Château de Muzot sur Sierre Valais
am letzten Advents Sonntag, 1921

Meine liebe gute Mama,

   kann es wirklich schon ein Jahr sein!? Ich sehe mich noch so deutlich an meinem Schreibtisch im stillen Berg sitzen, um Dir zu unserer Sechs-Uhr-Stunde jenen Brief »vom Knieen« zu schreiben (mir ist, ich weiß noch einzelne Worte daraus -) und schon ist es wieder so weit, unsere Christ-Baum-Stunde eines anderen Jahres vorzubereiten!

   Hier bin ich, liebe Mama, auch zu diesem Weihnachten und schließe mich, wie seit je, Deinem festlichen Gebete an und bitte, wie seit je, drinnen eingeschlossen und hochgehoben zu sein in den alten heiligen Glanz dieses feierlichsten Abends. - Laß uns, wie immer in diesem Moment der vielfachen Bedrängnis, die die äußeren Verhältnisse immer noch so nahe rücken, fast an jenes Leben heran -, unrecht geben; in diesem Augenblick sei sie nichts als Vorläufiges, Vergängliches, - und was ihr gegenüber aufgeht und sie überwiegt, sei jenes Innerste in uns, das von ihr unberührt geblieben ist, jene tiefste, reinste Mitte unserer Natur, aus der uns zeitlebens nichts als Schutz gekommen ist, Stille und Überwältigung zur Zuversicht. Dort, im Centrum seines Gemüts, das ihm selber sooft unzugänglich bleibt, feiert der Christ Weihnachten, und sein Fest hängt einzig daran, ob er sich die Gnade erhalten hat, dort,in seinem Allerinnersten eintreten, dort einen Augenblick still sein, dort auf eine unsäglich feierliche Art zuhause sein zu dürfen. - Was mich angeht, so habe ich es, in meiner entlegenen Zuflucht, besser als Du, wenn ich in der verabredeten Stunde, um unseretwillen und für mich selbst, den Zugang zu diesem Allerheiligsten im eigenen Wesen werde finden wollen: denn hier unterstützt mich alles darin: dieses alte manoir, das sogar, das sogar auf dem Niveau meines Arbeitszimmers, dicht neben mir, jenen kleinen Raum enthält, der immer noch »die Kapelle« heißt, obgleich er leer steht seit lange und nur eine eigentümlich, mit der Hand gewölbte Fensternische die Stelle anzeigt, an der einmal vor drei, vierhundert Jahren der Altar gestanden haben mag. Aber nicht genug daran, über den Weg hinüber seh ich aus meinen Fenstern, die ländliche Kapelle der heiligen Anna, ein kleines verlassenes und doch immer noch von einzelnen Anhänglichen besuchtes Heiligtum, das immer zum Schlosse Muzot gehört hat und sich an der gleichen Stelle erhebt, an der früher die größere Kirche stand, deren letzter Geistlicher, im 17. Jahrhundert, der später seliggesprochene, jetzt noch im ganzen Wallis verehrte Matthias Will war. Und nicht allein dies hilft mir zur inneren Sammlung: wie in einem Sternbild verteilt stehen über und unterhalb Muzot alle die weißen länglichen Kirchen, alle mit ihren reinen Glocken und ihren lieblichen Glockenspielen; und geh ich aus, so gibt es keine Wegkreuzung, die nicht durch ein stilles Holzkreuz, keinen Hügel weithin, der nicht durch ein kleines Gotteshaus bezeichnet wäre. So werd ich vielfach unterstützt sein diesmal im In-mich-gehen der heiligen Stunde, und allen diesen Beständen ringsum, wirst Du, liebe Mama, von meinem ganzen Herzen aus aufgeboten und anempfohlen sein.

   Aber auch Dir, die Du ja immer die unbeirrbare Stärke hast, den Weg in jene innere Helle zu finden, in der nun Weihnachten wird, in diesem ganzen inneren Augenblick -, auch Dir wird es, obwohl von Außen die Sorgen Dich so viele näher bedrängen, nicht schwer sein, Dich auf den reinsten und lautersten Platz im inneren Gemüt zurückzuziehen, um dort das Mysterium des kleinen Heilands zu feiern, dessen Macht damals am herrlichsten und unschuldigsten war, da er schon in der Krippe lag: zur Welt gekommen-, und die Welt noch nicht zu ihm. So darf ihn heute, wer ein stilles, nicht zu sehr flackerndes Herzlicht hat, gewahren und anstaunen und anbeten!

   Ein gutes, heiliges Fest, liebe Mama!

Dein alter René