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von lilaloufan » 22. Jun 2006, 23:08
Liebe Tonika, bei mir war das so: Ich habe vor Urzeiten eine Vertonung von: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“ chorisch einstudiert und wusste damals über den Verfasser dieser Zeilen nichts - aber die Worte trafen auf ein Motiv, „als wärs ein Stück von mir“. Jahre später erst, während meiner Beschäftigung mit dem mutigen, sinnenvollen und überdies gedankenklaren Leben einer Persönlichkeit, zu deren reichem Freundeskreis in intimer Weise auch Rilke gehörte, fiel mir auf, dass dieser Liedtext nicht aus einer anonymen Weisheitstradition, sondern von einem realen Menschen stammte, einem mit Schwächen, Fehlschlägen, Brüchen und Marotten geplagten Menschen, der eine Säuglingszeit hatte und einen Tod und ein Schicksal. Was musste das für ein Mensch sein, dass diese Frau, die in so unbegreiflicher Weite und Anziehungskraft mit schier allen bedeutsamen Kulturschaffenden ihres Zeitalters, über die Grenzen von Kaiser- und Zarenreichen hin, Verkehr pflegte, sich mit ihm einließ, der doch nichts beitrug als stille Worte in wortreicher Zeit? Da erst begann mir, dem mit dem ehrfürchtigen Aufblick zu den bronzenen Denkmälern der Dichterfürsten Aufgewachsenen, seine - meiner eigenen Zeit auf zeitlos gültige Art viel nähere - Größe aufzugehen.
So kann ich dir im Grunde nur die einfache Antwort geben: Damals konnte ich dieses Gedicht für sich bestehen lassen, musste mich nicht womöglich erst mit der moralischen, politischen, feministisch legitimierten Integrität der Persönlichkeit seines Schöpfers kritisch auseinandersetzen. Rainer Maria war ein merkwürdiger Name, Rilke irgendein Dichter, Poetik sowieso von der Schule vermiest - aber dieses Stück Poesie brachte etwas in mir zum Klingen, auch ohne die Noten. Und ich glaube, das war und ist auch berechtigt, denn der Dichter, der wirkliche, nicht der Showmaster und nicht der reimende Schwärmer, will nicht Aufmerksamkeit für sich - aber er weiß, er muss sie vertragen können: Deshalb dürfen wir uns auch für seine Biographie interessieren, sie wird öffentlich.
Ich will dein wirkliches Problem nicht wegreden, aber ich habe nicht verstanden, wodurch es entsteht: Ich denke, es kann doch nur dann ein Problem auftreten, wenn ich an der Golddeckung des Werks in den Taten und Tugenden seines Schöpfers Zweifel hege. Nehmen wir an, Goebbels wäre in einer der jedem Schicksal zur Umkehrchance angebotenen Sternstunden ein bewegendes, gelungenes Gedicht zugefallen (wenn du meinst, das könne es nicht geben, so liegt mein Mangel an testierenden Beispielen nur daran, dass das Metanoëte fast ausnahmslos verhallt, das goldene Kästchen verspielt wird. Aber immerhin: Wie ist es mit den Paulus-Briefen?); würdest du Goebbels rezitieren, dürften wir das überhaupt? In der Richtung sähe ich jedenfalls einen Zwiespalt und wüsste wenig zu raten – aber ein Problem dieser Art kannst du doch mit Rilke nicht ernstlich haben?
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«