(1894)
Die Lokomotive
schmetterte einen schier endlosen Pfiff in die blaue
Luft des schwülen, lichtflimmernden Augustmittags. - Pierre
saß mit seiner Mutter in einem Abteil zweiter Klasse. Die Mutter
eine kleine, bewegliche Frau in schlichtem, schwarzem Tuchkleide, mit
einem blassen, guten Gesicht und erloschenen trüben Augen, -
Offizierswitwe. Ihr Sohn ein kaum elfjähriger Knirps in der
Uniform der Militär-Erziehungsanstalten.
«Da sind wir», sagte Pierre laut und freudig und hob sein
schlichtes graues Kofferchen aus dem Garnnetz. In großen,
steifen, ärarischen Lettern stand darauf zu lesen: Pierre
Dumont. I. Jahrgang No 20. Wie das klang!
Pierre stand indessen am Fenster und schaute in die Gegend hinaus. Sie
waren hart vor der Station. Der Zug fuhr langsamer und polterte
über die Wechsel. Draußen glitten grüne Grasdämme,
weite Flächen und winzige Häuschen vorüber, an deren
Türen riesige Sonnenblumen mit ihren gelben Heiligenscheinen als
Wächter standen. Die Türen aber waren so klein, daß
Pierre dachte, er müßte sich wohl gar auch bücken, um
eintreten zu können. - Da verloren sich schon die Häuschen. -
Schwarze, rauchige Magazine kamen mit vielfach geteilten, blinden
Schreiben, die Bahn wurde immer breiter, ein Geleise wuchs neben dem
andern hervor, und endlich fuhren sie mit lautem Brausen und Zischen in
die Bahnhofhalle des kleinen Städtchens ein. -
«Wir wollen heute noch recht, recht lustig sein, Mama»,
flüsterte der Kleine und umfaßte die erschrockene Frau mit
stürmischem Ungestüm. - Dann hob er den Koffer heraus und war
seinem Mütterchen beim Aussteigen behilflich. Mit stolzer Miene
reichte er ihr dann den Arm, den Frau Dumont, obwohl sie nicht
groß war, nur insoweit annehmen konnte, daß sie ihrem
Kavalier die linke Hand unter die Achsel schob. - Ein Diener hatte sich
des Koffers bemächtigt. - So wanderten sie denn durch den
glutheißen Mittag die staubige Straße dem Gasthofe zu. -
«Was wollen wir speisen, Mutter?»
«Was Du willst, Liebling!»
Und jetzt erörterte Pierre alle seine Lieblingsspeisen, mit denen
man ihn zuhause während der zweimonatlichen Ferien gefüttert
hatte. Ob das und jenes hier auch zu haben wäre. Und man sprach
von der Suppe bis zum Apfelkuchen mit der Crêmehaube alles mit
lukullischer Genauigkeit durch. - Der kleine Soldat war voll des
Scherzes; diese Lieblingsgerichte schienen die Wirbelsäule seines
Lebens zu bilden, an deren Grundstock sich erst alle anderen Ereignisse
anfügten. Denn immer wieder begann er: Weißt du, als wir das
und das zum letztenmale aßen, da war dies und jenes geschehen.
Freilich kam ihm dabei auch in den Sinn, daß er ja heute für
vier Monate zum letzten Mal solcher Genüsse sich erfreuen
würde, - und dann ward er ein wenig still und seufzte ganz leise.
- Aber der sonnige, fröhliche Sommertag verfehlte seine Wirkung
auf das Kindergemüt nicht, und er schwatzte bald wieder in
übermütiger Weise fort und durchdachte die schönen Tage
des schwindenden Urlaubs. Jetzt war es zwei Uhr mittags. Um sieben Uhr
mußte er in der Kaserne sein - also noch fünf Stunden. -
Fünfmal also mußte der große Zeiger noch rund ums
Zifferblatt laufen - - das ist ja noch sehr, sehr lange. -
Das Essen war vorüber. Pierre hatte tüchtig zugesprochen. Nur
als die Mutter ihm den roten Wein einschenkte, mit nassen Augen ein
wenig das Glas hob und ihn bedeutungsvoll anschaute, da blieb ihm der
Bissen in der Kehle stecken. - Sein Blick wanderte durchs Zimmer. Auf
dem Zifferblatt blieb er haften: es war drei Uhr. Viermal mußte
der Zeiger... dachte er. Das gab ihm Mut. Er hob seinen Kelch und
stieß etwas heftig an. «Auf recht frohes Wiedersehen,
Mütterchen!» Seine Stimme klang hart und verändert. Und
rasch küßte er, als fürchtete er wieder weich zu
werden, die kleine Frau auf die bleiche Stirne.
Nach dem Essen gingen sie selbander am Flußufer auf und nieder.
Wenig Leute begegneten ihnen. Sie konnten ganz ungestört
miteinander sprechen. Aber das Gespräch stockte oft. Pierre trug
den Kopf hoch, hielt beide Hände in den Hosentaschen und schaute
mit großen, blauen Augen geistesabwesend hinüber über
den glastenden Fluß auf die violetten Hänge des jenseitigen
Ufers. Frau Dumont aber bemerkte, wie in der Allee, welche sie
durchschritten, die Blätter schon gelb und matt wurden. Hie und da
lagen sogar schon welche auf dem Wege, als eines unter ihrem Fuße
knirschte, erschrak sie.
«Es wird Herbst», sagte sie leise.
«Ja», murmelte Pierre zwischen den Zähnen.
»Aber wir haben einen schönen Sommer gehabt -» fuhr
Frau Dumont fast verlegen fort.
Ihr Sohn antwortete nicht.
«Mutter», er wandte ihr das Gesicht nicht zu, während
er so sprach, «Mutter, der lieben Julie sagst Du meine
Grüße - nichtwahr.» - Er verstummte und ward rot.
Die Mutter lächelte: «Du kannst dich darauf verlassen, mein
Pierre.». Julie war ein Cousinchen, für das der kleine
Kavalier schwärmte. Er hatte ihr oft Fensterpromenaden gemacht,
hatte mit ihr Ball gespielt, ihr Blumen geschenkt und trug - das
wußte nicht einmal Frau Dumont - Cousinchens Bild in der linken
Brusttasche des Waffenrockes.
«Julie kommt ja gewiß auch außer Haus», meinte
die Mutter, froh, den Kleinen auf dieses Thema gebracht zu haben.
«Sie kommt zu den Englischen Fräuleins oder
Sacrecoeur......» Die Witwe kannte ihren Pierre. Der Umstand,
daß die Angebetete ein ähnliches Los ertragen sollte,
tröstete ihn, und er machte sich im Stillen Vorwürfe
über seine Kleinmütigkeit. Mit kindischer Phantasie
übersprang er die bevorstehenden Schulmonate:
«Aber wenn ich zu Weihnachten nach Hause komme, wird Julie doch
auch da sein!?»
«Gewiß.-»
«Und du wirst sie einladen, bestes Mamachen, am Weihnachtsabend,
ja?»
«Sie hat mir schon im vorhinein zugesagt und mir verprechen
müssen, daß sie sich recht lange bei ihrer Mutter
ausbittet.»
«Herrlich!» jubelte der Knabe, und seine Augen
glänzten.
«Dir werd ich einen schönen Christbaum vorrichten, und wenn
du sehr brav bist.....»
«Am Ende.... die neue Uniform!»
«Wer weiß, wer weiß -« lächelte die kleine
Frau.
«Herzensmütterchen!» rief der junge Held und scheute
sich nicht, mitten auf dem Promenadenweg Frau Dumont stürmisch zu
küssen, - «du bist so gut!....»
«Sei nur fein brav, Pierre!» sagte die Mutter ernst.
«Und wie! Lernen will ich....»
«Mathematik, weißt du, das geht dir schwer!»
«Es wird Alles ganz trefflich werden, du wirst sehen.»
«Und laß du dich nicht verkühlst, jetzt kommt die
kältere Jahreszeit, - zieh dich nur immer warm an. - Nachts steck
dir die Decke wohl ein, damit du dich nicht abdeckst!»
«Ohne Sorge, ohne Sorge!» Und Pierre begann wieder von den
Begebnissen des Urlaubs zu reden. Da gabs so viel des Drolligen und
Spaßhaften, daß beide, Mutter und Sohn, herzhaft
lachten.... Plätzlich fuhr er zusammen. Vom Kirchturm wogten volle
Glockentöne.
«Sie läuten sechs», sagte er und versuchte zu
lächeln.
«Komm zum Zuckerbäcker.»
«Ja, dort gibt es die guten Crêmerollen. Zum letzten Mal
aß ich sie, als wir den Ausflug machten mit Julie...»
Pierre saß auf dem dünnbeinigen Rohstühlchen im
Gewölbe des Bäckers und kaute mit runden Backen. - Er hatte
eigentlich schon genug, und nach manchem Bissen mußte er tief
Atem holen; - aber es war ja zum letzten Mal - und er aß fort.
«Es freut mich, daß es dir schmeckt, Kind», sagte
Frau Dumont, die an einer Tasse Kaffe nippte.
Pierre aber aß fort. -
Einmal schlugs vom Turm. «Halb sieben», murmelte der
Urlauber und seufzte. Der Magen war ihm furchtbar schwer. - Nun, sie
würden ja jetzt noch gehen...
Und sie gingen. - Der Augustabend war lau, und ein wohltuendes
Lüftchen strich in den Bäumen der Allee.
«Ist dir nicht kühl, Mutter?» fragte der Kleine
gedankenlos.
«Mach dir keine Sorgen, Liebling.»
«Was wird denn Belly machen?» Belly war ein kleiner Rattler.
«Ich hab ihn der Magd anbefohlen, sie gibt ihm sein
gewöhnliches Fressen und führt ihn spazieren...»
«Sag dem Belly, ich laß ihn grüßen, - er soll
schön brav sein...» Er versuchte zu scherzen, aber er brach
jäh ab. -
«Hast Du Alles beisammen, Pierre?» Fern tauchte schon die
eintönige graue Front der Kaserne auf. «Dein
Certifikat?»
«Alles, Mutter!»
«Mußt du dich noch melden heute?»
«Ja, gleich.»
«Und morgen hast du wieder Schule?»
«Ja!»
«Und du schreibst mir?»
«Du auch, Mamachen - bitte! - Gleich wie du ankommst.»
«Natürlich, liebes Kind.»
«Ich glaube, der Brief dauert doch immer zwei Tage.»
Die Mutter konnte nicht reden; es schnürte ihr die Kehle. Jetzt
waren sie dicht am Portal!
«Dank dir, Mama, für den schönen Tag.» Dem armen
Kleinen war elend zu Mute; offenbar hatte er zu viel gegessen. Er hatte
heftige Magenschmerzen, und die Füße zitterten ihm. -
«Du bist blaß -» sagte Frau Dumont.
«Nicht doch.» Das war eine arge Lüge, er wußte
es.
Wie es ihm zu Kopf stieg! Er konnte sich kaum auf den Beinen halten.
«Mir ist wirklich......» Da schlug es sieben!
Sie lagen sich beide in den Armen und weinten.
«Mein Kind!» schluchzte die arme Frau.
«Mama, ich bin ja in hundertzwanzig Tagen...»
«Sei brav, bleib gesund.....» und mit zitternder Hand
machte sie dem Kleinen das Kreuzeszeichen....
Pierre aber riß sich los: «- Ich muß laufen, Mutter,
sonst bekomm ich Strafe », stammelte er, «...und schreib
mir, Mutter, und Julie, weißt du, und Belly -»
Noch ein Kuß, und fort war er.
«Mein Gott!» - Er vernahm es nicht mehr. -
Am Tore schaute er sich noch einmal um. Er sah die kleine schwarze
Gestalt dort zwischen den verdämmernden Bäumen - und
schluckte hastig die Tränen hinunter....
Aber es war ihm doch sehr schlecht.
Er taumelte in den breiten Flur hinein... er war so müde....
«Dumont!» rief eine brutale Stimme.
Der Unteroffizier von der Torwache stand vor ihm.
«Dumont! Zum Teufel, wissen Sie nicht, daß Sie sich zu
melden haben?...»
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