Oft,wenn Besuch da war, hieß es, daß Schulins sich
einschränkten. Das große, alte Schloß war abgebrannt
vor ein paar Jahren, und nun wohnten sie in den beiden engen
Seitenflügeln und schränkten sich ein. Aber das
Gästehaben lag ihnen nun einmal im Blut. Das konnten sie nicht
aufgeben. Kam jemand unerwartet zu uns, so kam er wahrscheinlich von
Schulins; und sah jemand plötzlich nach der Uhr und mußte
ganz erschrocken fort, so wurde er sicher auf Lystager erwartet.
Maman ging eigentlich schon nirgends mehr hin, aber so etwas konnten
Schulins nicht begreifen; es blieb nichts übrig, man mußte
einmal hinüberfahren. Es war im Dezember nach ein paar
frühen Schneefällen; der Schlitten war auf drei Uhr
befohlen, ich sollte mit. Man fuhr indessen nie pünktlich bei
uns. Maman, die es nicht liebte, daß der Wagen gemeldet wurde,
kam meistens viel zu früh herunter, und wenn sie niemanden fand,
so fiel ihr immer etwas ein, was schon längst hätte getan
sein sollen, und sie begann
irgendwo oben zu suchen oder zu ordnen, so daß sie kaum wieder
zu erreichen war. Schließlich standen alle und warteten. Und
saß sie endlich und war eingepackt, so zeigte es sich, daß
etwas vergessen sei, und Sieversen mußte geholt werden; denn nur
Sieversen wußte, wo es war. Aber dann fuhr man plötzlich
los, eh Sieversen wiederkam.
An diesem Tag war es überhaupt nicht recht hell geworden. Die
Bäume standen da, als wüßten sie nicht weiter im
Nebel, und es hatte etwas Rechthaberisches, dahinein zu
fahren. Zwischendurch fing es an, still weiterzuschneien, und nun
wars, als würde auch noch das Letzte ausradiert und als
führe man in ein weißes Blatt. Es gab nichts als das
Geläut, und man konnte nicht sagen, wo es eigentlich war. Es kam
ein Moment, da es einhielt, als wäre nun die letzte Schelle
ausgegeben; aber dann sammelte es sich wieder und war beisammen und
streute sich wieder aus dem Vollen aus. Den Kirchturm links konnte man
sich eingebildet haben. Aber der Parkkontur war plötzlich da,
hoch, beinahe über einem, und man befand sich in der langen
Allee. Das Geläut fiel nicht mehr ganz ab; es war, als
hängte es sich in Trauben rechts und links an die
Bäume. Dann schwenkte man und fuhr rund um etwas herum und rechts
an etwas vorbei und hielt in der Mitte.
Georg hatte ganz vergessen, daß das Haus nicht da war, und
für uns alle war es in diesem Augenblick da. Wir stiegen die
Freitreppe hinauf, die auf die alte Terrasse führte, und
wunderten uns nur, daß es ganz dunkel sei. Auf einmal ging eine
Tür, links unten hinter uns, und jemand rief:
»Hierher!« und hob und schwenkte ein dunstiges Licht. Mein
Vater lachte: »Wir steigen hier herum wie die Gespenster«,
und er half uns wieder die Stufen zurück.
»Aber es war doch eben ein Haus da«, sagte Maman und
konnte sich gar nicht so rasch an Wjera Schulin gewöhnen, die
warm und lachend herausgelaufen war. Nun mußte man
natürlich schnell hinein, und an das Haus war nicht mehr zu
denken. In einem engen Vorzimmer wurde man ausgezogen, und dann war
man gleich mitten drin unter den Lampen und der Wärme
gegenüber.
Diese Schulins waren ein mächtiges Geschlecht selbständiger
Frauen. Ich weiß nicht, ob es Söhne gab. Ich erinnere mich
nur dreier Schwestern; der ältesten, die an einen Marchese in
Neapel verheiratet gewesen war, von dem sie sich nun langsam unter
vielen Prozessen schied. Dann kam Zoë, von der es hieß,
daß es nichts gab, was sie nicht wußte. Und vor allem war
Wjera da, diese warme Wjera; Gott weiß, was aus ihr geworden
ist. Die Gräfin, eine Narischkin, war eigentlich die vierte
Schwester und in gewisser Beziehung die jüngste. Sie wußte
von nichts und mußte in einem fort von ihren Kindern
unterrichtet werden. Und der gute Graf Schulin fühlte sich, als
ob er mit allen diesen Frauen verheiratet sei, und ging herum und
küßte sie, wie es eben kam.
Vor der Hand lachte er laut und begrüßte uns eingehend. Ich
wurde unter den Frauen weitergegeben und befühlt und
befragt. Aber ich hatte mir fest vorgenommen, wenn das vorüber
sei, irgendwie hinauszugleiten und mich nach dem Haus umzusehen. Ich
war überzeugt, daß es heute da sei. Das Hinauskommen war
nicht so schwierig; zwischen allen den Kleidern kam man unten durch
wie ein Hund, und die Tür nach dem Vorraum zu war noch
angelehnt. Aber draußen die äußere wollte nicht
nachgeben. Da waren mehrere Vorrichtungen, Ketten und Riegel, die ich
nicht richtig behandelte in der Eile. Plötzlich ging sie doch
auf, aber mit lautem Geräusch, und eh ich draußen war,
wurde ich festgehalten und zurückgezogen.
»Halt, hier wird nicht ausgekniffen«, sagte Wjera Schulin
belustigt. Sie beugte sich zu mir, und ich war entschlossen, dieser
warmen Person nichts zu verraten. Sie aber, als ich nichts sagte, nahm
ohne weiters an, eine Nötigung meiner Natur hätte mich an
die Tür getrieben; sie ergriff meine
Hand und fing schon an zu gehen und wollte mich, halb vertraulich,
halb hochmütig, irgendwohin mitziehen. Dieses intime
Mißverständnis kränkte mich über die
Maßen. Ich riß mich los und sah sie böse
an. »Das Haus will ich sehen«, sagte ich stolz. Sie
begriff nicht.
»Das große Haus draußen an der Treppe.«
»Schaf«, machte sie und haschte nach mir, »da ist
doch gar kein Haus mehr.« Ich bestand darauf.
»Wir gehen einmal bei Tage hin«, schlug sie einlenkend
vor, »jetzt kann man da nicht herumkriechen. Es sind Löcher
da, und gleich dahinter sind Papas Fischteiche, die nicht zufrieren
dürfen. Da fällst du hinein und wirst ein Fisch.«
Damit schob sie mich vor sich her wieder in die hellen Stuben. Da
saßen sie alle und sprachen, und ich sah sie mir der Reihe nach
an: die gehen natürlich nur hin, wenn es nicht da ist, dachte ich
verächtlich; wenn Maman und ich hier wohnten, so wäre es
immer da. Maman sah zerstreut aus, während alle zugleich
redeten. Sie dachte gewiß an das Haus.
Zoë setzte sich zu mir und stellte mir Fragen. Sie hatte ein
gutgeordnetes Gesicht, in dem sich das Einsehen von Zeit zu Zeit
erneute, als sähe sie beständig etwas ein. Mein Vater
saß etwas nach rechts geneigt und hörte der Marchesin zu,
die lachte. Graf Schulin stand zwischen Maman und seiner Frau und
erzählte etwas. Aber die Gräfin unterbrach ihn, sah ich,
mitten im Satze.
»Nein, Kind, das bildest du dir ein«, sagte der Graf
gutmütig, aber er hatte auf einmal dasselbe beunruhigte Gesicht,
das er vorstreckte über den beiden Damen. Die Gräfin war von
ihrer sogenannten Einbildung nicht abzubringen. Sie sah ganz
angestrengt aus, wie jemand, der nicht gestört sein will. Sie
machte kleine, abwinkende Bewegungen mit ihren weichen
Ringhänden, jemand sagte »sst«, und es wurde
plötzlich ganz still.
Hinter den Menschen drängten sich die großen
Gegenstände aus dem alten Hause, viel zu nah. Das schwere
Familiensilber glänzte und wölbte sich, als sähe man es
durch Vergrößerungsgläser. Mein Vater sah sich
befremdet um.
»Mama riecht«, sagte Wjera Schulin hinter ihm, »da
müssen wir immer alle still sein, sie riecht mit den
Ohren«, dabei aber stand sie selbst mit hochgezogenen
Augenbrauen da, aufmerksam und ganz Nase.
Die Schulins waren in dieser Beziehung ein bißchen eigen seit
dem Brande. In den engen, überheizten Stuben kam jeden Augenblick
ein Geruch auf, und dann untersuchte man ihn, und jeder gab seine
Meinung ab. Zoë machte sich am Ofen zu tun, sachlich und
gewissenhaft, der Graf ging umher und stand ein wenig in jeder Ecke
und wartete; »hier ist es nicht«, sagte er dann. Die
Gräfin war aufgestanden und wußte nicht, wo sie suchen
sollte. Mein Vater drehte sich langsam um sich selbst, als hätte
er den Geruch hinter sich. Die Marchesin, die sofort angenommen hatte,
daß es ein garstiger Geruch sei, hielt ihr Taschentuch vor und
sah von einem zum andern, ob es vorüber wäre. »Hier,
hier«, rief Wjera von Zeit zu Zeit, als hätte sie ihn. Und
um jedes Wort herum war es merkwürdig still. Was mich angeht, so
hatte ich fleißig mitgerochen. Aber auf einmal (war es die Hitze
in den Zimmern oder das viele nahe Licht) überfiel mich zum
erstenmal in meinem Leben etwas wie Gespensterfurcht. Es wurde mir
klar, daß alle die deutlichen großen Menschen, die eben
noch gesprochen und gelacht hatten, gebückt herumgingen und sich
mit etwas Unsichtbarem beschäftigten; daß sie zugaben,
daß da etwas war, was sie nicht sahen. Und es war schrecklich,
daß es stärker war als sie alle.
Meine Angst steigerte sich. Mir war, als könnte das, was sie
suchten, plötzlich aus mir ausbrechen wie ein Ausschlag; und dann
würden sie es sehen und nach mir zeigen. Ganz
verzweifelt sah ich nach Maman hinüber. Sie saß
eigentümlich gerade da, mir kam vor, daß sie auf mich
wartete. Kaum war ich bei ihr und fühlte, daß sie innen
zitterte, so wußte ich, daß das Haus jetzt erst wieder
verging.
»Malte, Feigling«, lachte es irgendwo. Es war Wjeras
Stimme. Aber wir ließen einander nicht los und ertrugen es
zusammen; und wir blieben so, Maman und ich, bis das Haus wieder ganz
vergangen war.
|