Bibliothèque Nationale.
Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal aber man
spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern.
Manchmal bewegen sie sich in den Blättern, wie Menschen, die
schlafen und sich umwenden zwischen zwei Träumen. Ach, wie gut
ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein. Warum sind sie nicht
immer so? Du kannst hingehen zu einem und ihn leise anrühren: er
fühlt nichts. Und stößt du einen Nachbar beim
Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt er nach der
Seite, auf der er deine Stimme hört, sein Gesicht wendet sich dir
zu und sieht dich nicht, und sein Haar ist wie das Haar eines
Schlafenden. Wie wohl das tut. Und ich sitze und habe einen
Dichter. Was für ein Schicksal. Es sind jetzt vielleicht
dreihundert Leute im Saale, die lesen; aber es ist unmöglich,
daß sie jeder einzelne einen Dichter haben. (Weiß Gott,
was sie haben.) Dreihundert Dichter giebt es nicht. Aber sieh nur, was
für ein Schicksal, ich, vielleicht der armsäligste von
diesen Lesenden, ein Ausländer: ich habe einen Dichter. Obwohl
ich arm bin. Obwohl mein Anzug, den ich täglich trage,
anfängt, gewisse Stellen zu bekommen, obwohl gegen meine Schuhe
sich das und jenes einwenden ließe. Zwar mein Kragen ist rein,
meine Wäsche auch, und ich könnte,
wie ich bin, in eine beliebige Konditorei gehen, womöglich auf
den großen Boulevards, und könnte mit meiner Hand getrost
in einen Kuchenteller greifen und etwas nehmen. Man würde nichts
Auffälliges darin finden und mich nicht schelten und
hinausweisen, denn es ist immerhin eine Hand aus den guten Kreisen,
eine Hand, die vier- bis fünfmal täglich gewaschen wird. Ja,
es ist nichts hinter den Nägeln, der Schreibfinger ist ohne
Tinte, und besonders die Gelenke sind tadellos. Bis dorthin waschen
arme Leute sich nicht, das ist eine bekannte Tatsache. Man kann also
aus ihrer Reinlichkeit gewisse Schlüsse ziehen. Man zieht sie
auch. In den Geschäften zieht man sie. Aber es giebt doch ein
paar Existenzen, auf dem Boulevard Saint-Michel zum Beispiel und in
der rue Racine, die lassen sich nicht irremachen, die pfeifen auf die
Gelenke. Die sehen mich an und wissen es. Die wissen, daß ich
eigentlich zu ihnen gehöre, daß ich nur ein bißchen
Komödie spiele. Es ist ja Fasching. Und sie wollen mir den
Spaß nicht verderben; sie grinsen nur so ein bißchen und
zwinkern mit den Augen. Kein Mensch hats gesehen. Im übrigen
behandeln sie mich wie einen Herrn. Es muß nur jemand in der
Nähe sein, dann tun sie sogar untertänig. Tun, als ob ich
einen Pelz anhätte und mein Wagen hinter mir
herführe. Manchmal gebe ich ihnen zwei Sous und zittere, sie
könnten sie abweisen; aber sie nehmen sie an. Und es wäre
alles in Ordnung, wenn sie nicht wieder ein wenig gegrinst und
gezwinkert hätten. Wer sind diese Leute? Was wollen sie von mir?
Warten sie auf mich? Woran erkennen sie mich? Es ist wahr, mein Bart
sieht etwas vernachlässigt aus, ein ganz, ganz klein wenig
erinnert er an ihre kranken, alten, verblichenen Bärte, die mir
immer Eindruck gemacht haben. Aber habe ich nicht das Recht, meinen
Bart zu vernachlässigen? Viele beschäftigte Menschen tun
das, und es fällt doch niemandem ein, sie deshalb gleich zu den
Fortgeworfenen zu zählen. Denn das ist mir klar, daß das
die Fortgeworfenen sind, nicht nur
Bettler; nein, es sind eigentlich keine Bettler, man muß
Unterschiede machen. Es sind Abfälle, Schalen von Menschen, die
das Schicksal ausgespieen hat. Feucht vom Speichel des Schicksals
kleben sie an einer Mauer, an einer Laterne, an einer
Plakatsäule, oder sie rinnen langsam die Gasse herunter mit einer
dunklen, schmutzigen Spur hinter sich her. Was in aller Welt wollte
diese Alte von mir, die, mit einer Nachttischschublade, in der einige
Knöpfe und Nadeln herumrollten, aus irgendeinem Loch
herausgekrochen war? Weshalb ging sie immer neben mir und beobachtete
mich? Als
ob sie versuchte, mich zu erkennen mit ihren Triefaugen, die aussahen,
als hätte ihr ein Kranker grünen Schleim in die blutigen
Lider gespuckt. Und wie kam damals jene graue, kleine Frau dazu, eine
Viertelstunde lang vor einem Schaufenster an meiner Seite zu stehen,
während sie mir einen alten, langen Bleistift zeigte, der
unendlich langsam aus ihren schlechten, geschlossenen Händen sich
herausschob. Ich tat, als betrachtete ich die ausgelegten Sachen und
merkte nichts. Sie aber wußte, daß ich sie gesehen hatte,
sie wußte, daß ich stand und nachdachte, was sie
eigentlich täte. Denn daß es sich nicht um den Bleistift
handeln konnte, begriff ich wohl: ich fühlte, daß das ein
Zeichen war, ein Zeichen für Eingeweihte, ein Zeichen, das die
Fortgeworfenen kennen; ich ahnte, sie bedeutete mir, ich
müßte irgendwohin kommen oder etwas tun. Und das Seltsamste
war, daß ich immerfort das Gefühl nicht los wurde, es
bestünde tatsächlich eine gewisse Verabredung, zu der dieses
Zeichen gehörte, und diese Szene wäre im Grunde etwas, was
ich hätte erwarten müssen.
Das war vor zwei Wochen. Aber nun vergeht fast kein Tag ohne eine
solche Begegnung. Nicht nur in der Dämmerung, am Mittag in den
dichtesten Straßen geschieht es, daß plötzlich ein
kleiner Mann oder eine alte Frau da ist, nickt, mir etwas zeigt und
wieder verschwindet, als wäre nun alles Nötige getan. Es ist
möglich, daß es ihnen eines
Tages einfällt, bis in meine Stube zu kommen, sie wissen
bestimmt, wo ich wohne, und sie werden es schon einrichten, daß
der Concierge sie nicht aufhält. Aber hier, meine Lieben, hier
bin ich sicher vor euch. Man muß eine besondere Karte haben, um
in diesen Saal eintreten zu können. Diese Karte habe ich vor euch
voraus. Ich gehe ein wenig scheu, wie man sich denken kann, durch die
Straßen, aber schließlich stehe ich vor einer
Glastür, öffne sie, als ob ich zuhause wäre, weise an
der nächsten Tür meine Karte vor (ganz genau wie ihr mir
eure Dinge zeigt, nur mit dem Unterschiede, daß man mich
versteht und begreift, was ich meine -), und dann bin ich zwischen
diesen Büchern, bin euch weggenommen, als ob ich gestorben
wäre, und sitze und lese einen Dichter.
Ihr wißt nicht, was das ist, ein Dichter? - Verlaine
. . . Nichts? Keine Erinnerung? Nein. Ihr habt ihn nicht unterschieden
unter denen, die ihr kanntet? Unterschiede macht ihr keine,
ich weiß. Aber es ist ein anderer Dichter, den ich lese, einer,
der nicht in Paris wohnt, ein ganz anderer. Einer, der ein stilles
Haus hat im Gebirge. Der klingt wie eine Glocke in reiner Luft. Ein
glücklicher Dichter, der von seinem Fenster erzählt und von
den Glastüren seines Bücherschrankes, die eine liebe,
einsame Weite nachdenklich spiegeln. Gerade der Dichter ist es, der
ich hätte werden wollen; denn er weiß von den Mädchen
so viel, und ich hätte auch viel von ihnen gewußt. Er
weiß von Mädchen, die vor hundert Jahren gelebt haben; es
tut nichts mehr, daß sie tot sind, denn er weiß alles. Und
das ist die Hauptsache. Er spricht ihre Namen aus, diese leisen,
schlankgeschriebenen Namen mit den altmodischen Schleifen in den
langen Buchstaben und die erwachsenen Namen ihrer älteren
Freundinnen, in denen schon ein klein wenig Schicksal mitklingt, ein
klein wenig Enttäuschung und Tod. Vielleicht liegen in einem
Fach seines Mahagonischreibtisches ihre verblichenen Briefe und die
gelösten Blätter ihrer Tagebücher, in denen Geburtstage
stehen, Sommerpartien,
Geburtstage. Oder es kann sein, daß es in der bauchigen Kommode
im Hintergrunde seines Schlafzimmers eine Schublade giebt, in der ihre
Frühjahrskleider aufgehoben sind; weiße Kleider, die um
Ostern zum erstenmal angezogen wurden, Kleider aus getupftem
Tüll, die eigentlich in den Sommer gehören, den man nicht
erwarten konnte. 0 was für ein glückliches Schicksal, in der
stillen Stube eines ererbten Hauses zu sitzen unter lauter ruhigen,
seßhaften Dingen und draußen im leichten, lichtgrünen
Garten die ersten Meisen zu hören, die sich versuchen, und in der
Ferne die Dorfuhr. Zu sitzen und auf einen warmen Streifen
Nachmittagssonne zu sehen und vieles von vergangenen Mädchen zu
wissen und ein Dichter zu sein. Und zu denken, daß ich auch so
ein Dichter geworden wäre, wenn ich irgendwo hätte wohnen
dürfen, irgendwo auf der Welt, in einem von den vielen
verschlossenen Landhäusern, um die sich niemand
bekümmert. Ich hätte ein einziges Zimmer gebraucht (das
lichte Zimmer im Giebel). Da hätte ich drinnen gelebt mit meinen
alten Dingen, den Familienbildern, den Büchern. Und einen
Lehnstuhl hätte ich gehabt und Blumen und Hunde und einen starken
Stock für die steinigen Wege. Und nichts sonst. Nur ein Buch in
gelbli ches, elfenbeinfarbiges Leder gebunden mit einem alten blumigen
Muster als Vorsatz: dahinein hätte ich geschrieben. Ich
hätte viel geschrieben, denn ich hätte viele Gedanken
gehabt und Erinnerungen von Vielen. Aber es ist anders gekommen, Gott
wird wissen, warum. Meine alten Möbel faulen in einer Scheune, in
die ich sie habe stellen dürfen, und ich selbst, ja, mein Gott,
ich habe kein Dach über mir, und es regnet mir in die Augen.
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