Weihnachten 1914

Liebe gute Mama,

   da ist nun wirklich das heilige Fest herangekommen unbeirrt durch die trübe schwere grausame Zeit, und steht vor allen Türen, und hinter vielen Türen stehen die Kinder und warten auf seine Ankunft. Etwas von Frieden lag immer in der Winterluft gegen diesen Abend zu, läge doch auch heuer dieses Unsagbare fühlbar da und überzeugte, überführte, überwältigte die erregten heftigen Menschen, die den Tod in die Hand genommen haben und das Unheil wider einander gebrauchen. Der geistige Rufer ist machtlos, fast wie der Herr den Hund nicht mehr in seiner Macht hat, der sich in andere Hunde verbissen hat; die Kirche ist machtlos; Christus selbst kann nichts wider diese Völker -, und doch ist eine Macht über der Welt, die auch das umfaßt, was jetzt geschieht und es geschehen läßt, weil die ganze Geschichte des Menschen erfüllt ist von einem gewaltigen Geschehenlassen; was hülfe es dem Menschen, wenn Gott ihn aufhielte und ihn an sich zum Stehen brächte; der Mensch soll merken daß, wie weit ers auch treibt, er an keine Grenze Gottes kommt, wohl aber an sein eigenes Ende.

   Man fragt sich, kann es heuer eine Weihnacht geben, wo fast allen Häusern Männer, Väter und Söhne entrissen sind, wo in vielen die Gewißheit, in allen die Drohung herrscht, daß sie nicht wieder zurückkehren? Aber Weihnachten ist das innerste Fest und wenn das Haus nicht feierlich genug ist, dann verflüchtigt es nicht, dann schlägt es vielleicht einwärts und sucht sich den innersten Innenraum, in dem auch die Trauer festlich werden kann: das geschütztere Herz. So mein ich, wenn's die Häuser nicht leisten können, die Herzen werden das alte Fest aufbringen in der Winternacht, innen wird es begangen und erhoben und verherrlicht sein, und es ist ja nur ein Fortschritt für alle Feste, wenn sie der äußeren Zurüstung entrückt, im Unsichtbaren sich verwirklichen.

   So wünsch ich auch Dir, liebe Mama, daß zu unserer gewohnten Sechsuhrstunde zwar Deine Stube Dich gut und vertraulich umgäbe: daß aber mehr noch als je die Stelle der Lichter und Geschenke, der Gaben- und Gottesplatz ins eigenste Herz Dir verschoben, daß in der stillsten Herzkammer, sicher vor jeder Störung, die Bescherung aufgebaut sei und daß Du sie dort aus den Händen des wiederum kleingewordenen Heilands sicher und dauernd empfingest!

   Mein Fest ist schon die letzten Jahre längst so nach Innen verlegt gewesen, und ich glaube, selbst, wenn ich in München geblieben wäre, ich hätte den Abend allein in meiner Stube verbracht als eine Feier der Versenkung, der Herz-nachdenklichkeit, der Erinnerung. Denn ich bin darauf angelegt, von Kindheit an, ein Einzelner zu sein und keine Familie zu haben und kein Familienfest, - sondern nur ganz weite Zusammenhänge in der ganzen Welt, bin bestimmt, nicht in die Nähe zu fühlen, sondern in die Weite, das erst gibt meinem Gefühl seine ganze Macht, Tiefe und Wahrheit. Und so fühl ich nun, wenn Du diesen Brief liest, auch zu Dir hin, meine gute Mama, und Du wirst in Deinem Herzen meine Nähe, ja meine Gegenwart bestätigt sehen, besser, als wenn Du mich mit den Augen der Sinne gewahrtest. Sei innig gesegnet und umarmt.

Dein alter René.