Ich habe niemals gewagt, von ihm eine Zeitung zu kaufen. Ich
bin nicht sicher, daß er wirklich immer einige Nummern bei sich
hat, wenn er sich außen am Luxembourg-Garten langsam hin und
zurück schiebt den ganzen Abend lang. Er kehrt dem Gitter den
Rücken, und seine Hand streift den Steinrand, auf dem die
Stäbe aufstehen. Er macht sich so flach, daß täglich
viele vorübergehen, die ihn nie gesehen haben. Zwar hat er noch
einen Rest von Stimme in sich und mahnt; aber das ist nicht anders als
ein Geräusch in einer Lampe oder im Ofen oder wenn es in
eigentümlichen Abständen in einer Grotte tropft. Und die
Welt ist so eingerichtet, daß es Menschen giebt, die ihr ganzes
Leben lang in der Pause vorbeikommen, wenn er, lautloser als alles was
sich bewegt, weiter rückt wie ein Zeiger, wie eines Zeigers
Schatten, wie die Zeit.
Wie unrecht hatte ich, ungern hinzusehen. Ich schäme mich
aufzuschreiben, daß ich oft in seiner Nähe den Schritt der
andern annahm, als wüßte ich nicht um ihn. Dann hörte
ich es in ihm »La Presse« sagen und gleich darauf noch
einmal und ein drittes Mal in raschen Zwischenräumen. Und die
Leute neben mir sahen sich um und suchten die Stimme. Nur ich tat
eiliger als alle, als wäre mir nichts aufgefallen, als wäre
ich innen überaus beschäftigt.
Und ich war es in der Tat. Ich war beschäftigt, ihn mir
vorzustellen, ich unternahm die Arbeit, ihn einzubilden, und der
Schweiß trat mir aus vor Anstrengung. Denn ich mußte ihn
machen wie man einen Toten macht, für den keine Beweise mehr da
sind, keine Bestandteile; der ganz und gar innen zu leisten ist. Ich
weiß jetzt, daß es mir ein wenig half, an die vielen
abgenommenen Christusse aus streifigem Elfenbein zu denken, die bei
allen Althändlern herumliegen. Der Gedanke an irgendeine
Pietà trat vor und ab -: dies alles wahrscheinlich nur, um eine
gewisse Neigung hervorzurufen, in der sein langes Gesicht sich hielt,
und den trostlosen Bartnachwuchs im Wangenschatten und die
endgültig schmerzvolle Blindheit seines verschlossenen Ausdrucks,
der schräg aufwärts gehalten war. Aber es war außerdem
so vieles, was zu ihm gehörte; denn dies begriff ich schon
damals, daß nichts an ihm nebensächlich sei: nicht die Art,
wie der Rock oder der Mantel, hinten abstehend, überall den
Kragen sehen ließ, diesen niedrigen Kragen, der in einem
großen Bogen um den gestreckten, nischigen Hals stand, ohne ihn
zu berühren; nicht die grünlich schwarze Krawatte, die weit
um das Ganze herumgeschnallt war; und ganz besonders nicht der Hut,
ein alter,
hochgewölbter, steifer Filzhut, den er trug wie alle Blinden ihre
Hüte tragen: ohne Bezug zu den Zeilen des Gesichts, ohne die
Möglichkeit, aus diesem Hinzukommenden und sich selbst eine neue
äußere Einheit zu bilden; nicht anders als irgendeinen
verabredeten fremden Gegenstand. In meiner Feigheit, nicht
hinzusehen, brachte ich es so weit, daß das Bild dieses Mannes
sich schließlich oft auch ohne Anlaß stark und schmerzhaft
in mir zusammenzog zu so hartem Elend, daß ich mich, davon
bedrängt, entschloß, die zunehmende Fertigkeit meiner
Einbildung durch die auswärtige Tatsache einzuschüchtern und
aufzuheben. Es war gegen Abend. Ich nahm mir vor, sofort aufmerksam an
ihm vorbeizugehen.
Nun muß man wissen: es ging auf den Frühling zu. Der
Tagwind hatte sich gelegt, die Gassen waren lang und befriedigt; an
ihrem Ausgang schimmerten Häuser, neu wie frische Bruchstellen
eines weißen Metalls. Aber es war ein Metall, das einen
überraschte durch seine Leichtigkeit. In den breiten,
fortlaufenden Straßen zogen viele Leute durcheinander, fast ohne
die Wagen zu fürchten, die selten waren. Es mußte ein
Sonntag sein. Die Turmaufsätze von Saint-Sulpice zeigten sich
heiter und unerwartet hoch in der Windstille, und durch die schmalen,
beinah römischen Gassen sah man unwillkürlich hinaus in die
Jahreszeit. Im Garten und davor war so viel Bewegung von Menschen,
daß ich ihn nicht gleich sah. Oder erkannte ich ihn zuerst nicht
zwischen der Menge durch?
Ich wußte sofort, daß meine Vorstellung wertlos war. Die
durch keine Vorsicht oder Verstellung eingeschränkte
Hingegebenheit seines Elends übertraf meine Mittel. Ich hatte
weder den Neigungswinkel seiner Haltung begriffen gehabt noch das
Entsetzen, mit dem die Innenseite seiner Lider ihn fortwährend zu
erfüllen schien. Ich hatte nie an seinen Mund gedacht, der
eingezogen war wie die Öffnung eines Ablaufs. Möglicherweise
hatte er Erinnerungen; jetzt
aber kam nie mehr etwas zu seiner Seele hinzu
als täglich das amorphe Gefühl des Steinrands hinter ihm, an
dem seine Hand sich abnutzte. Ich war stehngeblieben, und während
ich das alles fast gleichzeitig sah, fühlte ich, daß er
einen anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntägliche
Halsbinde; sie war schräg in gelben und violetten Vierecken
gemustert, und was den Hut angeht, so war es ein billiger neuer
Strohhut mit einem grünen Band. Es liegt natürlich nichts an
diesen Farben, und es ist kleinlich, daß ich sie behalten
habe. Ich will nur sagen, daß sie an ihm waren wie das Weicheste
auf eines Vogels Unterseite. Er selbst hatte keine Lust daran, und wer
von allen (ich sah mich um) durfte meinen, dieser Staat wäre um
seinetwillen?
Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du
also. Es giebt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle
vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche unge heuere
Verpflichtung läge in deiner Gewißheit. Und doch, nun wird
mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du
Wohlgefallen. Daß wir doch lernten, vor allem aushalten und
nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche die
gnädigen? Du allein weißt es.
Wenn es wieder Winter wird und ich muß einen neuen Mantel haben,
- gieb mir, daß ich ihn so trage, solang er neu ist.
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