Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte
des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt
werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs
heran, er wußte es nicht anders und gewöhnte sich in ihre
Herzweiche, da er ein Kind war.
Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er hätte es
nicht sagen können, aber wenn er draußen herumstrich den
ganzen Tag und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so wars,
weil auch sie ihn liebten:
weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme, Erwartung und
Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte, ohne zu freuen
oder zu kränken. Was er aber damals meinte, das war die innige
Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal früh in den Feldern
mit solcher Reinheit ergriff, daß er zu laufen begann, um nicht
Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in dem
der Morgen zum Bewußtsein kommt.
Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm
aus. Unwillkürlich verließ er den Fußpfad und lief
weiter feldein, die Arme ausgestreckt, als könnte er in dieser
Breite mehrere Richtungen auf einmal bewältigen. Und dann warf er
sich irgendwo hinter eine Flecke, und niemand legte Wert auf ihn. Er
schälte sich eine Flöte, er schleuderte einen Stein nach
einem kleinen Raubtier, er neigte sich vor und zwang einen Käfer
umzukehren: dies alles wurde kein Schicksal, und die Himmel gingen wie
über Natur. Schließlich kam der Nachmittag mit lauter
Einfällen; man war ein Bucanier auf der Insel Tortuga, und es lag
keine Verpflichtung darin, es zu sein; man belagerte Campêche,
man eroberte Vera-Cruz; es war möglich, das ganze Heer zu sein
oder ein Anführer zu Pferd oder ein Schiff auf dem Meer: je
nachdem man sich fühlte. Fiel es einem aber ein, hinzuknien, so
war man rasch Deodat von Gozon und hatte den Drachen erlegt und
vernahm, ganz heiß, daß dieses Heldentum hoffährtig
war, ohne Gehorsam. Denn man ersparte sich nichts, was zur Sache
gehörte. Soviel Einbildungen sich aber auch einstellten,
zwischendurch war immer noch Zeit, nichts als ein Vogel zu sein,
ungewiß welcher. Nur daß der Heimweg dann kam.
Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig
vergessen, das war nötig; sonst verriet man sich, wenn sie
drängten. Wie sehr man auch zögerte und sich umsah,
schließlich kam doch der Giebel herauf. Das erste Fenster oben
faßte einen ins Auge, es mochte wohl jemand dort stehen. Die
Hunde, in denen die Erwartung den ganzen Tag angewachsen war,
preschten durch die Büsche und trieben einen zusammen zu dem, den
sie meinten. Und den Rest tat das Haus. Man mußte nur eintreten
in seinen vollen Geruch, schon war das Meiste
entschieden. Kleinigkeiten konnten sich noch ändern; im ganzen
war man schon der, für den sie einen hier hielten; der, dem sie
aus seiner kleinen Vergangenheit und ihren eigenen Wünschen
längst ein Leben gemacht hatten; das gemeinsame Wesen, das Tag
und Nacht unter der Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer
Hoffnung und ihrem Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall.
So einem nützt es nichts, mit unsäglicher Vorsicht die
Treppen zu steigen. Alle werden im Wohnzimmer sein, und die Türe
muß nur gehn, so sehen sie hin. Er bleibt im Dunkel, er will
ihre Fragen abwarten. Aber dann kommt das Ärgste. Sie nehmen ihn
bei den Händen, sie ziehen ihn an den Tisch, und alle, soviel
ihrer da sind, strecken sich
neugierig vor die Lampe. Sie haben es gut, sie halten sich dunkel, und
auf ihn allein fällt, mit dem Licht, alle Schande, ein Gesicht zu
haben.
Wird er bleiben und das ungefähre Leben nachlügen, das sie
ihm zuschreiben, und ihnen allen mit dem ganzen Gesicht ähnlich
werden? Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines
Willens und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er
es aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die
nur noch ein schwaches Herz haben, schaden könnte?
Nein, er wird fortgehen. Zum Beispiel während sie alle
beschäftigt sind, ihm den Geburtstagstisch zu bestellen mit den
schlecht erratenen Gegenständen, die wieder einmal alles
ausgleichen sollen. Fortgehen für immer. Viel später erst
wird ihm klar werden, wie sehr er sich damals vornahm, niemals zu
lieben, um keinen in die entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu
sein. Jahre hernach fällt es ihm ein und, wie andere
Vorsätze, so ist auch dieser unmöglich gewesen. Denn er hat
geliebt und wieder geliebt in seiner Einsamkeit; jedesmal mit
Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher Angst um
die Freiheit des andern. Langsam hat er gelernt, den geliebten
Gegenstand mit den Strahlen seines Gefühls zu durchscheinen,
statt ihn darin zu verzehren. Und er war verwöhnt von dem
Entzücken, durch die immer transparentere Gestalt der Geliebten
die Weiten zu erkennen, die sie seinem unendlichen Besitzenwollen
auftat.
Wie konnte er dann nächtelang weinen vor Sehnsucht, selbst so
durchleuchtet zu sein. Aber eine Geliebte, die nachgiebt, ist noch
lang keine Liebende. 0, trostlose Nächte, da er seine flutenden
Gaben in Stücken wiederempfing, schwer von
Vergänglichkeit. Wie gedachte er dann der Troubadours, die nichts
mehr fürchteten als erhört zu sein. Alles erworbene und
vermehrte Geld gab er dafür hin, dies nicht noch zu erfahren. Er
kränkte sie mit seiner
groben Bezahlung, von Tag zu Tag bang, sie könnten versuchen, auf
seine Liebe einzugehen. Denn er hatte die Hoffnung nicht mehr, die
Liebende zu erleben, die ihn durchbrach.
Selbst in der Zeit, da die Armut ihn täglich mit neuen
Härten erschreckte, da sein Kopf das Lieblingsding des Elends war
und ganz abgegriffen, da sich überall an seinem Leibe
Geschwüre aufschlugen wie Notaugen gegen die Schwärze der
Heimsuchung, da ihm graute vor dem Unrat, auf dem man ihn verlassen
hatte, weil er seinesgleichen war:
selbst da noch, wenn er sich besann, war es sein größestes
Entsetzen, erwidert worden zu sein. Was waren alle Finsternisse
seither gegen die dichte Traurigkeit jener Umarmungen, in denen sich
alles verlor. Wachte man nicht auf mit dem Gefühl, ohne Zukunft
zu sein? Ging man nicht sinnlos umher ohne Anrecht auf alle Gefahr?
Hatte man nicht hundertmal versprechen müssen, nicht zu sterben?
Vielleicht war es der Eigensinn dieser argen Erinnerung, die sich von
Wiederkunft zu Wiederkunft eine Stelle erhalten wollte, was sein
Leben unter den Abfällen währen
ließ. Schließlich fand man ihn wieder. Und erst dann, erst
in den Hirtenjahren, beruhigte sich seine viele Vergangenheit.
Wer beschreibt, was ihm damals geschah? Welcher Dichter hat die
Überredung, seiner damaligen Tage Länge zu vertragen mit der
Kürze des Lebens? Welche Kunst ist weit genug, zugleich seine
schmale, vermantelte Gestalt hervorzurufen und den ganzen
Überraum seiner riesigen Nächte.
Das war die Zeit, die damit begann, daß er sich allgemein und
anonym fühlte wie ein zögernd Genesender. Er liebte nicht,
es sei denn, daß er es liebte, zu sein. Die niedrige Liebe
seiner Schafe lag ihm nicht an; wie Licht, das durch Wolken
fällt, zerstreute sie sich um ihn her und schimmerte sanft
über den Wiesen. Auf der schuldlosen Spur ihres Hungers schritt
er schweigend über die Weiden der Welt. Fremde sahen ihn auf der
Akropolis, und vielleicht war er
lange einer der Hirten in den Baux und sah die versteinerte Zeit das
hohe Geschlecht überstehen, das mit allem Erringen von Sieben
und Drei die sechzehn Strahlen seines Sterns nicht zu bezwingen
vermochte. Oder soll ich ihn denken zu Orange, an das ländliche
Triumphtor geruht? Soll ich ihn sehen im seelengewohnten Schatten der
Allyscamps, wie sein Blick zwischen den Gräbern, die offen sind
wie die Gräber Auferstandener, eine Libelle verfolgt?
Gleichviel. Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein, das damals die
lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Arbeit. Denn
über ihn, der sich für immer hatte verhalten wollen, kam
noch einmal das anwachsende Nichtanderskönnen seines
Herzens. Und diesmal hoffte er auf Erhörung. Sein ganzes, im langen
Alleinsein ahnend und unbeirrbar gewordenes Wesen versprach ihm,
daß jener, den er jetzt meinte, zu lieben verstünde mit
durchdringender, strahlender Liebe. Aber während er sich sehnte,
endlich so meisterhaft geliebt zu sein, begriff sein an Fernen
gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand. Nächte
kamen, da er meinte, sich auf ihn zuzuwerfen in den Raum; Stunden
voller Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach der
Erde zu tauchen, um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines
Herzens. Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hört und
fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. Noch stand ihm die
Bestürzung bevor, zu erfahren, wie schwer diese Sprache sei; er
wollte es nicht glauben zuerst, daß ein langes Leben
darüber hingehen könne, die ersten, kurzen Scheinsätze
zu bilden, die ohne Sinn sind. Er stürzte sich ins Erlernen wie
ein Läufer in die Wette; aber die Dichte dessen, was zu
überwinden war, verlangsamte ihn. Es war nichts auszudenken, was
demütigender sein konnte als diese Anfängerschaft. Er hatte
den Stein der Weisen gefunden, und nun zwang man ihn, das rasch
gemachte Gold seines Glücks unaufhörlich zu verwandeln in
das klumpige Blei der Geduld. Er, der sich dem Raum
angepaßt hatte, zog wie ein Wurm krumme Gänge ohne Ausgang
und Richtung. Nun, da er so mühsam und kummervoll lieben lernte,
wurde ihm gezeigt, wie nachlässig und gering bisher alle Liebe
gewesen war, die er zu leisten vermeinte. Wie aus keiner etwas hatte
werden können, weil er nicht begonnen hatte, an ihr Arbeit zu tun
und sie zu verwirklichen.
In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen
vor. Er vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm
zu nähern, und alles, was er mit der Zeit vielleicht bei ihm zu
erreichen hoffte, war »sa patience de supporter une
âme«. Die Zufälle des Schicksals, auf die die
Menschen halten, waren schon längst von ihm abgefallen, aber nun
verlor, selbst was an Lust und Schmerz notwendig war, den
gewürzhaften Beigeschmack und wurde rein und nahrhaft für
ihn. Aus den Wurzeln seines Seins entwickelte sich die feste,
überwinternde Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er ging ganz
darin auf, zu bewältigen, was sein Binnenleben ausmachte, er
wollte nichts überspringen, denn er zweifelte nicht, daß in
alledem seine Liebe war und zunahm. Ja, seine innere Fassung ging so
weit, daß er beschloß, das Wichtigste von dem, was er
früher nicht hatte leisten können, was einfach nur
durchwartet worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem an die
Kindheit, sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto ungetaner vor;
alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von Ahnungen an sich, und
daß sie als vergangen galten, machte sie nahezu
zukünftig. Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu
nehmen, war der Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte. Wir wissen
nicht, ob er blieb; wir wissen nur, daß er wiederkam.
Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an dieser Stelle,
uns an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit
vergangen, ein wenig gezählter Zeit, alle im Haus können
sagen, wieviel. Die Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es
wird berichtet, daß einer
aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das ganze Tagwerk. Gesichter erscheinen an den Fenstern, gealterte und erwachsene
Gesichter von rührender Ähnlichkeit. Und in einem ganz alten
schlägt ganz plötzlich blaß das Erkennen durch. Das
Erkennen? Wirklich nur das Erkennen? - Das Verzeihen. Das Verzeihen
wovon? - Die Liebe. Mein Gott: die Liebe.
Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschäftigt
wie er war: daß sie noch sein könne. Es ist begreiflich,
daß von allem, was nun geschah, nur noch dies überliefert
ward: seine Gebärde, die unerhörte Gebärde, die man nie
vorher gesehen hatte; die Gebärde des Flehens, mit der er sich an
ihre Füße warf, sie beschwörend, daß sie nicht
liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich herauf. Sie
legten sein Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie
verziehen. Es muß für ihn unbeschreiblich befrei end
gewesen sein, daß ihn alle mißverstanden, trotz der
verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er
bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, daß die Liebe ihn
nicht betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander
heimlich ermunterten. Fast mußte er lächeln, wenn sie sich
anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten.
Was wußten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu
lieben, und er fühlte, daß nur Einer dazu imstande
sei. Der aber wollte noch nicht.
Ende der Aufzeichnungen
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