Die Zeit ging unberechenbar schnell, und auf einmal war es
schon wieder so weit, daß der Prediger Dr. Jespersen geladen
werden mußte. Das war dann für alle Teile ein mühsames
und langwieriges Frühstück. Gewohnt an die sehr fromme
Nachbarschaft, die sich jedesmal ganz auflöste um seinetwillen,
war er bei uns durchaus nicht an seinem Platz; er lag sozusagen auf
dem Land und schnappte. Die Kiemenatmung, die er an sich ausgebildet
hatte, ging beschwerlich vor sich, es bildeten sich Blasen, und das
Ganze war nicht ohne Gefahr. Gesprächsstoff war, wenn man genau
sein will, überhaupt keiner da; es wurden Reste
veräußert zu unglaublichen Preisen, es war eine Liquidation
aller Bestände. Dr. Jespersen mußte sich bei uns
darauf beschränken, eine Art von Privatmann zu sein; das gerade
aber war er nie gewesen. Er war, soweit er denken konnte, im
Seelenfach angestellt. Die Seele war eine öffentliche
Institution für ihn, die er vertrat, und er brachte es zuwege,
niemals außer Dienst zu sein, selbst nicht im Umgang mit seiner
Frau, »seiner bescheidenen, treuen, durch Kindergebären
seligwerdenden Rebekka«, wie Lavater sich in einem anderen Fall
ausdrückte.
(Was übrigens meinen Vater betraf, so war seine Haltung Gott
gegenüber vollkommen korrekt und von tadelloser
Höflichkeit. In der Kirche schien es mir manchmal, als wäre
er geradezu Jägermeister bei Gott, wenn er dastand und abwartete
und sich verneigte. Maman dagegen erschien es fast verletzend,
daß jemand zu Gott in einem höflichen Verhältnis
stehen konnte. Wäre sie in eine Religion mit deutlichen und
ausführlichen Gebräuchen geraten, es wäre eine
Seligkeit für sie gewesen, stundenlang zu knien und sich
hinzuwerfen und sich recht mit dem großen Kreuz zu gebärden
vor der Brust und um die Schultern herum. Sie
lehrte mich nicht eigentlich beten, aber es war ihr eine Beruhigung,
daß ich gerne kniete und die Hände bald gekrümmt und
bald aufrecht faltete, wie es mir gerade ausdrucksvoller
schien. Ziemlich in Ruhe gelassen, machte ich frühzeitig eine
Reihe von Entwicklungen durch, die ich erst viel später in einer
Zeit der Verzweiflung auf Gott bezog, und zwar mit solcher Heftigkeit,
daß er sich bildete und zersprang, fast in demselben
Augenblick. Es ist klar, daß ich ganz von vorn anfangen
mußte hernach. Und bei diesem Anfang meinte ich manchmal, Maman
nötig zu haben, obwohl es ja natürlich richtiger war, ihn
allein durchzumachen. Und da war sie ja auch schon lange tot.)
Dr. Jespersen gegenüber konnte Maman beinah ausgelassen
sein. Sie ließ sich in Gespräche mit ihm ein, die er ernst
nahm, und wenn er dann sich reden hörte, meinte sie, das
genüge, und vergaß ihn plötzlich, als wäre er
schon fort. »Wie kann er nur«, sagte sie manchmal von ihm,
»herumfahren und hineingehen zu den Leuten, wenn sie gerade
sterben.«
Er kam auch zu ihr bei dieser Gelegenheit, aber sie hat ihn sicher
nicht mehr gesehen. Ihre Sinne gingen ein, einer nach dem andern,
zuerst das Gesicht. Es war im Herbst, man sollte schon in die Stadt
ziehen, aber da erkrankte sie gerade, oder vielmehr, sie fing gleich
an zu sterben, langsam und trostlos abzusterben an der ganzen
Oberfläche. Die Ärzte kamen, und an einem bestimmten Tag
waren sie alle zusammen da und beherrschten das ganze Haus. Es war ein
paar Stunden lang, als gehörte es nun dem Geheimrat und seinen
Assistenten und als hätten wir nichts mehr zu sagen. Aber gleich
danach verloren sie alles Interesse, kamen nur noch einzeln, wie aus
purer Höflichkeit, um eine Zigarre anzunehmen und ein Glas
Portwein. Und Maman starb indessen.
Man wartete nur noch auf Mamans einzigen Bruder, den
Grafen Christian Brahe, der, wie man sich noch erinnern wird, eine
Zeitlang in türkischen Diensten gestanden hatte, wo er, wie es
immer hieß, sehr ausgezeichnet worden war. Er kam eines Morgens
an in Begleitung eines fremdartigen Dieners, und es überraschte
mich, zu sehen, daß er größer war als Vater und
scheinbar auch älter. Die beiden Herren wechselten sofort einige
Worte, die sich, wie ich vermutete, auf Maman bezogen. Es entstand
eine Pause. Dann sagte mein Vater: »Sie ist sehr
entstellt.« Ich begriff diesen Ausdruck nicht, aber es
fröstelte mich, da ich ihn hörte. Ich hatte den Eindruck,
als ob auch mein Vater sich hätte überwinden müssen,
ehe er ihn aussprach. Aber es war wohl vor allem sein Stolz, der litt,
indem er dies zugab.
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