Fritz Mackensen
Irgendwo wird jemand geboren. In einer Familie ist
ein Tag der Unruhe und Aufregung, einige Nachbaren
nehmen teil, einige Freunde freuen sich mit dem
Vater, und es findet sich wohl auch jemand in der
Verwandtschaft, der an der Wiege steht und denkt:
»Das ist also ein Leben. Der erste Buchstabe eines
unbekannten Alphabetes. Aus Alphabeten macht man
Worte, und mit Worten ist das so eine Sache: es giebt
langweilige, gewöhnliche, freudige, traurige, leicht-
sinnige, - es giebt auch unsterbliche Worte. Wer
weiß...« Aber solche Gedanken haben keine Bedeu-
tung. Das Kind wächst heran, sich selber fremd, allen
fremd, etwas Unbestimmtes, Tiefes, Dunkles. Es geht
von Hand zu Hand, aus der Hand der Mutter in die
des Vaters, der giebt es dem ersten Lehrer, dieser dem
zweiten - bis es auf einmal in einer Hand sich verän-
dert. Auf der dunklen, unscheinbaren Oberfläche zeigt
sich ein kleiner, heller, leuchtender Punkt, der wächst,
deutlicher, glänzender wird... Und um diesen Punkt
handelt es sich nun. Das erkannte der gute Lehrer
Büttger, als er auf dem Gymnasium zu Holzminden
seinen Schüler, Fritz Mackensen, eifrig zeichnen sah.
Er unterstützte ihn darin; es war Talent in dem Jun-
gen, und der Blick, mit dem er die Dinge ansah, war
ungewöhnlich sicher, hell und liebevoll. Er sollte
nach Düsseldorf.
Der Vater stand diesem Plane freundlich gegen-
über, denn er verstand selbst zu zeichnen und fühlte
irgendwie das Vorhandensein der Kunst »in der
Natur«, wenn er an frühen Morgen oder an Sonntag-
abenden durch die Felder ging. In Düsseldorf kam der
junge Mackensen zu Peter Janssen und - der leuch-
tende Punkt vergrößerte sich. Denn obwohl Janssen
Historienmaler war, legte er bei seinen Schülern das
größte Gewicht auf das Zeichnen und wenn schon der
Trieb nach einer sicheren Erfassung der Linie in dem
jungen Menschen lag, so wurde er jetzt zu einer be-
wußten Energie, die ihn dauernd beherrschte. Freilich
was half ihm diese Energie, als er im Jahre 1888,
zweiundzwanzig Jahre alt, zu Fritz August Kaulbach
kam, in dessen Münchner Atelier er, als eine Art Ge-
hülfe, Beschäftigung fand. Oder besser: nicht finden
konnte. Denn die Welt Kaulbachs war allzuweit ent-
fernt von jener Welt, in die Mackensen schon einen
Blick getan hatte, als er im Jahre 1884 zuerst Worps-
wede sah. Es war ein kurzer Ferienbesuch, den er, an-
geregt durch die Erzählungen eines jungen Mädchens,
das hier zu Hause war, in dem entlegenen, aller Welt
unbekannten Moordorf machte, und er mochte selbst
damals nicht ganz die Bedeutung dieses Besuches er-
kannt haben. Aber ein anderer kam er nach München
zurück, bereits ganz erfüllt von der Idee eines großen
Bildes, das gemalt werden mußte und das niemand
malen konnte, als er. Nicht die Idee allein war da; er
hatte in Worpswede und im benachbarten Schlußdorf
Studien für das Bild gemacht, und mit diesen Blättern
trat er eines Tages bei Fritz August Kaulbach ein.
Dessen Erstaunen mag groß gewesen sein. Er betrach-
tete sie aufmerksam und sagte schließlich, daß er es
sich nie vergeben würde, jemanden aus seiner Weise
herauszudrängen. Es war also schon eine »Weise« da.
Der leuchtende Punkt hatte sich zur spiegelnden Fla-
che erweitert, in welcher sich schon ein Stück Welt
eigenartig wiederholte. Kaulbach empfahl seinen Ge-
hülfen an Dietz und dort arbeitete Mackensen nicht
weniger eifrig, aber ohne rechte Befriedigung. Er sah
sich in München um, er verbrachte ganze Tage vor
Böcklin und Feuerbach in der stillen Schack-Galerie
und in der Alten Pinakothek vor Rembrandts Grable-
gung, die er über alle Bilder stellte. Neben ihr war
ihm nur noch Tizians Karl V., diese große Offenba-
rung eines Malers und Menschenforschers, unvergeß-
lich. Und wie es bezeichnend für ihn ist, daß er in der
Tragödie dieses Kaiserbildes die Macht des Meisters
bewunderte, der sie schreiben konnte, so ist es ande-
rerseits auch nicht unwichtig zu erwähnen, daß er sich
damals aus der Bibliothek alles verschaffte, was über
den großen Bauernkrieg geschrieben worden ist. Es
ist, als hätte er schon damals gesucht, sich den Men-
schen und besonders jene ernsten und gramvollen
Bauerngesichter, die er in Worpswede gesehen hatte,
zu erklären. Sie beschäftigten ihn sehr, aber da sein
Auge auch sonst aller Wirklichkeit willig offen war,
traten sie noch vorübergehend zurück vor den Ein-
drücken, die die Stadt und die Natur um ihn her auf
ihn machten. Vielleicht wäre er noch länger in Mün-
chen geblieben, wenn ihm die Zustande in der Dietz-
Schule nicht so unleidlich geworden wären. Da hatte
sich eine internationale blasierte Bohême zusammen-
gefunden, junge Leute, die ungemein viel Zeit hatten
und keine Ursache, die Arbeit ernst zu nehmen.
Mackensen hatte keine Zeit. Er, der schon seinen Weg
ahnte, wollte über die Vorbereitungen der Schule
rasch hinwegkommen, gewissenhaft, durch Arbeit,
ohne etwas zu überspringen. Wenn ein interessantes
Modell gestellt war, dann wollte er mit allen Kräften
arbeiten, sich vertiefen, allein sein. Er empfand es als
ein Glück, vor der Schönheit dieses Körpers zu stehen
und er begriff nicht die rohen und albernen Witze der
Anderen, die fortwährenden Tumulte und Tändeleien,
welche die Arbeit unmöglich machten. Dieses Beneh-
men störte ihn nicht allein, es kränkte ihn. Diesem
jungen Mann, der schon damals so streng und ener-
gisch dreinschauen konnte, kamen die Tränen nahe,
wenn er diese Unflätigkeiten sah, an einer Stätte, wo
er ernste, gleichbegeisterte Freunde zu finden gehofft
hatte. War die Kunst nicht etwas Erhabenes und Hei-
liges? Er ließ sich nicht irre machen. Er glaubte an sie
und er zweifelte keinen Augenblick an ihrer Allmacht.
Einmal reist er, vierter Klasse, von Düsseldorf nach
Holzminden. Seinen Abteil erfüllt das Stoßen und
Schreien von fünf, sechs betrunkenen Schustergesel-
len, die, nachdem sie sich gegenseitig ausgeprügelt
hatten, endlich den fremden jungen Menschen zum
Ziel ihrer gemeinsamen Angriffe machen wollen.
»Nun hatte ich zufällig« - erzählt Mackensen in
einem Briefe - »Hefte der ›Kunst für Alle‹ bei mir.
Schnell schlug ich Rembrandts Selbstporträt auf, vor
dessen Kraft alles scheu zurückwich und mich wie ein
Wunderkind anstarrte.«
Die Zeit in München verging. Äußerlich schien sie
ja so gut wie verloren zu sein. Aber es giebt so eine
Periode im Leben junger Leute, wo es fast gleichgül-
tig ist, was sie tun. Manet hat sechs Jahre bei Couture
gearbeitet; es hat ihm nicht geschadet. Er brauchte
sich gar nicht dabei und hatte Zeit innerlich klar zu
werden. So war es bei Mackensen auch. Jedesmal,
wenn er vor der Natur steht, merkt man, wie hell es
schon in ihm geworden ist, wie gut und ruhig er schon
zu sehen versteht, wie genau er schon weiß, was er
will. »Ich stehe vor meinem Motiv«, schreibt er ein-
mal von Gerolfing aus. »Noch dämmerts. Tiefe,
wunderbare Farben, die feinsten Töne. Noch ist es
fast zu dunkel um zu arbeiten. Ich sitze da und
schaue. Sehe in der Dämmerung einen fein über-
schnittenen Weg. Niederer Stall rechts. Ein Baum tief
in der Morgenluft, weiter zurück ein Bretter- und Lat-
tenzaun. Links eine stark verkürzte Wand und fein
überschnittene Häuser mit tief blau-roten Dächern.
Vor mir, breit vor dem Dorfwege, zwei hohe Dächer;
aus dem einen Schornstein spielt feiner Rauch in die
Luft und spielt vor einer einfachen Kirchturmspitze.
Die Sonne ist aufgegangen. Hinter den Häusern liegt
ein unendlicher Glanz. Fein silbern leuchtet die Luft,
strahlt herüber in die Gasse, spielt zwischen den Dä-
chern, an den Giebeln. Nach und nach stiehlt sich die-
ser Glanz an den Giebeln herunter, flimmert auf den
Plankenrändern, gleitet herab auf den Weg. Das junge
Grün, welches, von den Fußtritten der Menschen ver-
schont, sich leise an die Wände schmiegt, leuchtet wie
ich weiß selber nicht wie.... Und nun die Frau, die des
Weges kommt: Ein tieffarbiges Kleid, ein schwarzes
Kopftuch, in der zitternden alten Hand ein Gebetbuch
und einen Rosenkranz. Gebeugt, langsam kommt sie
daher: ich habe genug Zeit sie zu beobachten. Wie
merkwürdig der junge Morgen diese Alte um-
strahlt....«
Turgenieff, hatte er diese Zeilen zu Gesicht bekom-
men, würde ausgerufen haben: Das muß ein Jäger
geschrieben haben! Und er hätte nicht unrecht gehabt,
denn Mackensen ist ein Freund des Jagens. Man muß
ihn eine Birkhahnbalz beschreiben hören. Wie da aus
der Dämmerung und den Geräuschen dieses Liebe-
stanzes die Sonne aufsteigt, alles überstrahlend,
gleichsam übertönend mit ihrer Herrlichkeit, das hat
noch kaum jemand so einfach und überzeugend zu
sagen gewußt. Freilich es leuchtet aus allen diesen
Worten, mehr noch als der Jäger, der Maler hervor,
wie ja auch Turgenieff in seiner unsterblichen Schil-
derung des Sonnenunterganges, die mit dem Satze
»Das ist der Anstand -« schließt, immer noch mehr
Dichter als Waidmann ist. Bei Mackensen steht hinter
dem Jagen und hinter dem Malen ein gemeinsames
Gefühl, das, klar wie ein Quell, aus seinem Herzen
bricht und sein ganzes Wesen mit der Frische eines
Frühlingsmorgens durchtränkt: seine große, kindliche
Liebe zur Natur. Er liebt sie mit einer schwärmeri-
schen Ausschließlichkeit, die man fast Fanatismus
nennen könnte, wenn in diesem Begriff nicht etwas
von Blindheit läge. Und blind ist diese Liebe nicht, so
wenig jemals echte Liebe blind war. Sie ist sehend,
scharfäugig, tiefschauend.
In seinen Landschaften ist manchmal dieses Sehen
ausgeprägt Es ist als ob die Ränder aller Dinge sich
daran scharf geschliffen hätten. Lieben heißt für ihn
schauen, in ein Land, in ein Herz, in ein Auge
schauen. Er ist einer von den Menschen, die die
Augen schließen, wo sie nicht lieben können. Daß er
nicht grübelt und nicht kritisiert, hängt damit zusam-
men. Sein Urteil ist: schauen oder abwenden. Und vor
der Natur giebt es kein Urteil; sie hat immer recht. ». .
. Darum sieh sie fleißig an, richte dich danach und
geh nicht von der Natur in deinem Gutdünken, daß du
wollest meinen, das besser von dir selbst zu finden....
Darum nimm dir nimmer mehr vor, daß du etwas bes-
ser mögest oder wollest machen, denn es Gott in sei-
ner erschaffenen Natur zu wirken Kraft gegeben hat,
denn dein Vermögen ist kraftlos gegen Gottes Ge-
schöpf.« In diesen schlichten Worten Dürers liegt sein
Gesetz und sein Glauben. Wie oft hat er es sich selbst
und anderen gesagt: »Meine Empfindung bleibt
immer die gleiche. Sie kann sich nur im bewundern-
den Anschauen der Natur weiterbilden.« Dieses »be-
wundernde Anschauen« ist der Grundzug seines Le-
bens. Dieses »bewundernde Anschauen« wandte er
schon 1884 auf das Land an, das er nicht vergessen
konnte und zu dem er immer wieder zurückkam In
diesem »bewundernden Anschauen« wuchsen die
Ziele, die er sich gestellt hatte, und die Freunde, die
ihn umgaben; sie strömten die Kraft von Idealen aus,
die er selbst ihnen verlieh. So bekam die Freundschaft
eine große Bedeutung für ihn. Gerne allein, aber vor
Vereinsamung bang, suchte er immer nach
Gleichgesinnten und fand sie. Mit einem lieben Ge-
nossen, dem Maler Otto Modersohn, kam er im Juni
1889 wieder nach Worpswede. Ein anderer sollte
nachkommen. Man wartete auf ihn; aber statt seiner
traf, in den ersten Tagen schon, sein gemeinsamer Ab-
schiedsbrief an die Freunde ein: Alexander Hecking,
der Bildhauer, von dem Mackensen so Großes erwar-
tete, hatte sich im Münchner Hofgarten erschossen.
Sein letzter Wille sicherte Mackensen die Möglich-
keit, etwas unbekümmerter zu arbeiten. Mit diesem
erschütternden Ereignisse, dem die Freunde verstört
und hülflos gegenüberstanden, setzte die Worpsweder
Lernzeit ein. Es war, als sollten sie noch einmal auf
den Ernst des Berufes hingewiesen werden, dem Ver-
zweiflung und Tod so nahe ist, solange er nicht das
ganze Leben durchdrungen hat. Sie hätten dieses
schmerzlichen Aufrufes kaum bedurft.
Sie gingen an die Arbeit, einer dem anderen hel-
fend, einander begreifend, wetteifernd miteinander.
Bald kam als dritter Hans am Ende hinzu. Und sie
fühlten alle, daß dies der Anfang eines neuen Lebens
war, und daß sie ganz ebenso wie jene Kolonisten, die
aus dem Knechtdienste um der Freiheit willen her-
übergekommen waren, sich ein neues Land voll Hei-
mat und Zukunft urbar machten. Der Sommer verging
mit Schauen und Staunen. Unerwartet schnell war der
Nachmittag da, an dem man zum letzten Mal die
liebgewordenen Wege durchs Moor ging, ein fortwäh-
rendes Abschiednehmen im Blick, der sich schwer
trennen konnte. Niemand sprach. Endlich auf einer
Brücke stand man still. Unten lag der Schiffgraben
mit seinem schweren farbigen Wasser und in seiner
Tiefe klang in reichen Spiegelbildern die Herrlichkeit
des Herbstes und des Himmels an. Zusammengefaßt
in dem engen Rahmen dieser Ufer, gleichmäßig über-
zogen von den dunklen Lasuren der ruhigen Wasser-
fläche, schien noch einmal alles Glück, das die letzten
Wochen gebracht hatten, in einem Bilde vereint zu
sein. Es wirkte so stark, daß in den Dreien, die da
schweigsam und traurig beisammenstanden, fast
gleichzeitig der Entschluß reifte, nicht mehr an die
Akademie zu gehen und den Winter über in Worps-
wede zu bleiben. Mackensen, der für einige Tage nach
Düsseldorf gereist war, schrieb, ungeduldig wieder
zurückzukehren, in einem Briefe an seine Freunde:
»Kinder, wir wollen auf unserem Stück Erde zusam-
menhalten wie die Kletten, um später dazustehen wie
die Bäume in der Kunst.«
So brach der erste Worpsweder Winter an. In dem
großen Bauernhofe der Witwe Behrens wurde den
jungen Malern ein wohnliches Heim bereitet, und man
hielt sie dort wie die Söhne des Hauses. Hans am
Ende war nur zeitweilig da, aber die beiden anderen
erlebten das ganze langsame Verklingen des Herbstes,
gingen zusammen durch die großen Stürme des No-
vember und fanden sich an den langen Abenden,
wenn der Teekessel summte, in der warmen wohnli-
chen Stube ein. War man im Sommer und Herbst mei-
stens schweigend draußen umhergegangen, jeder für
sich suchend, findend und lauschend, so kam nun eine
Zeit der Gespräche und der Auseinandersetzungen,
die sich oft in dem vom Qualm der langen Pfeifen
ganz unwegsam gewordenen Zimmer weit in die stür-
mische Nacht hinein ausdehnten. Was wurde da nicht
alles erörtert! Die Eindrücke des Sommers stiegen
auf, wurden verglichen, geprüft, aneinandergehalten.
Man suchte sich klar zu werden, was an diesem und
jenem Motiv das Zwingende, das Überzeugende war.
Weshalb es wirkte und worin seine Wichtigkeit lag.
Man gedachte Böcklins, der das Tiefste und Wesent-
lichste aus der Natur herausholte und der es so selig
zu sagen verstand. Erinnerungen aus Rembrandt stie-
gen auf und verbanden sich damit; die Landschaft in
Braunschweig mit dem großen Gewitter und die Ra-
dierungen, vor allem diese. Und wenn man, ganz er-
schöpft von Gesprächen, nicht mehr weiter konnte,
las man. Man las Bücher aus Norden. Björnson be-
sonders. Der schien etwas Verwandtes zu haben. Man
begriff die harten, ragenden Bauernfiguren, man sah
sie, man lebte unter ihnen. Man begriff diese Frauen,
die einmal geliebt und später gearbeitet hatten. Und
die ernste, choralartige Begleitung, mit welcher die
nordische Natur und die Nähe eines nördlichen Mee-
res jene kargen, wie in Eichenholz geschnittenen
Schicksale umgab, glaubte man vor den Fenstern zu
hören. Manche Stellen auch mag einer dem anderen
mehr als einmal vorgelesen haben, zum Beispiel
diese: »... Eines Winters war sie mit der Mutter über
die Berge gegangen. Durch den frischgefallenen
Schnee dahinwatend, scheuchten sie plötzlich eine
Kette junger Schneehühner auf, sie flatterten empor
und erfüllten auf einmal die ganze Luft vor ihnen;
weiß waren die Vögel, weiß der Schnee, weiß der
Wald, weiß die Luft - noch lange nachher schwebten
ihr auch alle Gedanken weiß durch den Kopf...« Über
solche Stellen, die bei Björnson nicht allzu häufig
sind (sie muten wie Bilder von Liljefors an) kam man
ganz von selbst zu Jacobsen, von dem gesagt worden
ist, »daß er schriebe wie Maler malen«. »Mogens«
wurde aufgeschlagen, und schon war man mitten drin
in der frohen, flimmernden, atemlosen Lebendigkeit
dieses unvergeßlichen Regenschauers. Und Niels
Lyhne begann mit dem Porträt der Bartholine Blide
auf Lönborggaard, einem Frauenbildnis von lionar-
desker Rätselhaftigkeit. Immer wieder hörte man von
einem neuen Buche und jedes folgende brachte irgend
etwas Großes, dem man zustimmte und daran man
sich freute, hinzu. Die Welt wuchs. Man fühlte das
Vorhandensein Gleichgesinnter überall auf den tau-
send verborgenen Wegen der Natur und, während
man hier in der Entlegenheit dieses Moordorfs ein-
schneite, war man auf einmal weniger allein.
Aber, wenn die beiden auch ihre stille Stube lieb
gewannen, so verwöhnten sie sich doch nicht und
lernten nicht hinter dem Ofen leben. Modersohn
macht weite einsame Spaziergänge und Mackensen
unternimmt lange Ritte tief in die Nacht hin. »Ich
habe den großen Hengst geritten -« schreibt er ein-
mal. Und als er um die Frühlingswende einen Anfall
von Influenza verspürt, da läßt er sich den Wallach
satteln und reitet sechzehn Stunden, ohne Absitzen.
Ein Mann, der solche Medikamente gebraucht, weiß
sich zu helfen.
So ließ man den Frühling kommen. Diesen ernsten,
innigen Worpsweder Frühling, der mit dem Rost-
braunwerden des Gagelstrauchs fast wie ein Herbst
beginnt, bis die unbeschreiblich hellen Grüns der Bir-
ken wie Knabenstimmen einfallen. Aber es kam noch
zu keiner eigentlichen Arbeit. Der Eindrucke waren
zu viele. Und was früher war, wußte niemand. Den
beiden schien es, als hätten sie noch nie gemalt, als
hätte überhaupt noch nie jemand gemalt und es war
unendlich schwer, den ersten Anfang zu machen. Man
wußte genau was man wollte und Mackensen notiert
einmal: »Ich habe gestern morgen Bilder gesehen, so
originell, wie sie nur ein Millet gemalt hat: ein Leben
in größter Einfachheit... Dann die Frau, am Feuer sit-
zend, dann der Mann mit dem Kind! Es stürmen tau-
send Ideen (ausführbar) auf mich ein...« Dieses »aus-
führbar« in Klammer ist bezeichnend. Es nimmt sich
sehr zurückhaltend und unsicher aus und scheint froh,
an keinen Zeitbegriff gebunden zu sein. Die Stunde
war noch nicht gekommen. Ja, im Herbste des folgen-
den Jahres, 1890, mußte man sogar nach Hamburg
gehen, um Geld zu verdienen. Mackensen malte Por-
träts. Modersohn machte den zaghaften Versuch, im
Hamburger Kunstverein drei kleine Landschaften aus-
zustellen. Aber die Bilder wurden nicht aufgehängt,
im Gegenteil; man stellte sie ihm auf einem leeren
Kohlenwagen wieder zu. Dieser Transport hatte den
noch nicht ganz trockenen Bildern nicht wohl getan.
Der junge Maler, den man so wellig aufmunternd
behandelt hatte, brachte dann etwa eine Woche damit
zu, mit spitzen Pinseln Tausende von Kohlenstäub-
chen, die seinen Landschaften einen vornehmen Gale-
rieton gaben, aus der Leinwand herauszuholen. Diese
Arbeit brachte ihn begreiflicherweise nicht weiter,
und in dem damaligen Hamburg war auch sonst
wenig Hülfreiches zu finden. Die Kunsthalle, in ihren
vorlichtwark'schen Tagen, enthielt noch nichts von
ihrem heutigen Reichtum. Und als der Frühling kam,
kehrten beide, mit einem befreiten Atemholen, nach
Worpswede zurück, das sie nun schon ganz als ihre
Heimat betrachteten. Nun kam ein Jahr gemeinsamer
Arbeit. Unzählige Studien wurden gemalt. Moder-
sohn, dessen Art es entsprach, alle starken Eindrucke
in raschen Daten festzustellen, brachte manchen Tag
bis zu sechs Blätter mit nach Hause. Eine Weile lang
wurde Mackensen mitgerissen; ein Wettlauf entstand,
bei dem er unterlag. Er blieb zurück, holte Atem und
besann sich auf sich selbst. Hier begann jeder der bei-
den Freunde seinen eigenen Weg zu gehen. Hatten sie
bisher wie aus einer Kraft gelebt, so hielten sich ihre
gesonderten Kräfte nunmehr das Gleichgewicht. Sie
hörten auf, eine und dieselbe Straße zu teilen, aber sie
bekamen immer mehr das Gefühl, dasselbe Land nach
zwei verschiedenen Seiten hin zu erforschen. Das war
eine neue, reiche Gemeinsamkeit: denn, daß es ein
weites Land sei, wollten sie.
Es zeigt sich immer wieder, daß die künstlerischen
Ereignisse sich, weit unter der Oberfläche des mo-
mentanen Lebens, in einer gleichsam zeitlosen Tiefe
vollziehen. Während Mackensen noch damit beschäf-
tigt war, Studien zu malen, die ihm schwer fielen und
ihn bedrückten, waren seine Kräfte tiefinnerlich schon
um ein werdendes Bild versammelt, das er dann im
Herbst in verhältnismäßig kurzer Zeit heruntermalte.
Es war schon fertig in ihm, als er vor die Leinwand
trat. Es hatte vielleicht schon im Frühjahr, als Idee,
irgendwie in ihm geblüht, inzwischen war der Som-
mer vergangen und nun, im Herbst, fiel es von ihm
ab, reif, schwer, ausgewachsen, in Einklang mit der
ganzen Natur und mit allen Bäumen dieses Herbstes.
Man kann dieses Bild nicht besser kennzeichnen, als
es durch diese Übereinstimmung mit dem Gange des
Jahres geschieht. Es gleicht einer nordischen Frucht,
einem Herbstapfel mit gesunder, starker, farbiger
Schale, dessen Duft schon seinen Geschmack ahnen
läßt: eine herbe Saftigkeit und zugleich etwas von
jener verhaltenen Süße, wie sie gewisse dunkelrote
Rosen bei Einbruch der Nacht ausströmen. So ist die-
ses Bild, welches, im Besitze der Bremer Kunsthalle,
»Der Säugling« heißt; Mackensen hat es öfters auch
die Frau auf dem Torfkarren genannt. Diese beiden
Namen geben seinen Inhalt: eine Frau, auf dem Torf-
karren sitzend, säugt ihr Kind. Das ist Alles, das
heißt, es ist der Anlaß zu Allem, was dieses Bild an
Größe, Schlichtheit und Schönheit enthält. Macken-
sen hat es bis jetzt noch nicht übertroffen. Hier hat er
mit einem Wort gesagt, was er später in längeren Sät-
zen wiederholt hat. Das soll kein Tadel sein; er hat
uns zuerst ein wunderbar großes Wort seiner eigenen
Sprache gezeigt und uns dann erst eingeführt in die
Grammatik und den Satzbau seines Idioms. Eines ist
so wertvoll, wie das andere. Nur weil einige Meister
diese Offenbarungen in verkehrter Reihenfolge
aufweisen, scheinen sie uns stärker und nachhaltiger
zu überraschen. Aber auf Überraschungen kommt es
ja auch nicht an.
»Wo ist Millet hergekommen?« fragt Muther in
seinem bekannten Buch von der Malerei. Hier hatte
man fragen können: »Wo ist Mackensen hergekom-
men?« Wer ist es, der dieses Bild gemalt hat? Erin-
nern wir uns, daß es ein junger Mann ist aus dem
Flecken Greene im Braunschweigischen, sechsund-
zwanzig Jahre alt, auf dem Lande wohnend, unter
Bauern. Bei Fritz August Kaulbach und bei Dietz hat
er gearbeitet, aber man merkt, daß er vergessen hat,
was die ihm sagen konnten. Und außer ihnen hat ihm
kaum jemand etwas gesagt. Peter Janssen vielleicht,
vielleicht der Gymnasiallehrer Büttger? . .
Und Bilder? Bilder hat er wenige gesehen. Bis zu
seinem achtzehnten Jahre keine. Dann eine Hand-
zeichnung von Holbein, später in München manches:
Tizian, Dürer, Böcklin und Feuerbach. Vielleicht ein-
mal einige Reproduktionen nach Millet. Aber hindert
das zu fragen: »Wo ist Mackensen hergekommen?«
Es ist immer dieselbe Frage. Und die Antwort heißt:
Aus sich. Aus den rätselhaften Tiefen der Persönlich-
keit. Aus Vätern und Müttern, aus vergessenen
Schmerzen und Schönheiten, aus vergangenen Zufal-
len und unvergänglichen Gesetzen.
Man betrachte dieses Bild. Man präge sich diesen
ruhigen Kontur ein, den Ausdruck dieses Gesichtes,
auf dem die Arbeit verklingt, um der Liebe Platz zu
machen, man sehe sich diese Hände an, wie sie sich
groß und ruhend über dem Kinde schließen, - man
wird mir zugeben, daß das lauter noch ungesagte
Dinge sind, die sich hier aussprechen. Und man wird
nicht umhin können zu bewundern, wie ruhig und
selbstverständlich sie das tun, wie reif, ohne übertrie-
bene Lautheit, ohne Betonung. Man versuche dieses
Bild jemandem zuzuschreiben. Bastien-Lepage viel-
leicht hätte es malen können, wenn er nicht so krank
gewesen wäre...
»Unsere Augen sehen gesund und frei« - schreibt
Mackensen einmal. Und dieses Bild ist voll von die-
sem gesunden Sehen. Gesundheit ist Gleichgewicht.
Und hier, in diesem Bilde, ist Gleichgewicht. Gleich-
gewicht in der Raumverteilung, in Form und Farbe.
Die Farbe ist schwer, nicht ganz frei in der Empfin-
dung, das einzige Zögernde in dem Bilde. Aber diese
Vorsichtigkeit trägt nur dazu bei, das still zurückhal-
tende, abwartende Wesen dieses Werkes zu steigern.
Es ist ein Devotionsbild des Protestantismus.
Keine Madonna, eine Mutter; die Mutter eines Men-
schen, der lächeln wird; die Mutter eines Menschen,
der leiden wird; die Mutter eines Menschen, der ster-
ben wird: die Mutter eines Menschen.
Auf den Ausstellungen vom Jahre 1895 hat dieses
Bild keine Rolle gespielt. Vielleicht weil es schlecht
gehängt worden ist, besonders aber weil gleichzeitig
ein ganz großes Bild desselben Künstlers ausgestellt
war, das, obwohl es, mit seinen etwa vierzig Figuren,
nicht an die Größe des Mutterbildes heranreicht, im
Leben und in der Entwickelung Mackensens eine
wichtige Stelle einnimmt. Es ist jenes Bild, das zu
malen er sich entschloß, als er das erste Mal nach
Worpswede kam. Damals sah er das Missionsfest in
dem benachbarten Schlußdorf, und im Jahre 1887 sah
er es wieder. Er schrieb darüber an Otto Modersohn:
»Die Leute schon so zu sehen ist famos; nun denke
Dir aber diese interessantesten Leute bei einem Missi-
onsfest, tief andächtig, unter freiem Himmel. Heute
morgen fuhren wir per Wagen nach einem nahen
Dorf, und ich hörte bis sechs Uhr abends vier Predi-
ger. Das heißt, ich skizzierte während dieser Predig-
ten die andächtigen Leute. Ich bin ganz selig in dem
Gedanken, später ein Bild davon malen zu können....«
Er ahnte damals noch nicht, was es heißen würde,
dieses Bild zu malen. Es war keine Seligkeit. Es war
ein Kampf.
Gleich nachdem »Der Säugling« beendet war, ging
er daran. Die Riesenleinwand stand meistens im Frei-
en, nur im ärgsten Winter auf der Diele eines Bauern-
hauses. An ein Atelier war nicht zu denken. An die
Kirchenmauer gelehnt, stand das Bild, Tag und
Nacht. Zeitig früh, im kühlen Morgenschatten malte
er. Und der Herbst war da mit seinen Stürmen. Malen
hieß frieren. Malen hieß mit dem Winde ringen wie
Jakob mit dem Engel des Herrn. Malen hieß nachts
aufspringen und stundenlang draußen bei dem Bilde
stehen, wenn der Sturm es zu stürzen drohte. Das hieß
malen. Wer hat schon so gemalt?
Im nächsten Sommer, als das Bild, um der Modelle
willen, in Selsingen, auf der Geest, stand, ging es
nicht viel besser. Ungewöhnlich früh setzte der
Herbst des Jahres 1893 ein. Und dazu die inneren
Kämpfe, die Zweifel und Hoffnungslosigkeiten, die
bei einer so kolossalen Aufgabe nicht ausbleiben
konnten. Vielleicht, so schien es, hätte das Bild klei-
ner und zu Hause gemalt werden müssen, mit Studien
nach der Natur. Es hatte etwas Entmutigendes mit
dieser Riesenleinwand, hinter den Modellen herzuzie-
hen, wie mit einem ungeheuren Menschenkäfig. Und
jahrelang im Winde zu stehen und zu frieren.
Mackensen sah sich nach jemandem um, der helfen
könnte. Bokelmann, der spätere Berliner Professor,
der damals gerade in Selsingen malte und zu dem
Mackensen Beziehungen hatte, redete zu, konnte aber
nichts erreichen. Eine Weile dachte Mackensen sogar
daran, nach München zu Uhde zu gehen. Aber
schließlich ist er doch allein, ohne Hülfe, fertig ge-
worden. In Berlin, wo er, durch Vermittelung
Bokelmanns, ein Atelier in der Akademie erhalten
hatte, vollendete er in den folgenden Wintern das
große, schwere Bild. Er nannte es »Gottesdienst im
Freien«. Und ein »Gottesdienst im Freien« waren
diese drei Arbeitsjahre wirklich für ihn gewesen. Er
hat sich ihn nicht leicht gemacht, seinen Gottesdienst.
Wie ein Knecht hat er seinem Gotte gedient, mit der
Frömmigkeit eines Asketen und Kreuzfahrers. Nicht
mit Worten, mit der Tat.
Wie sollte man es anders als freudig begrüßen, daß
man in dem Bilde Spuren jenes Ringens erkennt, aus
dem es entstanden ist? Sollte nur der Sieg ein Denk-
mal haben und der Kampf keines?
Es ist schon gesagt worden, daß es in der Gesamt-
wirkung dem Bilde der Frau auf dem Torfkarren nach-
steht. Nun muß hinzugefügt werden, daß es in gewis-
sen Details über jenes Bild hinausragt und zugleich es
bestätigt, indem es seine Werte übertrifft. Vergleiche
sind immer falsch und billig. Die Aufgabe war hier
eine ganz andere; keine größere und keine geringere,
aber eine längere und in vieler Beziehung schwierige.
Sie ist auf der ganzen linken Seite des Bildes ausge-
zeichnet gelöst. Die Gruppierung ist leicht und doch
dicht wie ein Gewebe. Die Wiederholung der gleichen
Tracht in den Mädchen und Frauen ist zu einem
Rhythmus erhoben, dessen Worte gleichsam die vie-
len Profile sind, die sich so wundervoll
überschneiden. Diese Überschneidungen sind viel-
leicht das Bedeutendste in dem Bilde. In ihnen offen-
bart sich die Überlegenheit des Meisters. Wer sich die
Mühe giebt, die ganze Sitzreihe entlang, gerade dieses
Problem zu verfolgen, der wird erstaunt sein über den
geradezu verschwenderischen Reichtum an Stellun-
gen, über diese Abwandlung des Themas, das fast un-
erschöpflich scheint. Und in der zweiten Reihe, wie
da ein altes und ein junges Gesicht zueinander ste-
hen, - das hat, gleich liebevoll und intim, nur noch
Felix Trutat zu sagen gewußt auf seinem
Doppelbildnis, das man in Paris so sehr bewundert
hat.
Der »Gottesdienst« war für Mackensen auch der
erste Schritt in die größere Öffentlichkeit. Bekannt
werden mußte in diesem Falle heißen: berühmt wer-
den; wenigstens für München gilt dies, für Bremen,
wo die Bilder zuerst ausgestellt waren, noch nicht.
Dort sah sie, mit den Bildern der anderen »Worpswe-
der«, Herr von Stieler, der Präsident der Münchner
Genossenschaft, und er bot den fünf Malern, die jetzt
in Worpswede wohnten, einen besonderen Saal im
Glaspalast des Jahres 1895 an. Sie kamen, und sie
waren das Ereignis der Saison. Mackensen und Mo-
dersohn vor allem. Modersohn vielleicht noch mehr.
Denn für Mackensen gab es auf den ersten Blick An-
klänge; das Publikum, das ja viel gesehen hat, konnte,
da es flüchtig zu sehen liebt, an irgend einen
Armeleutemaler denken. Viele erinnerten an Uhde.
Modersohn aber konnte man sich, auch bei oberfläch-
lichem Zusehen, nicht erklären. Trotz der Schotten.
Staunend kaufte man seinen »Sturm im Teufelsmoor«,
Mackensen aber erhielt, obwohl er noch gar keine
Auszeichnung besaß, für den »Gottesdienst im Frei-
en« die große goldene Medaille.
Aber es ist fast belanglos, wie die Öffentlichkeit
sich zu diesen stillen, einsamen Arbeitern stellte.
Hätte sie sich gesträubt, es wäre auch nicht anders ge-
wesen. Diese Leute wußten ihren Weg und fuhren
fort, ihn zu gehen.
Mackensens Weg geht geradeaus auf den Men-
schen zu, auf den Menschen dieser einsamen schwar-
zen Erde, auf der er lebte. Wo er in die Natur sah,
fand er scharf umrissene Einzeldinge, aber in den
Menschen, in diesen stillen nordischen Gestalten, war
alles zusammengefaßt, was er suchte. Es giebt Künst-
ler, die, wenn sie Musik hören, plötzlich einen Cha-
rakter, eine Szene, eine Stimmung begreifen, die
ihnen lange unfaßbar schien: Ein Lied war imstande,
die weithin zerstreuten Strahlen zu sammeln, was in
der Natur entfernt oder streng getrennt nebeneinander-
liegt, zu vereinen und sie empfangen von ihm, fast
vollendet, was ihnen zu schaffen unmöglich schien.
Was für diese Künstler die Musik ist, das ist für
Mackensen die Figur: der Extrakt der Landschaft. Wo
er nur Landschaften giebt, hat man das Gefühl von
etwas Verdünntem, Abgeschwächtem, Leerem. In sei-
nen landschaftlichen Zeichnungen drängt sich dies,
bei aller Trefflichkeit, ganz besonders auf. Diese Blät-
ter wirken wie Seiten, die mit einer großen, sicheren
Handschrift dicht beschrieben sind. Das Bildhafte
fehlt, das Starke, Gesammelte, Konzentrierte, diese
malerische Expansivkraft, die sofort wieder da ist, wo
es sich um eine figürliche Darstellung handelt. Und
doch ist Mackensen kein Menschenmaler; er hat keine
Überlegenheit über das menschliche Gesicht, und
Porträts setzen ihn in Verlegenheit. Wohl konnte er
jene Menschen malen, deren Schicksale, nach dem
Worte Taine's, aus der Beeinflussung der Natur ent-
springen und nur aus ihr. Kulturmenschen, Leute aus
der Stadt sind Heimatlose für ihn, und Gott weiß
woher ihre Schicksale stammen. Es fehlt ihm an Fä-
higkeit und an Freude, das zu erforschen. Sie muten
ihn an wie abgeschnittene Blumen, die man aus einem
fernen, fremden Lande geschickt bekommt. Sie sagen
ihm nichts oder doch nur einen Anfangsbuchstaben,
und er hat keine Lust, weiterzuraten; er mußte den
Boden sehen, auf dem sie gestanden haben, die Luft,
die um sie war, das Licht, das sie erwärmt und den
Regen, der sie verdunkelt hat, um sich für sie interes-
sieren zu können. Und ähnlich wie er vor solchen
Blumen nicht als Künstler stünde, sondern einfach als
Derundder, so ist es auch bei Aufgaben dieser Art das
Private, Zufällige, gleichsam das Bürgerliche, das,
indem es spricht, den Künstler in ihm stört und
kränkt.
Mensch (im banalen Sinne genommen) und Künst-
ler sind ja nie ein und dieselbe Person. Der Künstler
ist das Wunderbare, der Mensch das Erklärliche; der
Mensch ist in dem Flecken So und So geboren, der
den Künstler gar nicht interessiert; der Mensch ist,
aus was für Verhältnissen er auch kommen mag, doch
immerhin Produkt dieser bestimmten Verhältnisse,
selbst dann, wenn er sie widerlegt. Den Künstler aus
diesen Verhältnissen heraus ableiten zu wollen, ist
falsch, schon deshalb, weil er sich überhaupt aus
nichts ableiten läßt. Er ist und bleibt das Wunder, die
unbefleckte Empfängnis ins Seelische übertragen;
das, wovor Alle staunend stehen, am meisten viel-
leicht er selbst.
Man kann es bei Mackensens Bildern deutlich
sehen, daß es ihnen schadet, wenn neben dem Künst-
ler auch der Mensch bei der Arbeit beteiligt war. Sie
bekommen sofort etwas Stoffliches, Anekdotisches,
Sentimentales. Der Pfarrer auf dem Gottesdienst-Bild
ist von der Art. Es ist, als hätte nicht der Künstler al-
lein ihn gewählt, weil gerade diese Figur notwendig
war, die Schlichtheit und Stille der Gruppe auf der
linken Seite im Gleichgewicht zu halten; vielmehr als
hätte hier ein junger Mensch seine Verehrung für die-
sen schönen und gütigen Greis ausgesprochen. Der
Maler Mackensen hätte diesen Kopf nicht gebraucht;
er hatte schon auf seinem Mutter-Bild eine Schönheit
des menschlichen Gesichtes entdeckt, die neuer, wah-
rer und tiefer war.
Es hieße sich wiederholen, wollte man bei anderen,
späteren Werken dieses Künstlers verwandte Betrach-
tungen anstellen. Es muß nur noch gesagt werden,
daß sich bei allen diesen Anlässen ein überaus sym-
pathischer, etwas altmodischer, fast mädchenhaft-zar-
ter Mensch offenbart, den man nur deshalb zu be-
kämpfen hat, weil er kleiner ist als der Künstler, dem
er schadet.
Ein späteres Bild Mackensens, die bekannte »Trau-
ernde Familie«, ist ganz frei von diesem gefährlichen
Dualismus.
Obwohl es sich in diesem Bilde um ein Interieur
handelt, ist Mackensen auch hier Landschafter. Diese
Menschen stehen um den kleinen Leichnam, als stün-
den sie am Ufer eines Teiches, in welchem das Kind
ertrunken ist. Nicht eine von den gewöhnlichen Zufäl-
ligkeiten des Innenraumes spricht hier mit herein. Und
nur weil es diesen in sich versunkenen Menschen
gleichgültig ist, was sie umgiebt, scheinen die stillen
Wände sich hinter ihnen zu schließen. Man denke,
was Israels hier gegeben hatte. Das Interieur hatte ge-
sprochen, die Dinge, das Fenster. Die Menschen, auch
wenn sie ebenso regungslos gewesen wären, würden
gesteigert erschienen sein, verlassen, arm, fassungs-
los, persönlich geworden im Schmerz. Große Men-
schenmaler sagen immer das Individuelle, Zugespitz-
te, Isolierte; hier aber in der »Trauernden Familie« ist
das Allgemeine gesagt worden, das Landschaftliche
gleichsam. Wenn wir einen Wald traurig nennen,
dann stehen die Bäume so: Zusammengerückt und
doch einzeln, stumm, hängend, wie gebunden an
etwas Unsichtbares. Diese Leute haben gearbeitet. Sie
haben nicht viel Zeit gehabt, sich mit dem kleinen
Kinde zu beschäftigen; es ist ihnen fast fremd und
macht sie, im Augenblick da es geht, verlegen wie ein
Gast. Meistens war es den Geschwistern überlassen.
Mit denen hat es gelebt, denen hat es zugelacht, sie
begannen es zu verstehen. Auf sie fällt der Schatten
dieses Verlustes. Aber ein Verlust ist nur eine Überra-
schung für sie, und Überraschungen sind Augen-
blicke. Morgen werden sie wieder lachen. Und die El-
tern werden wieder arbeiten. Sie stehen still beisam-
men, bedrückt durch die Stille, durch die Kleider, die
sie tragen, durch den unerwarteten Feiertag, der so
mitten hinein in die Woche kam. Sie denken nicht an
den Tod; sie denken an das Leben, das vergeht.
Wie in dem »Gottesdienst im Freien« liegt auch
von Sentimentalität hineingesetzt worden ist.
Von großen Bildern ist noch eines, »Die Scholle«,
zu erwähnen. Es hat die Erfahrungen des Künstlers
besonders nach der Seite der Farbe hin erweitert. Hier
handelt es sich nichtmehr um den gleichmäßig be-
deckten Himmel der früheren Bilder. Vor der wolkig
- bewegten Luft stehen die beiden Frauen, welche die
Egge ziehen, groß, einfach, stark in der Bewegung,
die sie nicht erniedrigt. Wie die rote Jacke der einen
leuchtend wird hoch im Himmel, und wie der Wind,
der vor dem Abend hergeht, in den weißen Schleier-
hüten sich dehnt und den Eindruck des Ziehens, wie
in eine andere Sprache übersetzt, wiederholt, das ist
vielleicht die beste Erinnerung aus dem Bilde. Der
Alte, welcher die Egge lenkt, würde vielleicht noch
besser zur Geltung kommen, wenn die Bewegung der
Figuren nicht ganz parallel mit der Bildfläche, son-
dern in einem kleinen Winkel zu ihr sich entwickelt
hätte. Er wäre dann mehr zurückgetreten, wäre selbst
kleiner geworden und seine nach hinten gespannte
Haltung, die der Vorwärtsbewegung der Frauen etwas
von ihrer Wucht nimmt, wäre nicht so sichtbar gewe-
sen. Das Bild hatte auch an Tiefe gewonnen, wenn
diese dunkle Gestalt zu dieser Tiefe in Beziehung ge-
setzt worden wäre. Indessen, was das Bild enthält, ist
vollkommen darin zum Ausdruck gekommen. Nur der
Name ist unbefriedigt geblieben. »Die Scholle« zu
malen steht Mackensen noch bevor. Er hat sie noch
nicht gemalt wie man sie vom Berge sieht, wie er sie
sehen wird von den Fenstern seines neuen Hauses
aus: in ihrer breiten, großen, schweren Dunkelheit. Es
gehört zu seinen liebsten Plänen, die flachen, fließen-
den Felder zu malen, wie sie sich langsam in breiten
Wellen, Feld bei Feld, hinuntersenken in die Niede-
rung der tiefen Wiesen und zu den fern schimmernden
Wassern der Hamme hin.
Es ist als wäre vieles Vorbereitung gewesen für
diese kommenden Bilder, die er, ebenso wie seine frü-
heren, durch das Medium der Gestalt sehen und sagen
wird. Zwei Arbeiten stehen angefangen auf seinem
Atelier. Der Säemann. Mit einer schwarzen, breiten
Bodenwelle, wie getragen von ihr, kommt er auf den
Beschauer zugeschritten, erfüllt von der stillen, rhyth-
mischen Wiederkehr seiner ernsten Gebärde. Millet
hat sie zuerst gemalt. Er hat ihr eine fast prophetische
Größe gegeben, und doch hat er ihre ganze Tiefe nicht
ausgeschöpft. Über jedem Lande ist sie neu, wie das
Leben, das mit jedem Menschen neu geboren wird.
Sie scheint sich zu ändern je nach dem Verhältnis, in
welchem Bauer und Boden zu einander stehen. In rei-
chen, üppigen Ländern ist sie sorglos, frei und ver-
schwenderisch. Rasch schreitet der Säende über die
offenen Schollen. In anderen Gegenden geht der
Bauer langsamer über sein einsames Land. Die
Bewegung seines Armes ist liebevoller, nachdenkli-
cher. Manchmal steht er fast still; die Erinnerung hält
ihn auf, an die Zeit, da hier noch Moor war und
Heide. Damals war er noch jung und alle Arbeit, die
ihn alt gemacht hat, lag noch vor ihm.
Diesen Säemann wird Mackensen malen. Er kennt
ihn; er kennt die Menschen und das Land, in dem er
lebt, als ob er hier aufgewachsen wäre. Die Ein-
drücke, die er hier seit Jahren empfing, haben sich an
die Erinnerungen seiner Kindheit gehängt und sind
verschmolzen mit ihnen. Er hat keine andere Heimat
mehr und die Wahlheimat, in der er wurzelt, ist besser
als eine er erbte. Er hat sie nicht geschenkt bekom-
men; er hat um sie geworben, hat sich sie erkämpft,
Schritt für Schritt, Tag um Tag. Sie ist die Welt für
ihn geworden, die Erde. Und da lebt er nun. Und alles
was geschieht, geschieht hier, alles was vergangen ist,
ist hier vergangen. Auch das Unvergängliche. So
konnte er daran denken, jenen anderen Säemann zu
malen, dessen Gebärde über die ganze Welt gewach-
sen ist von Aufgang nach Untergang. Und er malt den
Augenblick des Ausstreuens: die Bergpredigt. Jesus
steht am Rande des Berges, an eine große, gewaltige
Eiche gelehnt, die mit alten Ästen nach Norden und
Süden weist, nach Osten und Westen. Stille, lau-
schende Menschen stehen um ihn her, senken den
Kopf oder sehen ihn an. Er aber schaut über sie fort,
schaut wie die flachen, fließenden Felder sich lang-
sam in breiten Wellen, Feld bei Feld, hinuntersenken
in die Niederung der tiefen Wiesen und zu den fern-
schimmernden Wassern der Hamme hin.
Das ist kein neues Thema für Mackensen. Es ist im
Grunde, was er schon immer gemalt hat. Die große
Natur, gesehen und erlebt durch das Medium des
Menschen. Der Schritt zur Bibel lag da sehr nahe;
denn von ihr gilt was Dürer von dem guten Maler ge-
sagt hat: Sie ist innerlich voller Figur.
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