Es giebt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in
die Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder
vergessen. Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins
Gehör gerät, so entwickelt es sich dort, es kriecht
gleichsam aus, und man hat Fälle gesehen, wo es bis ins Gehirn
vordrang und in diesem Organ verheerend gedieh, ähnlich den
Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase eindringen.
Dieses Wesen ist der Nachbar.
Nun, ich habe, seit ich so vereinzelt herumkomme, unzählige
Nachbaren gehabt; obere und untere, rechte und linke, manchmal alle
vier Arten zugleich. Ich könnte einfach die Geschichte meiner
Nachbaren schreiben; das wäre ein Lebenswerk. Es wäre
freilich mehr die Geschichte der Krankheitserscheinungen, die sie in
mir erzeugt haben;
aber das teilen sie mit allen derartigen Wesen, daß sie nur in
den Störungen nachzuweisen sind, die sie in gewissen Geweben
hervorrufen.
Ich habe unberechenbare Nachbaren gehabt und sehr
regelmäßige. Ich habe gesessen und das Gesetz der ersten
herauszufinden versucht; denn es war klar, daß auch sie eines
hatten. Und wenn die pünktlichen einmal am Abend ausblieben, so
hab ich mir ausgemalt, was ihnen könnte zugestoßen sein,
und habe mein Licht brennen lassen und mich geängstigt wie eine
junge Frau. Ich habe Nachbaren gehabt, die gerade haßten, und
Nachbaren, die in eine heftige Liebe verwickelt waren; oder ich
erlebte es, daß bei ihnen eines in das andere umsprang mitten in
der Nacht, und dann war natürlich an Schlafen nicht zu denken. Da
konnte man überhaupt beobachten, daß der Schlaf durchaus
nicht so häufig ist, wie man meint. Meine beiden Petersburger
Nachbaren zum Beispiel gaben nicht viel auf Schlaf. Der eine stand und
spielte die Geige, und ich bin sicher, daß er dabei
hinübersah in die überwachen Häuser, die nicht
aufhörten hell zu sein in den unwahrscheinlichen
Augustnächten. Von dem anderen zur Rechten weiß ich
allerdings,
daß er lag; er stand zu meiner Zeit überhaupt nicht mehr
auf. Er hatte sogar die Augen geschlossen; aber man konnte nicht
sagen, daß er schlief. Er lag und sagte lange Gedichte her,
Gedichte von Puschkin und Nekrassow, in dem Tonfall, in dem Kinder
Gedichte hersagen, wenn man es von ihnen verlangt. Und trotz der Musik
meines linken Nachbars, war es dieser mit seinen Gedichten, der sich
in meinem Kopfe einpuppte, und Gott weiß, was da ausgekrochen
wäre, wenn nicht der Student, der ihn zuweilen besuchte, sich
eines Tages in der Tür geirrt hätte. Er erzählte mir
die Geschichte seines Bekannten, und es ergab sich, daß sie
gewissermaßen beruhigend war. Jedenfalls war es eine
wörtliche, eindeutige Geschichte, an der die vielen Würmer
meiner Vermutungen zugrunde gingen.
Dieser kleine Beamte da nebenan war eines Sonntags auf die Idee
gekommen, eine merkwürdige Aufgabe zu lösen. Er nahm an,
daß er recht lange leben würde, sagen wir noch fünfzig
Jahre. Die Großmütigkeit, die er sich damit erwies,
versetzte ihn in eine glänzende Stimmung. Aber nun wollte er sich
selber übertreffen. Er überlegte, daß man diese Jahre
in Tage, in Stunden, in Minuten, ja, wenn man es aushielt, in Sekunden
umwechseln könne, und er rechnete und rechnete, und es kam eine
Summe heraus, wie er noch nie eine gesehen hatte. Ihn schwindelte. Er
mußte sich ein wenig erholen. Zeit war kostbar, hatte er immer
sagen hören, und es wunderte ihn, daß man einen Menschen,
der eine solche Menge Zeit besaß, nicht geradezu bewachte. Wie
leicht konnte er bestohlen werden. Dann aber kam seine gute, beinah
ausgelassene Laune wieder, er zog seinen Pelz an, um etwas breiter und
stattlicher auszusehen, und machte sich das ganze fabelhafte Kapital
zum Geschenk, indem er sich ein bißchen herablassend
anredete:
»Nikolaj Kusmitsch«, sagte er wohlwollend und stellte sich
vor, daß er außerdem noch, ohne Pelz, dünn und
dürftig auf dem Roßhaarsofa säße, »ich
hoffe, Nikolaj Kusmitsch«, sagte er, »Sie werden sich
nichts auf Ihren Reichtum einbilden. Bedenken Sie immer, daß
das nicht die Hauptsache ist, es giebt arme Leute, die durchaus
respekta bel sind; es giebt sogar verarmte Edelleute und
Generalstöchter, die auf der Straße herumgehen und etwas
verkaufen.« Und der Wohltäter führte noch allerlei in
der ganzen Stadt bekannte Beispiele an.
Der andere Nikolaj Kusmitsch, der auf dem Roßhaarsofa, der
Beschenkte, sah durchaus noch nicht übermütig aus, man
durfte annehmen, daß er vernünftig sein würde. Er
änderte in der Tat nichts an seiner bescheidenen,
regelmäßigen Lebensführung, und die Sonntage brachte
er nun damit zu, seine Rechnung in Ordnung zu bringen. Aber
schon nach ein paar Wochen fiel es ihm auf, daß er unglaublich
viel ausgäbe. Ich werde mich einschränken, dachte er. Er
stand früher auf, er wusch sich weniger ausführlich, er
trank stehend seinen Tee, er lief ins Bureau und kam viel zu
früh. Er ersparte überall ein bißchen Zeit. Aber am
Sonntag war nichts Erspartes da. Da begriff er, daß er betrogen
sei. Ich hätte nicht wechseln dürfen, sagte er sich. Wie
lange hat man an so einem Jahr. Aber da, dieses infame Kleingeld, das
geht hin, man weiß nicht wie. Und es wurde ein
häßlicher Nachmittag, als er in der Sofaecke saß und
auf den Herrn im
Pelz wartete, von dem er seine Zeit zurückverlangen wollte. Er
wollte die Tür verriegeln und ihn nicht fortlassen, bevor er
nicht damit herausgerückt war. »In Scheinen«, wollte
er sagen, »meinetwegen zu zehn Jahren.« Vier Scheine zu
zehn und einer zu fünf, und den Rest sollte er behalten, in des
Teufels Namen. Ja, er war bereit, ihm den Rest zu schenken, nur damit
keine Schwierigkeiten entstünden. Gereizt saß er im
Roßhaarsofa und wartete, aber der Herr kam nicht. Und er,
Nikolaj Kusmitsch, der sich vor ein paar Wochen mit Leichtigkeit so
hatte dasitzen sehen, er konnte sich jetzt, da er wirklich saß,
den andern Nikolaj Kusmitsch, den im Pelz, den Großmütigen,
nicht vorstellen. Weiß der Himmel, was aus ihm geworden war,
wahrscheinlich war man seinen Betrügereien auf die Spur gekommen,
und er saß nun schon irgendwo fest. Sicher hatte er nicht ihn
allein ins Unglück gebracht. Solche Hochstapler arbeiten immer
im großen.
Es fiel ihm ein, daß es eine staatliche Behörde geben
müsse, eine Art Zeitbank, wo er wenigstens einen Teil seiner
lumpigen Sekunden umwechseln könne. Echt waren sie doch
schließlich. Er hatte nie von einer solchen Anstalt gehört,
aber im Adreßbuch würde gewiß etwas Derartiges zu
finden sein, unter Z, oder vielleicht auch hieß es >Bank
für Zeit<; man konnte leicht unter B nachsehen. Eventuell war
auch der Buchstabe K zu berücksichtigen, denn es war
anzunehmen, daß es ein kaiserliches Institut war; das entsprach
seiner Wichtigkeit.
Später versicherte Nikolaj Kusmitsch immer, daß er an jenem
Sonntag Abend, obwohl er sich begreiflicherweise in recht
gedrückter Stimmung befand, nichts getrunken habe. Er war also
völlig nüchtern, als das Folgende passierte, soweit man
überhaupt sagen kann, was da geschah. Vielleicht, daß er
ein bißchen in seiner Ecke eingeschlummert war, das ließe
sich immerhin denken. Dieser kleine Schlaf verschaffte ihm
zunächst lauter Erleichterung. Ich habe mich mit den Zahlen
eingelassen, redete er sich zu. Nun, ich verstehe nichts von
Zahlen. Aber es ist klar, daß man ihnen keine zu große
Bedeutung einräumen darf; sie sind doch sozusagen nur eine
Einrichtung von Staats wegen, um der Ordnung willen. Niemand hatte
doch je anderswo als auf dem Papier eine gesehen. Es war
ausgeschlossen, daß einem zum Beispiel in einer Gesellschaft
eine Sieben oder eine Fünfundzwanzig begegnete. Da gab es die
einfach nicht. Und dann war da diese kleine Verwechslung vorgefallen,
aus purer Zerstreutheit: Zeit und Geld, als ob sich das nicht
auseinanderhalten ließe. Nikolaj Kusmitsch lachte beinah. Es war
doch gut, wenn man sich so auf die Schliche kam, und rechtzeitig, das
war das Wichtige, rechtzeitig. Nun sollte es anders werden. Die Zeit,
ja, das war eine peinliche Sache. Aber betraf es etwa ihn allein, ging
sie nicht auch den andern so, wie er es herausgefunden hatte, in
Sekunden, auch wenn sie es nicht wußten?
Nikolaj Kusmitsch war nicht ganz frei von Schadenfreude: Mag sie
immerhin -, wollte er eben denken, aber da geschah etwas
Eigentümliches. Es wehte plötzlich an seinem Gesicht, es
zog ihm an den Ohren vorbei, er fühlte es an den Händen. Er
riß die Augen auf. Das Fenster war fest verschlossen. Und wie er
da so mit weiten Augen im dunkeln Zimmer saß, da begann er zu
verstehen, daß das, was er nun verspürte, die wirkliche
Zeit sei, die vorüberzog. Er
erkannte sie förmlich, alle diese Sekündchen, gleich lau,
eine wie die andere, aber schnell, aber schnell. Weiß der
Himmel, was sie noch vorhatten. Daß gerade ihm das
widerfahren mußte, der jede Art von Wind als Beleidigung
empfand. Nun würde man dasitzen, und es würde immer so
weiterziehen, das ganze Leben lang. Er sah alle die Neuralgien
voraus, die man sich dabei holen würde, er war außer sich
vor Wut. Er sprang auf, aber die Uberraschungen waren noch nicht zu
Ende. Auch unter seinen Füßen war etwas wie eine Bewegung,
nicht nur eine, mehrere, merkwürdig durcheinanderschwankende
Bewegungen. Er erstarrte vor Entsetzen: konnte das die Erde sein?
Gewiß, das war die Erde. Sie bewegte sich ja doch. In der Schule
war davon gesprochen worden, man war etwas eilig darüber
weggegangen, und später wurde es gern vertuscht; es galt nicht
für passend, davon zu sprechen. Aber nun, da er einmal
empfindlich geworden war, bekam er auch das zu fühlen. Ob die
anderen es fühlten? Vielleicht, aber sie zeigten es
nicht. Wahrscheinlich machte es ihnen nichts aus, diesen
Seeleuten. Nikolaj Kusmitsch aber war ausgerechnet in diesem Punkt
etwas delikat, er vermied sogar die Straßenbahnen. Er taumelte
im Zimmer umher wie auf Deck und mußte sich rechts und links
halten. Zum Unglück fiel ihm noch etwas von der schiefen Stellung
der Erdachse ein. Nein, er konnte alle diese Bewegungen nicht
vertragen. Er fühlte sich elend. Liegen und ruhig halten, hatte
er einmal irgendwo gelesen. Und seither lag Nikolaj Kusmitsch.
Er lag und hatte die Augen geschlossen. Und es gab Zeiten, weniger
bewegte Tage sozusagen, wo es ganz erträglich war. Und dann
hatte er sich das ausgedacht mit den Gedichten. Man sollte nicht
glauben, wie das half. Wenn man so ein Gedicht langsam hersagte, mit
gleichmäßiger Betonung der Endreime, dann war
gewissermaßen etwas Stabiles da, worauf man sehen konnte,
innerlich versteht sich. Ein Glück, daß er alle diese
Gedichte wußte. Aber er
hatte sich immer ganz besonders für Literatur interessiert. Er
beklagte sich nicht über seinen Zustand, versicherte mir der
Student, der ihn lange kannte. Nur hatte sich mit der Zeit eine
übertriebene Bewunderung für die in ihm herausgebildet,
die, wie der Student, herumgingen und die Bewegung der Erde
vertrugen.
Ich erinnere mich dieser Geschichte so genau, weil sie mich ungemein
beruhigte. Ich kann wohl sagen, ich habe nie wieder einen so
angenehmen Nachbar gehabt, wie diesen Nikolaj Kusmitsch, der sicher
auch mich bewundert hätte.
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