Einmal noch, Abelone, in den letzten Jahren fühlte ich
und sah dich ein, unerwartet, nachdem ich lange
nicht an dich gedacht hatte.
Das war in Venedig, im Herbst, in einem jener Salons, in denen Fremde
sich vorübergehend um die Dame des Hauses versammeln, die fremd
ist wie sie. Diese Leute stehen herum mit ihrer Tasse Tee und sind
entzückt, sooft ein kundiger Nachbar sie kurz und verkappt nach
der Tür dreht, um ihnen einen Namen zuzuflüstern, der
venezianisch klingt. Sie sind auf die äußersten Namen
gefaßt, nichts kann sie überraschen; denn so sparsam sie
sonst auch im Erleben sein mögen, in dieser Stadt geben sie sich
nonchalant den übertriebensten Möglichkeiten hin. In ihrem
gewöhnlichen Dasein verwechseln sie beständig das
Außerordentliche mit dem Verbotenen, so daß die Erwartung
des Wunderbaren, die sie sich nun gestatten, als ein grober,
ausschweifender Ausdruck in ihre Gesichter tritt. Was ihnen zu Hause
nur momentan in Konzerten passiert oder wenn sie mit einem Roman
allein sind, das tragen sie unter diesen schmeichelnden
Verhältnissen als berechtigten Zustand zur Schau. Wie sie, ganz
unvorbereitet, keine Gefahr begreifend, von den fast tödlichen
Geständnissen der Musik sich anreizen lassen wie von
körperlichen Indiskretionen, so überliefern sie sich, ohne
die Existenz Venedigs
im geringsten zu bewältigen, der lohnenden Ohnmacht der
Gondeln. Nicht mehr neue Eheleute, die während der ganzen Reise
nur gehässige Repliken für einander hatten, versinken in
schweigsame Verträglichkeit; über den Mann kommt die
angenehme Müdigkeit seiner Ideale, während sie sich jung
fühlt und den trägen Einheimischen aufmunternd zunickt mit
einem Lächeln, als hätte sie Zähne aus Zucker, die sich
beständig auflösen. Und hört man hin, so ergiebt es
sich, daß sie morgen reisen oder übermorgen oder Ende der
Woche.
Da stand ich nun zwischen ihnen und freute mich, daß ich nicht
reiste. In kurzem würde es kalt sein. Das weiche, opiatische
Venedig ihrer Vorurteile und Bedürfnisse verschwindet mit diesen
somnolenten Ausländern, und eines Morgens ist das andere da, das
wirkliche, wache, bis zum Zerspringen spröde, durchaus nicht
erträumte: das mitten im Nichts auf versenkten Wäldern
gewollte, erzwungene und endlich so durch und durch vorhandene
Venedig. Der abgehärtete, auf das Nötigste beschränkte
Körper, durch den das nachtwache Arsenal das Blut seiner Arbeit
trieb, und dieses Körpers penetranter, sich fortwährend
erweiternder Geist, der stärker war als der Duft aromatischer
Länder. Der suggestive Staat, der das Salz und Glas seiner Armut
austauschte gegen die Schätze der Völker. Das schöne
Gegengewicht der Welt, das bis in seine Zierate hinein voll latenter
Energien steht, die sich immer feiner vernervten -: dieses
Venedig.
Das Bewußtsein, daß ich es kannte, überkam mich unter
allen diesen sich täuschenden Leuten mit so viel Widerspruch,
daß ich aufsah, um mich irgendwie mitzuteilen. War es denkbar,
daß in diesen Sälen nicht einer war, der unwillkürlich
darauf wartete, über das Wesen dieser Umgebung aufgeklärt
zu sein? Ein junger Mensch, der es sofort begriff, daß hier
nicht ein Genuß aufgeschlagen war,
sondern ein Beispiel des Willens, wie es nirgends anfordernder und
strenger sich finden ließ? Ich ging umher, meine Wahrheit
beunruhigte mich. Da sie mich hier unter 50 vielen ergriffen hatte,
brachte sie den Wunsch mit, ausgesprochen, verteidigt, bewiesen zu
sein. Die groteske Vorstellung entstand in mir, wie ich im
nächsten Augenblick in die Hände klatschen würde aus
Haß gegen das von allen zerredete Mißverständnis.
In dieser lächerlichen Stimmung bemerkte ich sie. Sie stand
allein vor einem strahlenden Fenster und betrachtete mich; nicht
eigentlich mit den Augen, die ernst und nachdenklich waren, sondern
geradezu mit dem Mund, der den offenbar bösen Ausdruck meines
Gesichtes ironisch nachahmte. Ich fühlte sofort die ungeduldige
Spannung in meinen Zügen und nahm ein gelassenes Gesicht an,
worauf ihr Mund natürlich wurde und hochmütig. Dann, nach
kurzem Bedenken, lächelten wir einander gleichzeitig zu.
Sie erinnerte, wenn man will, an ein gewisses Jugendbildnis der
schönen Benedicte von Qualen, die in Baggesens Leben eine Rolle
spielt. Man konnte die dunkle Stille ihrer Augen nicht sehen ohne die
klare Dunkelheit ihrer Stimme zu vermuten. Übrigens war die
Flechtung ihres Haars und der Halsausschnitt ihres hellen Kleides so
kopenhagisch, daß ich entschlossen war, sie dänisch
anzureden.
Ich war aber noch nicht nahe genug, da schob sich von der andern Seite
eine Strömung zu ihr hin; unsere gästeglückliche
Gräfin selbst, in ihrer warmen, begeisterten Zerstreutheit,
stürzte sich mit einer Menge Beistand über sie, um sie auf
der Stelle zum Singen abzuführen. Ich war sicher, daß das
junge Mädchen sich damit entschuldigen würde, daß
niemand in der Gesellschaft Interesse haben könne, dänisch
singen zu hören. Dies tat sie auch, sowie sie zu Worte kam. Das
Gedränge um die lichte Gestalt herum wurde eifriger; jemand
wußte, daß sie auch deutsch singe. »Und
italienisch«, ergänzte eine lachende Stimme mit
boshafter Überzeugung. Ich wußte keine Ausrede, die ich ihr
hätte wünschen können, aber ich zweifelte nicht,
daß sie widerstehen würde. Schon breitete sich eine
trockene Gekränktheit über die vom langen Lächeln
abgespannten Gesichter der Überredenden aus, schon trat die gute
Gräfin, um sich nichts zu vergeben, mitleidig und würdig
einen Schritt ab, da, als es durchaus nicht mehr nötig war, gab
sie nach. Ich fühlte, wie ich blaß wurde vor
Enttäuschung; mein Blick füllte sich mit Vorwurf, aber ich
wandte mich weg, es lohnte nicht, sie das sehn zu lassen. Sie aber
machte sich von den andern los und war auf einmal neben mir. Ihr Kleid
schien mich an, der blumige Geruch ihrer Wärme stand um mich.
»Ich will wirklich singen«, sagte sie auf dänisch
meine Wange entlang, »nicht weil sie's verlangen, nicht zum
Schein: weil ich jetzt singen muß.«
Aus ihren Worten brach dieselbe böse Unduldsamkeit, von welcher
sie mich eben befreit hatte.
Ich folgte langsam der Gruppe, mit der sie sich entfernte. Aber an
einer hohen Tür blieb ich zurück und ließ die Menschen
sich verschieben und ordnen. Ich lehnte mich an das schwarzspiegelnde
Türinnere und wartete. Jemand fragte mich, was sich vorbereite,
ob man singen werde. Ich gab vor, es nicht zu wissen. Während ich
log, sang sie schon.
Ich konnte sie nicht sehen. Es wurde allmählich Raum um eines
jener italienischen Lieder, die die Fremden für sehr echt halten,
weil sie von so deutlicher Übereinkunft sind. Sie, die es sang,
glaubte nicht daran. Sie hob es mit Mühe hinauf, sie nahm es viel
zu schwer. An dem Beifall vorne konnte man merken, wann es zu Ende
war. Ich war traurig und beschämt. Es entstand einige Bewegung,
und ich nahm mir vor, sowie jemand gehen würde, mich
anzuschließen.
Aber da wurde es mit einemmal still. Eine Stille ergab
sich, die eben noch niemand für möglich gehalten hätte;
sie dauerte an, sie spannte sich, und jetzt erhob sich in ihr die
Stimme. (Abelone, dachte ich. Abelone.) Diesmal war sie stark, voll
und doch nicht schwer; aus einem Stück, ohne Bruch, ohne Naht. Es
war ein unbekanntes deutsches Lied. Sie sang es merkwürdig
einfach, wie etwas Notwendiges. Sie sang:
»Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
meinetwillen:
wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertrügen?
(kurze Pause und zögernd):
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.«
Wieder die Stille. Gott weiß, wer sie machte. Dann rührten
sich die Leute, stießen aneinander, entschuldigten sich,
hüstelten. Schon wollten sie in ein allgemeines verwischendes
Geräusch übergehen, da brach plötzlich die Stimme aus,
entschlossen, breit und gedrängt:
»Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertau schen. Eine
Weile bist dus, dann wieder ist es das Rauschen, oder es ist ein Duft
ohne Rest.
Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren, du nur, du wirst immer
wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.«
Niemand hatte es erwartet. Alle standen gleichsam geduckt unter
dieser Stimme. Und zum Schluß war eine solche Sicherheit in ihr,
als ob sie seit Jahren gewußt hätte, daß sie in
diesem Augenblick würde einzusetzen haben.
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