Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube
ich, das muß früher anders gewesen sein. Früher
wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod
in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen
kleinen in sich und die Erwachsenen einen großen. Die Frauen
hatten ihn im Schooß und die Männer in der Brust. Den
hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde
und einen stillen Stolz.
Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man es
an, daß er einen Tod in sich trug. Und was war das für
einer: zwei Monate lang und so laut, daß man ihn hörte bis
aufs Vorwerk hinaus.
Das lange, alte Herrenhaus war zu klein für diesen Tod, es
schien, als müßte man Flügel anbauen, denn der
Körper des Kammerherrn wurde immer größer, und er
wollte fortwährend aus einem Raum in den anderen getragen sein
und geriet in fürchterlichen Zorn, wenn der Tag noch nicht zu
Ende war und es gab kein Zimmer mehr, in dem er nicht schon gelegen
hatte. Dann ging es mit dem ganzen Zuge von Dienern, Jungfern und
Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe hinauf und, unter
Vorantritt des Haushofmeisters, in seiner hochseligen Mutter
Sterbezimmer, das ganz in dem Zustande, in dem sie es vor
dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte, erhalten wor den war und das
sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt brach die ganze Meute dort
ein. Die Vorhänge wurden zurückgezogen, und das robuste
Licht eines Sommernachmittags untersuchte alle die scheuen,
erschrockenen Gegenstände und drehte sich ungeschickt um in den
aufgerissenen Spiegeln. Und die Leute machten es ebenso. Es gab da
Zofen, die vor Neugierde nicht wußten, wo ihre Hände sich
gerade aufhielten, junge Bediente, die alles anglotzten, und
ältere Dienstleute, die herumgingen und sich zu erinnern suchten,
was man ihnen von diesem verschlossenen Zimmer, in dem sie sich nun
glücklich befanden, alles erzählt hatte.
Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem Raum, wo alle
Dinge rochen, ungemein anregend. Die großen, schmalen russischen
Windhunde liefen beschäftigt hinter den Lehnstühlen hin und
her, durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender Bewegung das Ge
mach, hoben sich wie Wappenhunde auf und schauten, die schmalen Pfoten
auf das weißgoldene Fensterbrett gestützt, mit spitzem,
gespanntem Gesicht und zurückgezogener Stirn nach rechts und nach
links in den Hof. Kleine, handschuhgelbe Dachshunde saßen, mit
Gesichtern, als wäre alles ganz in der Ordnung, in dem breiten,
seidenen Polstersessel am Fenster, und ein stichelhaariger,
mürrisch aussehender Hühnerhund rieb seinen Rücken an
der Kante eines goldbeinigen Tisches, auf dessen gemalter Platte die
Sèvrestassen zitterten.
Ja, es war für diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge eine
schreckliche Zeit. Es passierte, daß aus Büchern, die
irgendeine hastige Hand ungeschickt geöffnet hatte,
Rosenblätter heraustaumelten, die zertreten wurden; kleine,
schwächliche Gegenstände wurden ergriffen und, nachdem sie
sofort zerbrochen waren, schnell wieder hingelegt, manches Verbogene
auch unter Vorhänge gesteckt oder gar hinter das goldene Netz
des Kamingitters geworfen. Und von Zeit zu Zeit fiel etwas, fiel
verhüllt auf Teppich, fiel hell auf das harte Parkett, aber es
zerschlug da und dort, zersprang scharf oder brach fast lautlos auf,
denn diese Dinge, ver wöhnt wie sie waren, vertrugen keinerlei
Fall.
Und wäre es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache von
alledem sei, was über dieses ängstlich gehütete Zimmer
alles Untergangs Fülle herabgerufen habe, - so hätte es nur
eine Antwort gegeben: der Tod.
Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard. Denn
dieser lag, groß über seine dunkelblaue
Uniform hinausquellend, mitten auf dem Fußboden und rührte
sich nicht. In seinem großen, fremden, niemandem mehr bekannten
Gesicht waren die Augen zugefallen: er sah nicht, was geschah. Man
hatte zuerst versucht, ihn auf das Bett zu legen, aber er hatte sich
dagegen gewehrt, denn er haßte Betten seit jenen ersten
Nächten, in denen seine Krankheit gewachsen war. Auch hatte sich
das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war nichts anderes
übrig geblieben, als ihn so auf den Teppich zu legen; denn
hinunter hatte er nicht gewollt.
Da lag er nun, und man konnte denken, daß er gestorben sei. Die
Hunde hatten sich, da es langsam zu dämmern begann, einer nach
dem anderen durch die Türspalte gezogen, nur der Harthaarige mit
dem mürrischen Gesicht saß bei seinem Herrn, und eine von
seinen breiten, zottigen Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs
großer, grauer Hand. Auch von der Dienerschaft standen jetzt die
meisten draußen in dem weißen Gang, der heller war als das
Zimmer; die aber, welche noch drinnen geblieben waren, sahen manchmal
heimlich nach dem großen, dunkelnden Haufen in der Mitte, und
sie wünschten, daß das nichts mehr wäre als ein
großer Anzug über einem verdorbenen Ding.
Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die noch vor
sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die Stimme des
Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem diese Stimme
gehörte, es war Christoph Detlevs Tod.
Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vie len Tagen auf
Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu
werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon,
verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, daß man
lache, spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte
Freunde zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu
sterben: verlangte. Verlangte und schrie.
Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den übermüden
Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, ein zuschlafen versuchten,
dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stöhnte,
brüllte so lange und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst
mitheulten, verstummten und nicht wag ten sich hinzulegen und, auf
ihren langen, schlanken, zit ternden Beinen stehend, sich
fürchteten. Und wenn sie es durch die weite, silberne,
dänische Sommernacht im Dorfe hörten, daß er
brüllte, so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten sich an
und blieben ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es vorüber
war. Und die Frauen, welche nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in
die entlegensten Stuben gelegt und in die dichtesten
Bettverschläge; aber sie hörten es, sie hörten es, als
ob es in ihrem eigenen Leibe wäre, und sie flehten, auch
aufstehen zu dürfen, und kamen, weiß und weit, und setzten
sich zu den andern mit ihren verwischten Gesichtern. Und die
Kühe, welche kalbten in dieser Zeit, waren hülflos und
verschlossen, und einer riß man die tote Frucht mit allen
Eingeweiden aus dem Leibe, als sie gar nicht kommen wollte. Und alle
taten ihr Tagwerk schlecht und vergaßen das Heu hereinzubringen,
weil sie sich bei Tage ängstigten vor der Nacht und weil sie vom
vielen Wachsein und vom erschreckten Aufstehen so er mattet waren,
daß sie sich auf nichts besinnen konnten. Und wenn sie am
Sonntag in die weiße, friedliche Kirche gingen, so beteten sie,
es möge keinen Herrn mehr auf Ulsgaard geben: denn dieser war ein
schrecklicher Herr. Und was sie alle dachten und beteten, das sagte
der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch er hatte keine
Nächte mehr und konnte Gott nicht begreifen. Und die Glocke sagte
es, die einen furchtbaren Rivalen bekommen hatte, der die ganze Nacht
dröhnte und gegen den sie, selbst wenn sie aus allem Metall zu
läuten begann, nichts vermochte. Ja, alle sagten es, und es gab
einen unter den jungen Leuten, der geträumt hatte, er wäre
ins Schloß gegangen und hätte den gnädigen Herrn erschlagen mit seiner Mistforke, und so
aufgebracht war man, so zu Ende, so überreizt, daß alle
zuhörten, als er seinen Traum erzählte, und ihn, ganz ohne
es zu wissen, daraufhin ansahen, ob er solcher Tat wohl gewachsen
sei. So fühlte und sprach man in der ganzen Gegend, in der man
den Kammerherrn noch vor einigen Wochen geliebt und bedauert
hatte. Aber obwohl man so sprach, veränderte sich
nichts. Christoph Detlevs Tod, der auf Ulsgaard wohnte, ließ
sich nicht drängen. Er war für zehn Wochen gekommen, und die
blieb er. Und während dieser Zeit war er mehr Herr, als Christoph
Detlev Brigge es je gewesen war, er war wie ein König, den man
den Schrecklichen nennt, später und immer.
Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das war der
böse, fürstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben
lang in sich getragen und aus sich genährt hatte. Alles
Übermaß an Stolz, Willen und Herrenkraft, das er selbst in
seinen ruhigen Tagen nicht hatte verbrauchen können, war in
seinen Tod eingegangen, in den Tod, der nun auf Ulsgaard saß und
vergeudete.
Wie hätte der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm
verlangt hätte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er
starb seinen schweren Tod.
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