Rilke im Internet

"Rilke, elektronisch". Diese Wendung wählte man als Titel für eine Spiegel-Reportage über Literatur im Internet . Dort heißt es: Rilke-Gedichte auf einem elektronischen Träger zu lesen, das werde "auch in zehn Jahren nicht jedermanns Genuss sein". Der Elegien-Dichter und das Cybermedium - taugt diese Kombination also nur als Aufreißer?

20.000 Zugriffe
Meine Erfahrung spricht dagegen - zwanzigtausendfach. Genau 20.000 Zugriffe verzeichnete die Internet-Seite www.rilke.de nämlich in jenem Oktober, als der Spiegel-Artikel erschien. Hätte der Autor sich auf der Seite umgesehen, er hätte eine stattliche Auswahl aus Rilkes Werk gefunden: Die Duineser Elegien, den Cornet, die "Briefe an einen jungen Dichter", Auszüge aus dem Malte, aus den Monographien über Rodin und Worpswede, ferner Erzählungen, private Briefe und Tagebuchauszüge. Ein Blick in das Gästebuch hätte die lebhafte Resonanz auf den Auftritt des Dichters im neuen Medium offenbart.
Die Seite www.rilke.de gibt es seit Oktober 1998. Ich erstellte sie gemeinsam mit einem technisch versierten Freund in den drei Wochen zwischen meiner Zivildienstzeit und dem Studienbeginn. Seitdem ist die Seite deutlich an Umfang gewachsen. Der Schwerpunkt lag dabei stets auf Rilkes Lyrik.
Auf dem Bildschirm sieht ein Rilke-Gedicht nicht anders aus als auf einer Buchseite. Dazu muss es aber vorab umgesetzt sein mit Hilfe einer Programmiersprache namens HTML (Hypertext Markup Language). Hierbei werden Informationen zur Darstellung des Textes codiert angegeben - sozusagen "zwischen den Zeilen". Der Anfang des Gedichtes "Die Flamingos" etwa liest sich im HTML-Text so:
<CENTER><FONT SIZE=+3 COLOR=#37519F>
<I>D</I></FONT><FONT SIZE=+2>ie Flamingos</FONT>

<BR><I>Jardin des Plantes, Paris</I>
<BR>
<BR>In Spiegelbildern wie von Fragonard
<BR>ist doch von ihrem Weiß und ihrer Röte
<BR>nicht mehr gegeben, als dir einer böte,
<BR>wenn er von seiner Freundin sagt: sie war
<BR>noch sanft von Schlaf.
Der Befehl "<Center>" bewirkt eine Zentrierung der Überschrift, die Zeichenfolge "&ouml;" sorgt für die Anzeige des Sonderzeichens "O-Umlaut", also des deutschen "ö".

Besser, als ein Buch
Wofür dieser Aufwand, wenn man die Texte auch in einem Buch lesen kann?
Das Internet macht vieles möglich, was ein Buch nicht kann. Da ist zum Beispiel die rilke.de-Suchmaschine: Sie findet zu bestimmten Versen oder einzelnen Worten das zugehörige Gedicht. Hier versagt ein Buch genauso wie bei der Vermittlung weitergehender Informationen. Die berühmten "Hyperlinks" - Verknüpfungen verschiedener Internet-Seiten - animieren bei rilke.de zum Weiterlesen. Ein Link verweist von der Rodin-Monographie zur Homepage des Musée Rodin in Paris. Andere führen vom Gedicht "Das Abendmahl" zu den entsprechenden Passagen im Neuen Testament und zu dem Gemälde von Leonardo da Vinci.

Im Internet geht aber noch viel mehr:
- Bei rilke.de bietet ein "Forum" Abwechslung und Gelegenheit zum Austausch. Dort kann man Fragen an die Allgemeinheit richten, Thesen zur Diskussion stellen und auf die Beiträge anderer reagieren.
- Bei einer Umfrage "Welches ist Ihr Lieblingsgedicht?" kann man seinem Favoriten eine Stimme geben und sich einen Überblick verschaffen über die Meinungen der Mitmenschen. ("Der Panther" und das "Liebes-Lied" liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, der "Herbsttag" hinkt hinterher, der "Archaïsche Torso" rangiert unter "ferner liefen").
- Gelegentlich ergeben sich Sonderaktionen. Zum "1. Geburtstag" der Seite fand ein Gewinnspiel statt mit einer Quizfrage zum Cornet - so schwer, dass es einen Monat dauerte, bis die erste Antwort kam. In der Weihnachtszeit gibt es einen Lyrik-Adventskalender - per E-Mail frei Haus oder auf der Homepage mit virtuellen Türchen.

Kommentare aus aller Welt
Das elektronische Gästebuch dokumentiert die Resonanz. Man bekundet allgemein Erleichterung über die Präsenz altbewährter Lyrik im verrufenen Internet. Russische Germanistik-Studentinnen kritisieren die Literaturempfehlungen. Aus China kommt ein Gruß mit dem höflichen Hinweis, nicht alle Schriftzeichen würden dort korrekt angezeigt.
Und Denis (13) schreibt:
"Hallo Team, heute habe ich meine Hausaufgaben nicht dabei gehabt. Ich musste das Gedicht "Herbsttag" lernen. Ich habe in eure Web-Site reingeschaut und das Gedicht gefunden. Danke, eure Seite war sehr praktisch."

Dringendere Anliegen kommen per E-Mail. Ein Amerikaner schickt eine Klage und - ganz pragmatisch - den Lösungsvorschlag gleich mit:
Der Index kann wirklich nichts unter "Kreuzweg" finden, wenn "... am Kreuzweg deiner Sinne ..." eine der besten Zeilen ist, die Rilke je geschrieben hat? Und meine Lieblinge sind nicht auf Ihrer Wahlseite. Dann müssen wir wirklich da ran. Warum nicht das Internet gebrauchen? Ich selbst würde gern ein Gedicht abschreiben, sogar zu übersetzen (versuchen!), besonders wenn ich wüsste, dass ich einer von (sagen wir) 100 bin, der Rilke sammelt und zu verbreiten hilft."
So viel Bereitschaft zum Anpacken auf einer Lyrik-Seite tut gut.

Courtney Love liebt Rilke
Ein andermal bittet eine Münchner Journalistin um Hilfe, nachdem sie die Sängerin Courtney Love interviewt hatte. Die eher durch provokantes Auftreten bekannte Pop-Lady überraschte durch ihr Geständnis, Rainer Maria Rilke sei ihr Lieblingsdichter - noch vor Baudelaire. Ihre Leidenschaft für den Lyriker unterstrich sie mit einem englischen Zitat. Nun musste die Journalistin den entsprechenden Originaltext auf Deutsch finden, und zwar noch vor Redaktionsschluss. Sie bekam ihn am selben Abend.

Chinesen, Amerikaner, Siebtklässler und Pop-Stars - wenn man eine Internet-Seite über Rainer Maria Rilke führt, erfährt man die große Wirkung des Dichters auf die verschiedensten Menschen weltweit. Es wäre schön, diese Menschen zusammenzubringen. Das ist die Vision von rilke.de.

 

© 1999 Thilo v. Pape

Dieser Text wurde im Oktober 1999 verfasst. Er erschienen in:
Rilke-Gesellschaft (Hrsg.): Berlin, Wien: Stationen der Moderne. (Blätter der Rilke-Gesellschaft, Bd. 23). Stuttgart, 2000.