu
diesem Sprung hab ich nicht Mut genug.
Ich bin wahrscheinlich überhaupt feige, Sie können mir
glauben, feige und unbedeutend. Es wäre mir ganz gut hier zu
bleiben, so wie alle es sich denken, brav und bescheiden zu sein und
einen und denselben armseligen Tag so hinzuleben immer und immer
wieder..."
"Nein", sagt Jeanne entschieden - "jetzt lügen Sie..."
"Oh ja, vielleicht. Sie müssen nämlich wissen: ich lüge
sehr oft. Je nach Bedürfnis, einmal nach oben, einmal nach unten;
in der Mitte sollte ich
sein, aber manchmal mein ich, es ist gar nichts dazwischen. Ich
komme zum Beispiel zu Besuch zu Tante Auguste. Es ist licht, und die
urväterliche Wohnstube ist gerade so recht heimlich. Und ich setze
mich ohneweiteres in den besten Stuhl, lege die Beine übereinander
und sage: `Liebe Tante`, sage ich ungefähr -, `ich bin müde,
und deshalb werde ich meine staubigen Füße auf dein Kanapee,
gerade auf die netten Schutzdecken legen - erlaube.` Und damit die gute
Tante durch ihre Freude über diesen Scherz mich nicht unnötig
aufhält, tue ich also ohneweiteres; denn ich habe noch viel zu
erzählen, zum Beispiel dieses: `Das ist ja alles recht schön
und gut; ich weiß, es gibt Gesetze und Sitten, und die Menschen
pflegen sich mehr oder minder daran zu halten. Aber mich darfst du
nicht zu diesen ehrsamen Staatsbürgern zählen, beste Tante.
Ich bin mein eigener Gesetzgeber und König, über mir ist
niemand, nicht einmal Gott -`Ja, Fräulein, so ungefähr sag
ich zu meiner Tante, und sie ist rot vor Entrüstung. Sie zittert:
`Es haben schon andere sich fügen gelernt.....` `Mag sein`,
antworte ich gleichgültig. `Du bist nicht der Erste, und für
Leute von diesen Ansichten gibt es Narrenhäuser und
Zuchthäuser, Gott sei Dank -`, meine Tante weint schon - `von der
Art gibt es Hunderte.` Aber da bin ich empört: `Nein`, schrei ich
sie an, `es gibt keinen wie ich, hat nie einen Solchen gegeben....`
Schrei und schrei, denn ich muß mich selbst überschreien mit
dieser Phrase. Bis ich plötzlich bemerke, daß ich in einer
fremden Stube vor einer hilflosen alten Dame stehe und irgendeine Rolle
spiele. Dann schleiche ich scheu davon, laufe die Gasse entlang und
tret in meine Stube im letzten Augenblick eh mir die Tränen aus
den Augen brechen. Und dann - " Ewald Tragy schüttelt heftig mit
dem Kopf, als wollte er die Gedanken, die sich immer weiter bauen, zum
Einsturz bringen. Er weiß: ich weine dann, freilich, weil ich
mich verraten habe. Aber wie soll ich das erklären und wozu? Das
ist ja wieder ein Verrat.
Und er versichert hastig: "Unsinn, Fräulein - Sie dürfen
nicht glauben, daß ich wirklich weine -"
Und schon tut ihm die Lüge weh.
Es hat so wohlgetan sich anzuvertrauen und nun ist wieder Alles
verdorben. Man muß nicht immer wieder anfangen, denkt Tragy und
bleibt verstimmt und stumm.
Das Fräulein schweigt auch.
Sie horchen: die Karten fallen auf die Spieltische, wie Tropfen von
Bäumen, die jemand schüttelt. Und von Zeit zu Zeit mit
großer Wichtigkeit:
"Die Tante gibt"
oder: "wer meliert?"
oder "Treff ist atout",
und: das Kichern der vier Kusinen.
Jeanne denkt nach. Sie will etwas Liebes sagen, also für ihn:
etwas Deutsches. Aber sie weiß nicht, wie sie die fremden Worte
erwärmen soll, darum bittet sie endlich: "Sei nicht traurig." Und
schämt sich-
Der junge Mensch blickt auf und sieht ihr ernst und sinnend ins
Gesicht, solange bis sie aufgehört hat, zu glauben: ich habe
sicher Unsinn gesagt. Dann nickt er ein wenig und nimmt ganz ernst ihre
Hand, die er vorsichtig zwischen seine beiden legt. Es ist wie ein
Versuch, und er weiß nicht, was tun mit dieser Mädchenhand,
denn er gibt sie frei, läßt sie einfach fallen, der junge
Mensch.
Indessen hat Jeanne einen zweiten deutschen Satz gefunden, auf den sie
sehr stolz ist: "Sie haben doch noch nichts verloren?"
Da faltet Ewald die Hände im Schoß und sieht zum Fenster
hinaus.
Pause.
"Sie sind so jung -", tröstet ihn das Mädchen zaghaft.
"Oh", macht er. Er ist wirklich überzeugt, daß das Leben
für ihn eigentlich abgetan ist; nicht, daß er mittendurch
gegangen wäre, aber ein für allemal vorbei. Er lügt also
jetzt nicht und ist wahrhaft traurig: "Jung? Ist es das , bitte? Ich habe Alles
verloren..."
Pause.
"...auch Gott", und er bemüht sich, jedes Pathos zu vermeiden. Da
lächelt sie; sie ist fromm.
Er versteht dieses Lächeln nicht, gerade jetzt stört es ihn,
und er ist einwenig verletzt. Allein sie kommt um Verzeihung bittem,
steht auf und sagt:
"Ewald", sie spricht es aus mit falscher Betonung auf dem a und mit einem dunkeln
stummen e am Ende, das
geheimnisvoll und um Verheißung klingt, "ich glaube, Sie werden
Alles erst finden -"
Und dabei steht sie so hoch und feierlich vor ihm.
Er senkt die Stirne tiefer und will prahlen: `Kind` - so recht
wehmütig überlegen, und ist doch so leise dankbar gleich
darauf und möchte jubeln dürfen: `Ich weiß.` Und er tut
weder das eine, noch das andere.
Da bemerkt jemand im Spielzimmer, daß es so schweigsam geworden
sei nebenan. Frau von Wallbach runzelt die Stirn und befiehlt gleich:
"Jeanne!"
Jeanne zögert.
Die Hausfrau ist wirklich besorgt, und die vier Kusinen helfen ihr:
"Fräulein!"
Da neigt sich die Französin und man weiß nicht, ist das
Frage oder Befehl: "Und - Sie reisen?!"
"Ja", flüstert Ewald rasch. Er fühlt dabei eine Sekunde lang
ihre Hand im Haar und verspricht einem fremden jungen Mädchen, in
die Welt zu gehen, und weiß gar nicht, wie seltsam das alles ist.
II
Man wird es kaum glauben: Ewald Tragy
schläft volle vierzehn Stunden.Und das ist ein fremdes elendes
Hotelbett, und auf dem Bahnhofplatz gibt es Lärm und Sonne seit
fünf Uhr früh. Er hat sogar vergessen zu träumen,
trotzdem er weiß, daß `erste` Träume besondere
Bedeutung haben. Er tröstet sich damit, daß sich jetzt Alles
erfüllen könne, gleichviel, ob man es träume oder nicht,
und zieht diesen letzten Schlaf hinter allem Gestrigen aus wie einen
langen, langen Gedankenstrich. Fertig. So, und jetzt? Und jetzt kann es
beginnen - das Leben, oder das, was eben zu beginnen hat der Reihe
nach.
Der junge Mensch streckt sich behaglich in den Kissen aus. Vielleicht
will er so, in dieser wohligen Wärme, die Ereignisse empfangen? Er
wartet noch eine halbe Stunde, aber das Leben kommt nicht. Da steht er
denn auf und beschließt ihm entgegenzugehen. Und daß man
dies müsse, ist die Erkenntnis des ersten Morgens.
Sie befriedigt ihn, gibt ihm Bewegung und Zweck und treibt ihn hinaus
in die neue lichte Stadt. Er weiß zunächst nur, daß
die Gassen unenndlich lang und die Trambahnen lächerlich klein
sind, und ist ohneweiters geneigt, jede dieser beiden Erscheinungen
durch die andere zu erklären, was ihn ungemein beruhigt. Alle
Dinge interessieren ihn, die großen und bedeutenden nicht
zuletzt. Aber je tiefer in den Tag hinein, desto mehr verliert alles an
Wert den Regenrinnen gegenüber, vor welchen Tragy immer
nachdenklicher stehen bleibt. Er lächelt nichtmehr über die
darangeklebten kleinen Zettel und ihre Versprechungen und hat keine
Zeit mehr, sich über die seltsame Sprache zu wundern, in der sie
abgefaßt sind. Er übersetzt sie mit krampfhafter
Geschäftigkeit und schreibt viele Namen und Nummern in sein
Taschenbuch.
Endlich macht er den ersten Versuch. Im Flur schiebt er seine Krawatte
zurecht und nimmt sich vor: Ich werde sehr höflich sagen:
`Verzeihen Sie, hier ist wohl ein Zimmer für einen Herrn,
nichtwahr?` Er läutet, wartet und sagt es höflich,
hochdeutsch und mit bescheidener Betonung. Eine große breite Frau
drängt ihn gleich links in eine Tür, ehe er mit seiner Frage
zuende ist.
"Wissen S´ich sags gleich wie es is. Sauber is`s. Und wenn
S´sonst noch was brauchen..." Und damit erwartet sie, die
Hände in die Hüften gestemmt, seine Entscheidung.
Das ist eine kleine Stube, zweifenstrig mit alten umständlichen
Möbeln und schon ganz voll Dämmerung, so daß man das
Gefühl hat, eine Menge Dinge mit zu mieten, von denen man sich
nicht träumen läßt.
Und wie nun der junge Mann so gar nichts sagt und sich kaum umsieht in
dem dunklen Zimmer, fügt die Frau zögernd an: "Und`s macht
halt zwanzig Mark im Monat samt Frühstück, soviel haben wir
halt immer bekommen -" Tragy nickt ein paar Mal. Dann tritt er
näher an den alten Sekretär heran, der in einer Ecke steht,
prüft die breite aufgeklappte Schreibplatte und
lächelt, zieht zwei oder drei von den kleinen Schubläden im
Hintergrund auf und lächelt wieder: "Der bleibt doch hier stehn,
der Schreibtisch?" erkundigt er sich und ist ganz entschlossen: ich
bleibe auch. Aber dann fällt ihm die lange Reihe von Nummern in
seinem Taschenbuch ein, wie eine Pflicht, und er meint schnell: "Das
heißt, bis morgen darf ich mirs wohl überlegen?"
"Ja wegen meiner -"
Und Tragy merkt sich gut das Haus und schreibt in sein Taschenbuch:
`Frau Schuster, Finkenstraße 17 Hinterhaus, parterre,
Schreibtisch.` Hinter `Schreibtisch` drei Rufzeichen. Dann ist er sehr
zufrieden mit sich und versucht nichts mehr an diesem Tage.
Aber am nächsten Morgen beginnt er ganz früh seinem
Taschenbuch nachzugehen. Und das ist keine Kleinigkeit. Vormittags,
solang die Leute noch ausgeschlafen und die Stuben gut gelüftet
sind, freut ihn seine Wanderung noch einigermaßen. Er notiert
pünktlich alle Vorzüge - dort einen Erker mit Aussicht,
gegenüber ein Kanapee, und ein Badezimmer in Nummer 23, zwei
Treppen, nirgends mehr ein Schreibtisch, allerdings. Dafür bringt
er da und dort kleine Warnungen an,. zum Beispiel: `kleine Kinder`
oder: `Klavier` oder: `Wirtshaus`. Dann werden die Notizen immer karger
und hastiger; seine Eindrücke verändern sich ganz seltsam. In
gleichem Maße mit der Unfähigkeit seiner Augen wächst
die Empfindlichkeit seiner Geruchsnerven, und um Mittag hat er diesen
vernachlässigten Sinn soweit ausgebildet, daß ihm die
Außenwelt einzig durch ihn mehr zum Bewußtsein kommt. Er
denkt: Aha, Linsen, oder: Sauerkohl, und wendet sich schon auf der
Schwelle um, wenn ihm irgendwo ein Wäschetag entgegenqualmt. Er
vergißt ganz den Zweck seiner Besuche und beschränkt sich,
einfach die Eigenart der einzelnen Atmosphären festzustellen,
welche ihm aus den lächerlich kleinen Küchen, gleich
losgelassenen Hunden, entgegenstürzen. Dabei rennt er heulende
kleine Kinder um, lächelt den erzürnten Müttern dankbar
ins Gesicht und versichert stumme Greise, die er irgendwo in einem
Stubenwinkel aufstört, seiner besonderen Hochachtung.
Schließlich dunkeln alle Flure, und da kommt ihm in jeder
Tür, wo immer er läuten mag, immer dieselbe breite Frau
entgegen, dieselben Kinder heulen ihn überall an, und im
Hintergrund ist immer wieder dieser gestörte alte Herr mit den
erschreckten verständnislosen Augen.
Da flieht Ewald Tragy, atemlos. Als er sich erholt, findet er sich vor
dem uralten Schreibtisch mit den vielen Schubladen und hat just
begonnen zu schreiben:
`Lieber Papa, meine Wohnung ist also: Finkenstraße 17 bei Frau
Schuster.` Dann denkt er lange nach und beschließt endlich, den
Brief erst morgen weiterzuschreiben.
Und später braucht er den Sekretär selten. Er lebt die ersten
Wochen so hin, den ganzen Tag außer Haus, ohne rechten Plan,
stets in dem Gefühl: Ja, was wollt ich denn eigentlich? Er geht in
die Galerien, und die Bilder enttäuschen ihn. Er kauft sich einen
`Führer durch München` und wird müde dabei. Endlich
sucht
er sich so zu benehmen, als ob er jahrelang hier leben würde, und
das ist nicht leicht. Er sitzt am Sonntag mitten unter den Philistern
in einem Brauhausgarten und wandert hinaus auf die Oktoberwiese, wo die
Buden und Ringelspiele aufgeschlagen sind, und fährt nachmittags
in einer Droschke in den `Englischen Garten`. Da gibt es manchmal eine
Stunde, die er nicht vergessen möchte. So zwischen fünf und
sechs, wenn die Wolken auf dem hohen Himmel so phantastisch werden in
Form und Farbe und sich plötzlich wie Berge hinter den flachen
Wiesen des `Englischen Gartens` aufbauen, so daß man denken
muß: Morgen will ich auf diese Gipfel steigen. Und morgen ist
dann ein Regentag und der Nebel liegt dicht und schwer über den
endlosen Gassen. Immer wieder kommt so ein Morgen, das einem die Dinge
aus den Händen nimmt, und der junge Mensch wartet, bis es anders
wird. Er hat niemanden, den er fragen könnte, was man tut in
seinem Fall. Mit der Hausfrau spricht er, wenn sie ihm das
Frühstück bringt, zehn Worte, und an jedem Abend begegnet er
ihrem Mann,
dem gräflichen Herrschaftskutscher, und
grüßt ihn sehr höflich. Er weiß, daß die
beiden eine Tochter haben, und hört oft, wenn das Haus ganz stille
geworden ist, durch die Wand: "Mama -" und eine feine
Mädchenstimme. Sie liest etwas vor, und man kann manchmal meinen,
daß es Verse sind.
Das macht, daß Ewald jetzt früher nachhause kommt, seinen
Tee trinkt und über einer Arbeit oder einem Buch wachbleibt weit
in die Nacht hinein. Jedesmal, wenn die Stimme nebenan beginnt,
lächelt er, und so wird ihm seine Stube langsam lieb. Er
beschäftigt sich mehr mit ihr, bringt Blumen nachhause und spricht
tagsüber oft laut, als hätte er kein Geheimnis mehr vor
diesen vier Wänden.
Aber so sehr er sich darum bemüht, es bleibt etwas Kaltes,
Ablehnendes an den Dingen, und er hat oft am Abend das Gefühl, als
wohnte jemand hier neben ihm, der alle Gegenstände, unbeschadet
seiner Anwesenheit, gebraucht und dem sie auch willig zu Gebote sind.
Das wird noch verstärkt in ihm durch folgenden Vorfall.
"Merkwürdig", sagt Ewald eines Morgens, gerade als Frau Schuster
den Kaffee hinstellt, "sehen Sie mal, bitte, diese beiden Schubladen
des Schreibtisches wollen nicht aufgehen. Haben Sie vielleicht einen
Schlüssel? Sonst könnte man ja einen machen lassen -?" Und er
rüttelt an den beiden heimlichsten Laden des Schrankes.
"Sie müssen schon verzeihen -", zögert Frau Schuster, und sie
spricht hochdeutsch in ihrer Verlegenheit, "aber ich darf diese beiden
Laden nicht aufmachen, nämlich -"
Tragy blickt erstaunt auf.
"Sie müssen nämlich wissen, Herr, das ist so: mal haben wir
ein` Herrn ghabt, dems sehr schlecht gangen is. Und weil er uns
nicht hat zahlen können, hat er uns die Kommode dagelassen und hat
gsagt: da in den zwei Laden laß ich Ihnen wichtige Papiere zum
Pfand, - hat er gsagt und hat den Schlüssel mitg`nommen..."
"So, so", macht Tragy und sieht gleichgültig aus. "Das ist schon
lang?"
"Mna", überlegt die Frau, "so sieben Jahr oder Jahr acht
könntens schon sein, wohl, wohl - daß wir nichts mehr von
ihm ghört haben; aber leicht kommt er doch mal und holts. Nicht?
Man kann nicht wissen..."
"Freilich, freilich -", sagt Tragy obenhin, nimmt den Hut und geht
fort. Er hat ganz vergessen zu frühstücken.
Seither arbeitet Tragy an dem ovalen Sofatisch, den er quer vor das
andere Fenster geschoben hat; denn der Oktober macht Fortschritte, und
der Sekretär steht viel zu nah an den Scheiben. So erklärt
sich diese Veränderung auf die allernatürlichste Weise.
Und der junge Mensch findet noch manches zugunsten des neuen Platzes,
zum Beispiel, daß man so geradezu ins Fenster sieht. Wie
ein Bild ist es. Dieser Hof, in dem so langsam die Kastanien welk
werden. (Es sind doch Kastanien?)
Ein alter Steinbrunnen, ganz im Hintergrund, rinnt und rinnt wie ein
Lied, wie eine Begleitung zu Allem. Und es ist sogar etwas wie
ein
Relief auf dem Sockel. Ja, wenn man nur sehen könnte, was es
darstellt. Ach, wie bald es doch dunkel wird, man wird gleich die Lampe
anzünden müssen. Übrigens wenn draußen gar kein
Wind ist, wie jetzt, wie dann die Blätter langsam fallen,
lächerlich langsam . Da bleibt eines fast stehen in der dicken
feuchten Luft und schaut herein und schaut herein - wie Gesichter, wie
Gesichter, wie Gesichter... denkt Tragy und sitzt ruhig und reglos und
läßt es geschehen, daß jemand sich ans Fenster lehnt
und hereinstiert, so nah, daß die Nase sich an den Scheiben
eindrückt und die Züge, etwas Breites, Vampyrhaftes, Gieriges
bekommen.
Ewalds Blicke folgen, ganz verloren, den Linien dieses Gesichtes, bis
sie plötzlich in die lauernden fremden Augen stürzen, wie in
Abgründe. Das bringt ihn zum Bewußtsein. Er springt auf und
ist schon am Fenster. Die Riegel geben seinen zitternden Händen
nicht gleich nach, und der draußen ist schon weit, als Tragy sich
in den Nebel hinauslehnt.
Offenbar hat die kühle Luft ihn beruhigt; denn er tut gar nichts
Außergewöhnliches weiter. Er zündet die Lampe an,
bereitet seinen Tee wie an jedem anderen Tage und man kann meinen,
daß das Buch vor ihm ihn interessiere.
Nur das Eine ist seltsam: er geht nicht schlafen. Er wartet bis die
Lampe verlischt; das ist etwa um halb zwei. Da brennt er die Kerze an
und sieht geduldig zu, bis sie, ganz im Leuchter, schmilzt. Und da ist
auch schon ein scheues Licht hinter den Scheiben. Eine kurze Nacht,
nicht? Ewald denkt nicht etwa darüber nach, ob er ausziehen soll.
Das ist natürlich. Er überlegt nur, wie er das sagen wird:
`Es tut mir leid, Frau Schuster` oder: `Ich bin wirklich zufrieden
gewesen bei Ihnen, aber...` Und er baut und baut an diesem armseligen
Satz.
Und mit Morgen ist er überzeugt, daß man nicht daran denken
kann, zu kündigen, weil sich das überhaupt in keiner Art
ausdrücken läßt. Man bleibt also. Man muß sich
eben einrichten. Es ist eben so mit diesen Stuben; die, welche vorher
hier gewohnt haben, sind noch nicht ganz draußen, und die, welche
nach Ewald Tragy kommen, warten schon. Was bleibt da übrig, als
verträglich sein. Und an diesem Sonntag beschließt Ewald,
sich so klein wie möglich zu machen, um keinen von seinen
unbekannten Zimmergenossen zu stören, und einfach so mitzuleben
als der Geringste in diesem Massenquartier in der Finkenstraße-
Und sieh: das geht. Es gibt ein paar ganz erträgliche Wochen und
man kommt so sachte in den November hinein und erhält für den
kurzen, traurigen Tag eine lange Nacht geschenkt, in der alles
mögliche Raum hat.
Gleich mal zunächst: `Das Luitpold`. Das ist doch etwas. Man setzt
sich zu einem der kleinen Marmortischchen und legt
einen Stoß
Zeitungen neben sich und sieht gleich furchtbar beschäftigt aus.
Dann kommt das Fräulein in Schwarz und gießt so im
Vorübergehen die Tasse mit dem dünnen Kaffee voll, o Gott, so
voll, daß man sich gar nicht traut, auch noch den Zucker
hineinzuwerfen. Dabei sagt man: "Mittel" oder "Schwarz", und es wird
ganz nach Wunsch und Wink: `mittel` oder `schwarz`. Zum
Überfluß sagt man doch noch etwas Scherzhaftes, wenn man es
gerade bei der Hand hat, und dann lächelt die Minna oder Bertha
etwas müde ins Unbestimmte hinein und schwenkt die Nickelkannen in
der Rechten her und hin.
Tragy sieht das nur an anderen Tischen. Er beschränkt sich auf ein
Danke, denn ihm sind diese schwarzen Damen, die am Tage so welk
aussehen, sehr unsympathisch; nur die kleine Betty, die ihm das Wasser
bringt, bedauert er. Weiß der Himmel, warum er ihr etwas Liebes
tun möchte, aber, es ist Tatsache, er drückt ihr einmal
außer dem Trinkgeld ein klein zusammengefaltetes Papier in die
Hand und freut sich, daß ihr die Augen glänzen. Das ist ein
Los irgendeiner Wohltätigkeitslotterie und man kann 50 000 Mark
gewinnen damit. Aber die kleine Betty sieht sehr enttäuscht aus,
als sie nach einer Weile hinter der Säule hervorkommt, und sagt
gar nicht Danke.
Das sind so kleine Zufälle, die den jungen Menschen tiefer
berühren, als er selber meint. Sie geben ihm das Gefühl,
ausgeschlossen zu sein, gleichsam die Sitten eines fernen Landes
fortzuleben unter allen diesen Menschen, die sich mit einem
Lächeln und im Vorübergehen verstehen. Er möchte so gern
einer von ihnen sein, irgendeiner im Strome, und dann und wann glaubt
er es fast. Bis eine Kleinigkeit geschieht, welche beweist, daß
sich nichts an dem Verhältnis geändert hat: er auf der einen
Seite und alle Welt drüben. Und da lebe nun einer.
Gerade zu dieser Zeit, da Tragy das Bedürfnis hat, jemanden kennen
zu lernen, empfängt er einen Brief. Der lautet: "Ich höre
durch Zufall, daß Sie in München sind. Ich habe manches von
Ihnen gelesen und stelle es mir schön vor, wenn wir uns sehen
würden, bei Ihnen, bei mir oder an einem dritten Ort, wie Sie
wollen und - wenn Sie
wollen."
Und Tragy will nicht. Er kennt den Namen, welcher unter dem Brief
steht, längst aus Zeitschriften und Gedichtanthologieen und hat
gar nichts gegen Wilhelm von Kranz, durchaus nicht. Aber im Augenblick,
da dieser Herr ihn anrührt, kriecht er wie eine Schnecke in sich
zusammen. Was er noch gestern gewünscht hat, wird eine Gefahr im
Moment, da es sich erfüllen kann, und es scheint ihm
unerhört. daß da jemand ist, der so ohneweiters, mit den
staubigen Schuhen sozusagen, in seine Einsamkeit will, darin er selber
nur ganz leise aufzutreten wagt. So gibt er nichtnur keine Antwort,
sonder meidet sogar vorsichtig jeden `dritten Ort` , ist oft zuhause
und
bekommt so gelegentlich auch die Haustochter zu Gesicht, von der er
bislang nur die Stimme kannte.
Er sagt ihr einmal, als sie ihm den Kaffee bringt: "Und was lesen Sie
immer abends, Fräulein Sophie?"
"Oh, was wir gerade haben. Viel Bücher haben wir nicht - aber
hört man es denn hier?"
"Wort für Wort", übertreibt Ewald.
"Stört es Sie sehr?"
Und Tragy sagt nur: "Nein, es stört mich nicht. Aber wenn Sie gern
lesen, will ich Ihnen geben, was ich mithabe. Es ist nicht vieles, aber
viel." Und er reicht ihr einen Band Goethe.
Das ist ein ganz kleiner Verkehr zwischen ihnen, aber er füllt bei
Tragy etwas aus, wird ein steter Gedanke mitten in dem Vielen, das
durch seine Seele strömt, und er ruht gerne
aus darin. Jemandem solche Bücher leihen ist schließlich
dasselbe wie ihm ein Los schenken. Aber diesmal erhält Tragy einen
sympathischen Dank dafür. Das macht ihn froh.
Er war guter Laune auch an dem Nachmittag, da er so unerwartet
nachhause kommt und in seiner Stube Stimmen hört. Er zögert
und horcht. Rasche, halblaute Worte, die vor seinen Schritten zu
flüchten scheinen, und dann steht ein junger Mensch mit einem
breiten dicken Gesicht vor der Tür und pfeift , pfeift so in den
Tag
hinein, mir nichts und dir nichts. Und eben da Ewald ihn zu Rede
stellen
will, tritt Sophie aus seiner Tür, sehr blaß, und tut
als ob das alles selbstverständlich wäre. Dann sagt sie
unsicher: "Es
ist der Herr hier, - der... er wollte das Zimmer
sehen, Herr Tragy."
Die beiden jungen Leute sehen sich ins Gesicht. Der Fremde hört
auf zu pfeifen und grüßt. Und da er höflich
lächelt dabei, wird das Gesicht breit und verschwommen, und Tragy
muß an etwas Häßliches denken. Trotzdem dankt er
flüchtig, so mit der Hand an der Krempe, und tritt in seine Stube.
Er bemerkt erst nach einer Weile, daß Sophie hinten an der
Tür steht, hat plötzlich fürchterlich viel zu tun,
trägt Dinge ganz überflüssiger Weise von einem Tisch zum
andern und bückt sich gelegentlich, um etwas aufzuheben. Aber
endlich ist er doch fertig mit diesem unseligen Aufräumen und er
muß nun wahrscheinlich das Mädchen fragen: Was wollen Sie?
Denn so kann sie doch nicht stehen bleiben wollen ohne Grund.
Plötzlich fällt ihm etwas ein und er spricht nach der andern
Seite hin, irgendwohin in eine Ecke: "Sie können beruhigt sein,
ich werde nichts sagen. Das wollen Sie ja doch hören, nichtwahr?
Also gut. Aber ich ziehe aus im nächsten Monat, ich habe ohnehin
die Absicht gehabt -"
Und da sitzt er schon am Tisch und schreibt, tief, als ob er seit zwei
Stunden schriebe. Es wird aber nur ein ganz kurzer Brief an Herrn von
Kranz, darin er ihn bittet, morgen um vier im `Luitpold` zu sein, wenn
es ihm passe. Erst nachdem er die Adresse beendet hat, sieht er sich
vorsichtig um. Es ist niemand mehr da, und Ewald wechselt Schuhe und
Anzug, denn er hat vor, auswärts zur Nacht zu essen.
Herrn von Kranz paßt die Stunde, wie ihm
eine jede Stunde gepaßt haben würde. Er ist nicht
übermäßig beschäftigt, nämlich. Er schreibt
etwas Großes, ein Epos oder etwas `in Höhepunkten` ,
so hat er dem neuen Bekannten versichert in der ersten halben Stunde.
Eine solche Arbeit hängt aber , wie man weiß, einzig von der
Inspiration ab, von der tiefen Begeisterung, welche (nach Herrn von
Kranz) "den Traum des dunklen Mittelalters erfüllt und es
versteht, aus allen Dingen Gold zu machen". So etwas geschieht,
freilich mitten in der Nacht oder sonst unglaublich wann, nicht um vier
Uhr nachmittags, zu einer Zeit, da sich bekanntlich die
allergewöhnlichsten Dinge ereignen können. Und deshalb ist
Herr von Kranz frei und sitzt im `Luitpold`, Tragy gegenüber. Er
ist sehr beredt, denn Ewald schweigt viel, und Kranz liebt das
Schweigen nicht, scheint es. Er hält das für das Vorrecht der
Einsamen, wo aber zwei oder drei beisammen sind, da hat es
tatsächlich keinen Sinn, wenigstens keinen, den man auf den ersten
Blick begreift. Und nur nichts Dunkles und Unverständliches, im
Leben wenigstens. In der Kunst? Ah das ist etwas anderes, da hat man ja
das Symbol, nichtwahr? Dunkle Umrisse vor lichtem Hintergrund,
nichtwahr? Verschleierte Bilder - nicht? Aber im Leben - Symbole, oh -
lächerlich.
Manchmal sagt Ewald: "Ja" und wundert sich, woher in aller Welt er
diese Unmenge unverbrauchter `Ja` in sich hat. Und wundert sich
über die großen Worte und über das kleine Leben
irgendwo tief unten. Denn er lernt in diesem Nachmittag die ganze
Weltanschauung des Herrn von Kranz, diese Weltanschauung aus der
Vogelperspektive, kennen und - und wundert sich eben. Er ist jung,
nimmt die Dinge wie Tatsachen und die Sensationen für Schicksale
hin und hat dann und wann das Bedürfnis, etwas von diesen
glänzenden Konfessionen aufzuschreiben, weil ihr ganzer
Zusammenhang weithin , ihm unübersehbar scheint. Was ihn aber am
meisten überrascht, das ist das Fertige aller dieser
Überzeugungen, die sorglose Leichtigkeit, womit Kranz eine
Erkenntnis neben die andere setzt, lauter Eier des Kolumbus: wenn eines
nicht gleich aufrecht bleiben will, ein Schlag auf die Tischplatte und
- es steht.
Ob das Geschicklichkeit ist oder Kraft - wer mag das entscheiden?
Herr von Kranz ist aufrichtig bei der Sache. Er spricht sehr laut und
hat offenbar den Ort der Handlung ganz vergessen. Wie ein Sturm, der
fremden Stuben die Fenster aufreißt, bricht seine Rede in alle
Gespräche; so daß man endlich nachgibt und allenthalben die
Fenster offen läßt. Und da ist eben der Sturm obenauf. Sogar
die schöne Minna vergißt einzuschenken, bleibt an einer
Säule lehnen und hört zu. Nur leider mit ganz impertinenten
Augen. Und plötzlich fängt sie mit diesen großen,
grünen Augen die blitzenden Blicke des Dichters auf und
bändigt sie, macht sie klein, unbedeutend, nichtswürdig und
läßt sie mit einem infamen Lächeln einfach fallen.
Herr von Kranz verliert einen Moment die Fassung. Er wankt im Sattel,
tut aber gleich, als sei das eine beabsichtigte Schwenkung gewesen und
wirft der Schönen ein Wort zu, so ein klebriges, mehr Frosch als
Blume. Dann ist er gleich wieder bei der Sache und ist sogar an einem
Höhepunkt, an der Stelle nämlich: "Wie ich Nietzsche
überwand."
Aber Ewald Tragy hört aufeinmal nichtmehr zu. Er entdeckt das erst
viel später, als Kranz an irgendeinem Ende ist und wartet. Dieses
Warten bedeutet: Und Sie? Sie haben doch auch so etwas wie eine Meinung
von Alledem, hoffentlich. Weltanschauung
um Weltanschauung, bitte?
Tragy begreift das nicht gleich, und als er es schließlich
versteht, gerät er in unbeschreibliche Verwirrung. Er steht so
mitten in allem, wie tief im Wald, und sieht nichts als Stämme,
Stämme, Stämme und weiß kaum, ob Tag oder Nacht ist
über ihnen.Und doch soll er genau die Stunde nennen, auf die
Minute genau, so daß gar kein Zweifel möglich ist. Er
fürchtet durch sein Schweigen Herrn von Kranz zu verletzen; aber
der wird immer milder, teilnahmsvoller, väterlich fast. Und er
befiehlt rasch: "zahlen!" So feinfühlig ist er.
In den nächsten Tagen aber empfindet Tragy immer deutlicher,
daß er dem neuen Bekannten etwas geben müsse von sich, nicht
aus Sympathie, sondern weil er doch nach jenem freimütigen
Nachmittag sein Schuldner geworden ist im Vertrauen. Und als die beiden
einmal im `Englischen Garten`gehen - es ist wieder so eine
Dämmerung mit Wolkenbergen am Horizont -, sagt er unvermittelt:
"Immer war ich so ganz allein. Mit zehn Jahren kam ich aus dem Haus in
die Militärerziehung unter fünfhundert Kameraden und -
trotzdem... Ich war sehr unglücklich dort - fünf Jahre. Und
dann steckten sie mich wieder in eine Schule, und dann wieder in eine,
und so fort. Ich war immer allein, wissen Sie..."
`Wenn es weiter nichts ist`, denkt Herr von Kranz, `dem läßt
sich abhelfen.` Und seither ist er jeden Augenblick bei Ewald,
früh, Vormittag, oft bis weit in die Nacht. Und er tut das so
selbstverständlich, daß Tragy nichtmehr wagt, seine
Einsamkeit zu verriegeln; er lebt bei offenen Türen, sozusagen.
Und Herr von Kranz kommt und geht und kommt und geht. Er hat ein Recht
dazu, denn: "Wir haben ganz das gleiche Los, lieber Freund Tragy -"
behauptet er. "Auch mich verstehn sie nicht zuhaus, natürlich. Sie
nennen mich überspannt, verrückt, als ob -"; er vergißt
bei diesem Anlaß nie anzufügen, daß sein Vater
Hofmarschall ist an einem kleinen deutschen Hofe und daß man in
diesen Kreisen - er schätzt sie offenbar sehr gering - die
bekannten konservativ vornehmlichen Ansichten habe. Eben diesen
Ansichten hat er es ja auch zu danken, daß er Lieutnant, man
bedenke, Lieutenant bei der Garde werden mußte, und er
versichtert, daß es arge Mühe kostete nach einem Jahr in die
Reserve zurückzutreten, gleichsam über die Sympathieen der
Vorgesetzten und der Untergebenen weg. Und vollends, daß man
zuhause auf Schloß Seewies-Kranz mit seiner neuen Berufswahl
nicht, aber ganz und gar nicht einverstanden sei und ihm die
Prügel nur so vor die Füße werfe, das brauche er wohl
kaum noch zu versichern. Aber trotzalledem gebe er den Kampf nicht auf.
Im Gegenteil. Er habe sich verlobt, ja, ganz regelrecht verlobt, mit
gedruckten Anzeigen verlobt. Sie
ist aus den besten Familien, natürlich, vornehm, gut erzogen,
nicht reich, aber beinahe adelig. (Ihre Mutter ist eine Gräfin
Soundso.) Nun und dieser Schritt, den er ohneweiters unternahm, ist
doch ein Beweis seiner Freiheit, gewissermaßen. Auch soll es
nicht zu lange dauern bis zur Hochzeit, und dahinter kommt erst der
Haupterfolg, nämlich: "Mein Austritt aus der Kirche -" Kranz
zwirbelt seinen blonden Schnurrbart auf und lächelt. "Ja -", sagt
er, ungemein zufrieden mit sich und mit Tragys Erstaunen, "das ist ein
Schlag, was ? Ich entsage dabei meiner Offiziers-charge, natürlich
- ich opfere sie auf für meine Überzeungen. Einer
Gemeinschaft anzugehören, deren Gesetze man nicht erfüllt,
ist eine Untreue gegen sich selbst..."
`Untreue gegen sich selbst`, fällt Tragy einmal mitten in der
Nacht ein,
wie fertig das wieder ist, wie klar, wie überwunden.
Und er erinnert sich seither fast jede Nacht an irgendeine Stelle aus
seinen
Gesprächen mit Kranz, und sie scheinen ihm alle gleich trefflich
und bezeichnend. Die Folgen bleiben nicht aus.
Eines Morgens, im November noch, erwacht Tragy und hat eine
Weltanschauung. Wirklich. Sie läßt sich gar nicht leugnen,
sie ist da, alle Anzeichen sprechen dafür. Er weiß nicht
recht, wem sie gehört, aber da er sie doch nun mal bei sich
gefunden hat, nimmt er an, daß es die seine sei.
Selbstverständlich bringt er sie nächstens mit ins
`Luitpold`. Und kaum hat er sie gezeigt, besitzt er schon eine Menge
Bekannte, die fast wie Freunde sind, ihm von seinen Gedichten
erzählen, die sie Alle kennen, und ihm alle fünf Minuten
Zigaretten anbieten: "Aber nehmen Sie doch." Fehlt nur noch, daß
sie ihn auf die Schulter klopfen und Du sagen. Aber Tragy raucht nicht,
obwohl er fühlt, daß dies zu seiner Weltanschauung
gehört, so gut wie der Sherry, den er vor sich stehen hat, und die
Absicht, den Abend in den Blumensälen zuzubringen, wo die
berühmte Branicka singt.
Und da behauptet gerade jemand, Kranz kenne sie wohl sehr genau, die
Branicka. "Wie?"
Kranz hebt die Achseln hoch und dreht den Schnurrbart, er ist auf
einmal ganz Lieutenant, ist `von` Kranz. Und es witzelt einer: "Ja nach
den Stunden, die er bei seiner Braut verbringt, braucht er doch - eine
Ableitung." Und großes Gelächter; denn das finden alle
treffend, `fein`, wie der technische Ausdruck lautet, und Kranz selbst
nennt es so.
Er fühlt sich überhaupt herzlich wohl unter diesen jungen
Leuten, die zum Überfluß auch Namen haben, obgleich es
genügt hätte, sie zur Unterscheidung zu numerieren. Eine hohe
Meinung hat Kranz allerdings nicht von seinen täglichen Genossen,
sie sind ihm so eine Art Hintergrund für die eigene
Persönlichkeit, und wenn Tragy mal nach einem von ihnen fragt,
gibt er obenhin: "Der? Na man kann noch nicht wissen, ob er Talent hat,
vielleicht -" und wählt das zum Anlaß eines längeren
Gespräches über die `Aufgaben der Kunst` , über die
`technischen Forderungen des Dramas` oder das `Epos der Zukunft`.
Auch hier fühlt Tragy sich ganz unerfahren, und es kann zu keiner
gerechten Erörterung kommen, weil er nur selten etwas zu entgegnen
weiß. Aber wenn ihn seine Unwissenheit in den anderen Fällen
beunruhigt , diesen Dingen gegenüber empfindet er sie wie einen
Schild, hinter dem er irgendwas Liebes, Tiefes - er vermag nicht zu
denken was - bergen kann, vor irgendeiner fremden Gefahr, und er
weiß nicht zu sagen - vor welcher. Er scheut sich auch manches,
was ihm in einer leisen Stunde gelingt, dem Genossen zu zeigen und
liest ihm nur ganz selten mit halber, unbewußt klagender Stimme
ein paar blasse Verse vor und bereut es gleich darauf und schämt
sich vor dem bereiten Beifall des anderen, der so laut und
rücksichtslos ist. Seine Verse sind eben krank, und man soll nicht
laut sprechen in ihrer Gegenwart.
Im übrigen bleibt Tragy nicht viel Zeit für solche
Heimlichkeiten. Es stehen mit einem Male soviel Dinge in seinen Tagen,
und trotzdem kommt er jetzt leichter durch als früher, da sie leer
waren und man sich nirgends halten konnte. Es gibt eine Menge kleiner
Pflichten, tägliche Verabredungen mit Kranz und seinem Kreis, ein
stetes Beschäftigtsein ohne eigentlichen Sinn und Gespräche,
die man überall enden konnte, an jeder beliebigen Stelle.
Dafür fehlt jede Erregung und Unruhe; es ist ein
immerwährendes Mitgehen, und der eigene Wille hat nichts zu tun.
Eine einzige wirkliche Gefahr besteht noch: das Alleinsein - und davor
weiß jeder den andern zu behüten.
So ist Alles bis zu jenem Nachmittag, da Herr von Kranz, bedeutender
als je, im `Luitpold` sitzt und Tragy erklärt:
"Solange wir das nicht erreichen, - ist nichts. Wir brauchen eine
Höhenkunst, lieber Freund, so etwas über Tausende hin.
Zeichen, die auf allen Bergen flammen von Land zu Land - eine Kunst wie
ein Aufruf, eine Signalkunst -"
"Quatsch", sagt jemand hinter ihm, und das fällt wie nasser
Mörtel auf die glänzende Beredsamkeit des Dichters und deckt
sie zu.
Dieses `Quatsch` gehört einem kleinen schwarzen Mann, der einen
langen Zug tut aus einem unglaublich verbrauchten Zigarettenrest, und
zugleich mit der Asche glimmen seine großen schwarzen Augen auf
und verlöschen mit ihr. Dann geht er ruhig weiter, und Herr von
Kranz ruft geärgert hinter ihm her: "Natürlich, Thalmann -"
Und fügt für Ewald hinzu: "Er ist ein Flegel. Man
müßte ihn einmal zu Rede stellen. Aber er hat ja keine Art.
Er zählt überhaupt nicht mit. Ihn nicht beachten, das ist das
beste -", und er hat gute Lust, seine Erörterungen über die
Höhenkunst wieder aufzunehmen. Allein Tragy wehrt sich mit
ungewohnter Energie dagegen und fragt unbeirrt: "Wer ist das?"
"Ein Jude aus irgendeinem kleinen Nest, schreibt Romane, glaub ich.
Eine von den zweifelhaften Existenzen, wie es hier Dutzende gibt,
Dutzende. Das kommt heute man weiß nicht woher und geht
übermorgen und man weiß nicht wohin, und es bleibt nichts
zurück als einwenig Schmutz. Sie dürfen sich nicht
täuschen lassen durch diese Gesten, lieber Tragy..."
Seine Stimme wird ungeduldig und das heißt: ein für alle Mal
und genug davon. Und Tragy ist auch ganz einverstanden und bereit, sich
nicht täuschen zu lassen.
Aber es ist doch ein Abschnitt, dieser Nachmittag. Er kann dieses
lächerliche `Quatsch` nicht vergessen, das so schwer und breit auf
die Begeisterung des Propheten fiel und, was das Schlimmere ist, er
hört es noch immer fallen - hinter jedem großen
Geständnis des Herrn von Kranz klatscht es herunter, und er sieht
irgendwo in der Erinnerung den kleinen schwarzen Mann mit den breiten
Schultern und dem schäbigen Rock stehen und lächeln.
Und ganz so findet er ihn eine Woche später abends in den
Blumensälen. Es ist ihm natürlich, auf ihn zuzugehen und ihn
zu begrüßen. Gott weiß warum. Der andere ist auch
nicht erstaunt darüber, er fragt nur: "Sind Sie mit Kranz hier?"
"Kranz wollte nachkommen."
Pause, und dann: "Ist Ihnen Kranz nicht sympathisch?"
Thalmann nickt jemanden im Parterre zu und antwortet nebenbei:
"Sympathisch, machen Sie doch nicht solche Worte. Er langweilt mich."
"Und sonst langweilen Sie sich nie? -" Tragy ist gereizt durch die
geringschätzige Art des andern.
"Nein, ich habe nicht Zeit dazu."
"Merkwürdig, daß man Sie dann hier findet?"
"Wieso?"
"Hier geht man doch nur aus Langweile her?"
"Vielleicht andere, ich nicht."
Tragy staunt über seine eigene Hartnäckigkeit. Er gibt nicht
nach.
"Dann haben Sie also Interesse."
"Nein", macht der Schwarze und geht weiter. Tragy hinter ihm: "Sondern?"
Thalmann wendet sich kurz: "Mitleid."
"Mit wem?"
"Mit Ihnen zunächst." So läßt er Tragy zurück und
geht, wie damals im `Luitpold`, ruhig weiter. Und Ewald ist schon um
elf zuhaus und schläft schlecht in dieser Nacht.
Am nächsten Tag ist Schnee gefallen. Alle Welt ist froh über
das Ereignis, und die einander in den weißen Straßen
begegnen, lächeln sich zu: "Er bleibt liegen", und freuen sich.
Ewald findet Thalmann an der Ecke der Theresienstrasse, und sie gehen
ein Stück weit zusammen. Lange still, bis Ewald beginnt: "Sie
schreiben, nichtwahr?"
"Ja, auch das, gelegentlich."
"Auch? So ist das nicht Ihre eigentliche Beschäftigung?"
"Nein -"
Pause.
"Was tun Sie denn also, bitte?"
"Schauen."
"Wie?"
"Schauen und das andere - Essen, Trinken, Schlafen, dann und wann,
nichts Besonderes."
"Man sollte meinen, daß Sie sich in einem fort lustig machen."
"So, worüber?"
"Über Alles, über Gott und die Welt."
Da antwortet Thalmann nicht, sondern lächelt so: "Und Sie , Sie
machen wohl viele Gedichte?"
Tragy wird ganz rot und schweigt. Er kann kein Wort hervorbringen.
Und Thalmann lächelt nur.
"Halten Sie das für eine Schande?" zwingt Tragy endlich heraus und
friert.
"Nein. Ich halte überhaupt nichts für - etwas. Es ist nur -
überflüssig. Doch, ich muß da hinauf." Und im Tor:
"Adieu, und Sie können recht haben mit dem Lustigmachen."
Und nun ist Tragy wieder allein. Er muß an die Zeit denken, da er
zehnjährig und verzärtelt aus dem Haus kam, unter lauter
Roheit und Gleichgültigkeit, und er fühlt sich ganz so wie
damals, erschrocken, hilflos, unfähig. Es ist immer dasselbe. Als
ob ihm etwas fehlte zum Leben , irgend ein wichtiges Organ, ohne
welches man eben nicht vorwärts kommt. Wozu immer wieder diese
Versuche?
Er kommt müde nachhause wie von einem weiten Weg und weiß
nicht, was er mit sich beginnen soll. Er stöbert in alten Briefen
und Erinnerungen und liest auch die Gedichte durch, jene letzten,
leisesten, welche selbst Herr von Kranz nicht kennt. Und da findet er
sich und erkennt sich wieder, langsam Zug für Zug, als ob er lange
fern gewesen wäre. Und in der ersten Freude schreibt er einen
Brief an Thalmann und strömt über von Dankbarkeit.
"Sie haben ganz recht", heißt es darin, "ich war ja so falsch und
phrasenhaft geworden. Jetzt sehe ich Alles ein und begreife Alles. Sie
haben mich geweckt aus einem bösen Traum. Wie soll ich Ihnen
danken dafür? Ich kann nicht anders, als indem ich Ihnen
diese Lieder, das Teuerste und Heimlichste, was ich besitze,
übersende -"
Und dann trägt Tragy Brief und Gedichte selber an die Adresse,
weil die Post ihm plötzlich unsicher scheint. Es ist spät,
und er muß im Dunkel vier Treppen aufwärts tasten bis zu dem
Atelier in der Giselastrasse, welches Thalmann bewohnt. Er trifft ihn
in dem lächerlich kleinen Loch, das eigentlich nur wie ein Rahmen
ist um das schräge ungeheure Nordfenster, schreibend. Eine alte
verbogene Lampe brennt hier, hoch in der Nacht, und hat nicht die
Kraft, die vielen Dinge, die ohne Sinn durcheinander liegen, zu
unterscheiden.
Thalmann hält sie dem Eintretenden vors Gesicht: "Ach, Sie
sind`s?" Und er schiebt ihm den eigenen Sessel hin. "Rauchen Sie?"
"Nein, danke."
"Kaffee kann ich Ihnen keinen mehr machen. Ich hab keinen Spiritus
mehr. Aber wenn Sie wollen, können Sie mittrinken." Und er stellt
einen alten henkellosen Topf zwischen sie beide.
Er steht mit verschränkten Armen da, rauchend, ruhig beobachtend,
vollkommen gleichgültig.
Tragy kann sich nicht entschließen.
"Sie wollen mir etwas sagen?" Thalmann trinkt einen Schluck Kaffee und
wischt sich mit dem Handrücken den Mund.
"Ich habe Ihnen etwas gebracht -", traut sich Ewald.
Der andere rührt sich nicht: "So? Legen Sie`s nur daher. Ich werds
gelegentlich mal durchsehn. Was ist es denn?"
"Ein Brief -", zögert Tragy -, "und - - aber vielleicht lesen Sie
ihn gleich, bitte."
Thalmann hat das Kuvert schon aufgerissen, so, nachlässig mit
einem Griff. Er behält die Zigarette zwischen den Zähnen und
liest flüchtig, blinzelnd durch den Rauch durch. Ewald ist
aufgestanden vor Erregung und wartet. Aber nichts verändert sich
in dem blassen Gesicht des Schwarzen, nur der Rauch scheint ihn heftig
zu stören. Am Ende nickt er: "Naja, und so weiter." Und zu
Tragy: "Ich will Ihnen mal gelegentlich schreiben, was ich von den
Dingen halte, reden mag ich nicht über sowas." Und er trinkt den
Kaffee aus auf einen Zug.
Tragy fällt auf den Sessel zurück und sitzt und will den
Tränen nicht nachgeben. Er fühlt auf seiner Stirne den Sturm,
der sich breit durch die Riesenscheiben hereinpreßt aus der Nacht.
Schweigen.
Dann fragt Thalmann: "Ist Ihnen kalt, Sie frösteln so?"
Ewald schüttelt den Kopf.
Und wieder Schweigen.
Dann und wann krachen die Scheiben leise, heimlich, wenn der Wind sich
anlehnt, wie Schollen vor dem Eisgang. Und endlich sagt Tragy: "Warum
behandeln Sie mich so?" Er sieht ungewöhnlich krank und traurig
aus.
Thalmann raucht eifrig: "Behandeln? Nennen Sie das behandeln? Sie sind
wirklich bescheiden. Ich zeige Ihnen doch deutlich genug, daß ich
gar nicht vorhabe, Sie irgendwie zu behandeln. Wenn Sie wollen,
daß ich mich zu Ihnen stelle, so oder so, müssen Sie sich
erst mal die Worte abgewöhnen, die großen Worte, die will
ich nicht."
"Aber wer sind Sie denn?" schreit Tragy und springt an den Schwarzen
heran, nah, als ob er ihm ins Gesicht schlagen wollte. Er zittert vor
Wut. "Wer gibt Ihnen denn das Recht mir Alles zu zertreten?"
Aber da rütteln schon die Tränen an seiner Stimme und
überwältigen sie und machen ihn blind, schwach, lösen
ihm die Fäuste.
Der andere drängt ihn sanft zu dem Stuhl zurück und wartet.
In einer Weile sieht er auf die Uhr und sagt: "Lassen Sie das jetzt.
Sie müssen nachhause, und ich muß schreiben, es ist
Mitternacht. Sie fragen wer ich bin: Ein Arbeiter bin ich, sehen Sie,
einer mit wunden Händen, ein Eindringling, einer, der die
Schönheit liebt und viel zu arm ist dazu. Einer, der fühlen
muß, daß man ihn haßt, um zu wissen, daß man
ihn nicht bemitleidet...Unsinn übrigens."
Und Tragy hebt die Augen, die heiß und trocken sind, und starrt
in die Lampe. Sie wird gleich auslöschen, denkt er und steht auf
und geht.
Thalmann leuchtet ihm die enge Treppe hinunter. Und es will Tragy
scheinen, daß sie kein Ende nimmt.
Tragy ist krank. Er kann nicht ausziehen
deshalb und behält bis zum ersten Januar seine Stube in der
Finkenstrasse. Er liegt auf dem unbequemen Sofa und denkt an diesen
Garten mit den weiten blassen Wiesen und den Hügeln, zu denen
still und schlicht die Birken hinansteigen. Wohin? In den Himmel. Und
plötzlich kommt es ihm unerhört komisch vor, sich eine Birke,
eine junge, dünne Birke anderswo zu denken, als im Himmel.
Gewiß, es gibt nur im Himmel Birken, gewiß. Was
sollten die denn unten? Man denke nur neben diesen breiten braunen
Stämmen - ebensogut könnte es Sterne geben an der
Zimmerdecke. Aber plötzlich fragt er: "Was pflücken Sie,
Jeanne?" "Sterne." Er überlegt einen Augenblick und sagt dann:
"Das ist gut, Jeanne, das ist sehr gut." Und er fühlt ein
Wohlbehagen im ganzen Körper, bis ein heftiger Schmerz im Kreuz es
zerstört. Ich hab mich zu sehr angestrengt, ich habe ja den ganzen
Vormittag Blumen gepflückt. Wie kann man auch? Vormittag?
Lächerlich: zwei Tage, vierzehn Tage, ooh überhaupt. Aber da
kommt ja Jeanne durch die Allee, durch diese lange Allee von Pappeln.
Endlich ist sie nahe. Mohn! sagt Ewald enttäuscht. Mohn! wer wird
denn Mohn holen? Ein Sturm, und alles ist fort. Sie werden sehen. Und
was dann? ja, was dann?...
Auf einmal setzt sich Tragy auf, hat ein dunkles Gefühl von einem
Garten und will sich besinnen: Wann war das doch, gestern? Und er
quält sich: vor einem Jahr? Und allmählich fällt ihm
ein, daß es ein Traum war, bloß ein Traum, also
überhaupt nicht. Das gibt ihm keine Ruhe. "Wann sind Träume?"
fragt er sich ganz laut. Und er erzählt Herrn von Kranz, der ihn
in der Dämmerung besucht, dieses: "Das Leben ist so weit und es
stehen doch nur ganz wenig Dinge drin, alle Ewigkeit eines. Das macht
bang und müd, diese Übergänge. Als Kind war ich einmal
in Italien. Ich weiß nicht viel davon. Aber wenn man dort auf dem
Lande einen Bauer fragt unterwegs: `Wie weit ist es bis ins Dorf?` -
`un` mezz` ora`, sagt er. Und der Nächste dasselbe und der Dritte
auch, wie auf Verabredung. Und man geht den ganzen Tag und ist immer
noch nicht im Dorf. So ist es im Leben. Aber im Traum ist Alles ganz
nah. Da hat man gar keine Angst. Wir sind eigentlich für den Traum
gemacht, wir haben gar nicht die Organe für das Leben, aber wir
sind eben Fische, die durchaus fliegen wollen. Was ist da zu machen?"
Herr von Kranz sieht das ganz genau ein und stimmt zu: "Famos", lacht
er, "wirklich ganz famos. Das müssen Sie in Versen sagen, es
verlohnt sich. Das ist ganz Ihre Eigenart -." Dann geht er bald; er
fühlt sich nicht behaglich bei solchen Gesprächen und kommt
immer seltener. Tragy ist ihm dankbar dafür. Er lebt jetzt
wirklich im Traum und wird nicht gerne gestört; denn dann
muß er den traurigen grauen Tag draußen anschauen und die
fremde, feuchte Stube, die nicht warm werden will, und ist doch so
verwöhnt jetzt durch Farben und Feste. Nur die Nächte sind
schlecht und schrecklich. Da kommen ganz alte Qualen, die aus den
vielen Fiebernächten der Kindheit stammen, über ihn und
machen ihn matt: Stein ist unter seinen Gliedern, und in seine
tastenden Hände drängt sich grauer Granit, kalt, hart,
rücksichtslos. Sein armer heißer Körper bohrt sich in
diesen Felsen, und seine Füße sind Wurzeln und saugen den
Frost auf, der langsam durch die erstarrenden Adern steigt... Oder: das
mit dem Fenster. Ein kleines Fenster hoch hinter dem Ofen. Hoch hinter
dem Ofen ein kleines Fenster. Oh, wie man es auch sagt, es kann keiner
begreifen, wie furchtbar diese Fenster ist. Hinter dem Ofen ein
Fenster, ich bitte. Ist es nicht entsetzlich zu denken, daß
dahinter noch etwas ist. Eine Kammer? Ein Saal? Ein Garten? Wer
weiß das? -"Wenn das
nicht wiederkommt, Herr Doktor."
"Wir sind nervös -", lächelt der Arzt und ist im allgemeinen
ganz zufrieden. "Wir dürfen uns nicht unnütz aufregen. Es ist
ein kleines Fenster, mit dem werden wir schon fertig werden; und dann
kräftig essen -"
Ewald lächelt hinter dem alten Herrn her. Er fühlt sich so
krank, so von ganzem Herzen krank, und es paßt Alles so gut dazu.
Diese trüben Traumtage, die sich so schwer an die Scheiben lehnen,
und diese Stube, in der die Dämmerung wie alter Staub auf allen
Dingen bleibt, und dieser feine welke Duft, der aus den Möbeln und
aus den Dielen strömt, immer und immer.
Und manchmal läuten große Glocken irgendwo, die er
früher nie gehört hat, und dann faltet er die Hände
über der Brust und schließt die Augen und träumt,
daß Kerzen brennen zu seinen Häupten, sieben hohe Kerzen mit
ruhigen, roten Flammen, die wie Blüten stehn in dieser festlichen
Traurigkeit.
Aber der alte Herr hat recht: Das Fieber vergeht, und Tragy trifft auf
einmal das Träumen nicht mehr. Die ausgeruhte neue Kraft
rührt sich ungeduldig in seinen Gliedern und treibt ihn aus dem
Bett, fast gegen seinen Willen. Er spielt noch eine Weile Kranksein,
aber gelegentlich findet er sich lächelnd, und aus keinem andern
Grund, als weil ein Zufall den Wintertag einen Augenblick in die Sonne
hält, so daß er glitzert und flimmert auf allen Seiten. Und
das ist ein Symptom, dieses Lächeln.
Er soll noch nicht an die Luft, und so sitzt er denn in der Stube und
wartet. Jetzt ist Alles geeignet, ihm Freude zu machen; jeder Laut, der
von draußen kommt, wird wie ein fahrender Sänger empfangen
und muß erzählen. Und einen Brief erhofft Tragy, irgendeinen
Brief. Und, daß Herr von Kranz einmal anpocht. Aber Tage gehen
hin. Es schneit draußen ein, und der Lärm verliert sich im
tiefen Schnee. Kein Brief, kein Besuch. Und die Abende sind ohne Ende.
Tragy kommt sich vor wie einer, den man vergessen hat, und er beginnt
unwillkürlich sich zu rühren, zu rufen, sich bemerkbar zu
machen. Er schreibt nachhause, an Herrn von Kranz, an alle, die ihm
zufällig bekannt sind, ja er sendet sogar ein paar aus der Heimat
mitgebrachte Anempfehlungsbriefe aus, die er bislang nicht benutzt hat,
und erwartet, man werde mit Einladungen erwidern. Umsonst. Er bleibt
vergessen. Er mag rufen und Zeichen geben. Seine Stimme reicht nirgends
hin.
Und gerade in diesen Tagen ist sein Bedürfnis nach Teilnahme so
groß; es wächst in ihm fort und wird ein ungestümer
trockener Durst, der ihn nicht demütigt, sondern ihn bitter und
trotzig macht. Er überlegt plötzlich, ob er nicht das, was er
umsonst erbittet von aller Welt, fordern kann von irgendwem, wie ein
Recht, wie eine alte Schuld, die man einzieht mit allen Mitteln,
rücksichtslos. Und er verlangt von seiner Mutter: "Komm, gib mir,
was mir gehört."
Das wird ein langer, langer Brief, und Ewald schreibt weit in die Nacht
hinein, immer rascher und mit immer heißeren Wangen. Er hat damit
begonnen, eine Pflicht zu fordern und, ehe er es weiß, bittet er
um eine Gnade, um ein Geschenk, um Wärme und Zärtlichkeit.
"Noch ist es Zeit -", schreibt er, "noch bin ich weich und kann wie
Wachs sein in Deinen Händen. Nimm mich, gib mir eine Form, mach
mich fertig..."
Es ist ein Schrei nach Mütterlichkeit, der weit über ein Weib
hinausreicht, bis zu jener ersten Liebe hin, in welcher der
Frühling froh und sorglos wird. Diese Worte gehen niemandem mehr
entgegen, mit ausgebreiteten Armen stürmen sie in die Sonne
hinein.
- Und so ist es gar nicht erstaunlich, wenn Tragy zum Schluß
erkennt, daß es niemanden gibt, dem er diesen
Brief schicken
kann, und daß niemand ihn verstünde, am wenigsten diese
schlanke nervöse Dame. Sie ist ja stolz, daß man sie
`Fräulein` nennt in der Fremde, denkt Ewald und weiß: Man
muß den Brief rasch verbrennen.
Er wartet.
Aber der Brief verbrennt ganz langsam in lauter kleinen zitternden
Flammen.
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