Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten,
jetzt, da ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so
gut wie nichts geschehen. Wiederholen wir: ich habe eine Studie
über Carpaccio geschrieben, die schlecht ist, ein Drama, das
>Ehe< heißt und etwas Falsches mit zweideutigen Mitteln
beweisen will, und Verse. Ach, aber mit Versen ist so wenig getan,
wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und
Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes
womöglich, und dann, ganz zum Schluß, vielleicht
könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse
sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh
genug), - es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man
viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere
kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die
Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am
Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in
unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede,
die man lange kommen sah, - an Kindheitstage, die noch
unaufgeklärt sind, an die Eltern, die man kränken
mußte, wenn sie einem eine Freude brachten und man begriff sie
nicht (es war eine Freude für einen anderen -), an
Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren
Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am
Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die
hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen, - und es ist noch
nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man muß
Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der
andern glich, an Schreie von Kreißenden und an leichte,
weiße, schlafende Wöchnerinnen, die sich
schließen. Aber auch bei Sterbenden muß man gewesen sein,
muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen
Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt
auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie
vergessen kön nen, wenn es viele sind, und man muß die
große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn
die Erinnerungen selbst es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in
uns, Blick und
Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst,
erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde
das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen
ausgeht.
Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also sind es keine. -
Und als ich mein Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich ein
Nachahmer und Narr, daß ich eines Dritten bedurfte, um von dem
Schicksal zweier Menschen zu erzählen, die es einander schwer
machten? Wie leicht ich in die Falle fiel. Und ich hätte doch
wissen müssen, daß dieser Dritte, der durch alle Leben und
Literaturen geht, dieses Gespenst eines Dritten, der nie gewesen ist,
keine Bedeutung hat, daß man ihn leugnen muß. Er
gehört zu den Vorwänden der Natur, welche immer bemüht
ist, von ihren tiefsten Geheimnissen die Aufmerksamkeit der Menschen
abzulenken. Er ist der Wandschirm, hinter dem ein Drama sich
abspielt. Er ist der Lärm am Eingang zu der stimmlosen Stille
eines wirklichen Konfliktes. Man möchte meinen, es wäre
allen bisher zu schwer gewesen, von den Zweien zu reden, um die es
sich handelt; der Dritte, gerade weil er so unwirklich ist, ist das
Leichte der Aufgabe, ihn konnten sie alle. Gleich am Anfang ihrer
Dramen merkt man die Ungeduld, zu dem Dritten zu kommen, sie
könnten ihn kaum erwarten. Sowie er da ist, ist alles gut. Aber
wie langweilig, wenn er sich verspätet, es kann rein nichts
geschehen ohne ihn, alles steht, stockt, wartet. Ja und wie, wenn es
bei diesem Stauen und Anstehn bliebe? Wie, Herr Dramatiker, und du,
Publikum, welches das Leben kennt, wie, wenn er verschollen wäre,
dieser beliebte Lebemann oder dieser anmaßende junge Mensch, der
in allen Ehen schließt wie ein Nachschlüssel? Wie, wenn
ihn, zum Beispiel, der Teufel geholt hätte? Nehmen wirs an. Man
merkt auf einmal die künstliche Leere der Theater, sie werden vermauert wie
gefährliche Löcher, nur die Motten aus den Logenrändern
taumeln durch den haltlosen Hohlraum. Die Dramatiker genießen
nicht mehr ihre Villenviertel. Alle öffentlichen Aufpassereien
suchen für sie in entlegenen Weltteilen nach dem Unersetzlichen,
der die Handlung selbst war.
Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese >Dritten<,
aber die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen
wäre, von denen noch nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie
leiden und handeln und sich nicht zu helfen wissen.
Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich,
Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand
weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts
fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem
grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken:
Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches
und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich,
daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken
und aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen
lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und
einen Apfel?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und
Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der
Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich,
daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas
gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff
überzogen hat, so daß sie aussieht, wie die Salonmöbel
in den Sommerferien?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte
mißverstanden worden ist? Ist es möglich, daß die
Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen
gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler Menschen
erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden,
weil er fremd war und starb?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen,
was sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es möglich,
daß man jeden einzelnen erinnern müßte, er sei ja aus
allen Früheren entstanden, wüßte es also und sollte
sich nichts einreden lassen von den anderen, die anderes
wüßten?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit,
die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es möglich,
daß alle Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr
Leben abläuft, mit nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem
leeren Zimmer -?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts
weiß, die doch leben? Ist es möglich, daß man >die
Frauen< sagt, >die Kinder<, >die Knaben< und nicht ahnt
(bei aller Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst
keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche >Gott<
sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames? - Und sieh nur zwei
Schulkinder: Es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft
sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach
einer Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, daß sie
sich nur noch ganz entfernt ähnlich sehen, - so verschieden haben
sie sich in verschie denen Händen entwickelt. (Ja, sagt des einen
Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen
müßt.-) Ach so: Ist es möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne
ihn zu gebrauchen?
Ja, es ist möglich.
Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein
von Möglichkeit hat, - dann muß ja, um alles in der Welt,
etwas geschehen. Der Nächstbeste, der, welcher diesen
beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muß anfangen, etwas von dem
Versäumten zu tun; wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus
nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da. Dieser junge,
belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf Treppen hoch
hinsetzen müssen und schrei ben, Tag und Nacht. Ja er wird
schreiben müssen, das wird das Ende sein.
|