Rainer Maria Rilke, 1905
ICH WERDE ERZÄHLEN was sich neulich in Gothenburg begeben hat. Es ist
merkwürdig genug. Es geschah in dieser Stadt, daß mehrere Kinder
zu ihren Eltern kamen und erklärten, sie wollten auch nachmittags in
der Schule bleiben, auch wenn kein Unterricht ist, immer. Immer? Ja, so viel
wie möglich. In welcher Schule?
Ich werde von dieser Schule erzählen. Es ist eine ungewöhnliche,
eine völlig unimperativische Schule; eine Schule, die nachgibt, eine
Schule, die sich nicht für fertig hält, sondern für etwas
Werdendes, daran die Kinder selbst, umformend und bestimmend, arbeiten sollen.
Die Kinder, in enger und freundlicher Beziehung mit einigen aufmerksamen,
lernenden, vorsichtigen Erwachsenen, Menschen, Lehrern, wenn man will. Die
Kinder sind in dieser Schule die Hauptsache. Man begreift, daß damit
verschiedene Einrichtungen fortfallen, die an anderen Schulen üblich
sind. Zum Beispiel: jene hochnotpeinlichen Untersuchungen und Verhöre,
die man Prüfungen genannt hat, und die da mit zusammenhängenden
Zeugnisse. Sie waren ganz und gar eine Erfindung der Großen. Und man
fühlt gleich, wenn man die Schule betritt, den Unterschied. Man ist
in einer Schule, in der es nicht nach Staub, Tinte und Angst riecht, sondern
nach Sonne, blondem Holz und Kindheit.
”Und man fühlt gleich, wenn man die Schule
betritt, den Unterschied. Man ist in einer Schule, in der es nicht nach Staub,
Tinte und Angst riecht, sondern nach Sonne, blondem Holz und Kindheit.”
Man wird sagen, daß eine solche Schule sich nicht halten kann. Nein,
natürlich. Aber die Kinder halten sie. Sie besteht nun im vierten Jahre,
und man zählt in diesem Semester zweihundertfünfzehn Schüler,
Mädchen und Knaben aus allen Altern. Denn es ist eine richtige Schule,
die beim Anfang anfängt und bis ans Ende reicht. Freilich: dieses Ende
liegt noch nicht ganz in ihrer Hand. An diesem Ausgang der Achtzehnjährigen
steht, gespenstisch wie ein Revenant, die Reifeprüfung. Und sie treten,
aus der Zukunft, in der sie schon waren, in eine andere Zeit zurück.
In die Zeit ihrer Zeitgenossen. Aber sie sind doch, sozusagen, im Kommenden
erzogen; werden sie das ganz verleugnen? Wird man es später an ihrem
Leben merken?
Für alle, die jetzt und in den nächsten Jahren die Schule verlassen,
trifft das noch nicht ganz zu; denn sie sind (da die Schule erst ihr viertes
Jahr beginnt) nicht von Anfang an ihre Schüler gewesen. Sie sind eines
Tages übergetreten, mit Schulerfahrungen und -konventionen behaftet
und ganz voll von den Bazillen alter, verschleppter Schulseuchen. Wäre
der junge Körper dieser neuen Schule nicht so durch und durch gesund,
so hätten sie leicht eine Gefahr für ihn werden können. So
aber gehen sie, ohne Schaden zu stiften, durch seinen Organismus durch; ihre
schlechten Gebräuche und Schülerheimlichkeiten, die sie fortsetzen,
bekommen, inmitten des weiten, offenen Vertrauens, inmitten dieser lebensgroßen
Menschlichkeit, die weit über die Wände einer Schulstunde hinausreicht,
einen Anschein von trauriger, harmloser Lächerlichkeit; sie werden so
überflüssig wie die umwickelten Gebärden eines Freigelassenen,
der fortfährt, in der Zeichen- und Klopfsprache es Gefängnisses
sich auszudrücken. Aber wenn diese einmal scheu Gemachten auch nicht
fähig sind, sich in der Sonne der neuen Schule ganz arglos auszubreiten,
so merkt man doch, wie sie sich erholen, wie sie sich aufrichten und, bei
aller Frühreife ihrer trüben Erfahrung, reine, kindhaft lichte
Triebe ansetzen und da und dort zum Blühen kommen. Aber man muß
vorsichtig mit ihnen sein; denn die Freiheit ist eine Gefahr für sie.
Das Wort Freiheit ist genannt. Es scheint mir, als ob wir, die Erwachsenen,
in einer Welt lebten, in der keine Freiheit ist. Freiheit ist bewegtes, steigendes,
mit der Menschenseele sich wandelndes, wachsendes Gesetz. Unsere Gesetze
sind nicht mehr die unserigen. Sie sind zurückgeblieben, während
das Leben lief. Man hat sie zurückgehalten, aus Geiz, aus Habgier, aus
Eigennutz; aber vor allem: aus Angst. Man wollte sie nicht mit auf den Wellen
haben in Sturm und Schiff bruch; sie sollten in Sicherheit sein. Und da man
sie so, gerettet aus aller Gefahr, auf dem Strande zurückließ,
sind sie erstarrt. Und das ist unsere Not: daß wir Gesetze haben aus
Stein. Gesetze, die nicht immer mit uns waren, fremde, unverwandte Gesetze.
Keine von den tausend neuen Bewegungen unseres Blutes pflanzt sich in ihnen
fort; unser Leben besteht nicht für sie; und die Wärme aller Herzen
reicht nicht aus, einen Schimmer von Grün auf ihren kalten Oberflächen
hervorzurufen. Wir schreien nach dem neuen Gesetz. Nach einem Gesetz, das
Tag und Nacht bei uns bleibt und das wir erkannt und befruchtet haben wie
ein Weib. Aber es kommt keiner, der solches Gesetz uns geben kann; es ist
über die Kraft.
Aber denkt niemand daran, daß das neue Gesetz, das wir nicht zu schaffen
vermögen, täglich anfangen kann mit denen, die wieder ein Anfang
sind? Sind sie nicht wieder das Ganze, Schöpfung und Welt, wachsen nicht
in ihnen alle Kräfte heran, wenn wir nur Raum geben? Wenn wir nicht
aufdringlich, mit dem Recht des Stärkeren, den Kindern all das Fertige
in den Weg stellen, das für unser Leben gilt, wenn sie nichts vorfinden,
wenn sie alles machen müssen: werden sie nicht alles machen? Wenn wir
uns hüten, den alten Riß zwischen Pflicht und Freude (Schule und
Leben), Gesetz und Freiheit in sie hinein zu vergrößern: ist es
nicht möglich, daß die Welt heil in ihnen heranwächst? Nicht
in einer Generation freilich, nicht in der nächsten und übernächsten,
aber langsam, von Kindheit zu Kindheit heilend?
Ich weiß nicht, ob man zu dem Ursprung der Schule auch durch diese
Gedanken gegangen ist; es eine Welt von Gedanken gedacht worden. Aber nun
ist sie da. Ihre einfache Heiterkeit spielt vor einem Hintergrunde dunkelsten
Ernstes. Sie ist nicht in ein Programm eingeschlossen, sie ist nach allen
Seiten offen. Und es ist gar nicht vom "Erziehen" die Rede. Es handelt sich
gar nicht darum. Denn wer kann erziehen? Wo ist der unter uns, der erziehen
dürfte?
”Was diese Schule versucht, ist dieses: nichts zu
stören.”
Was diese Schule versucht, ist dieses: nichts zu stören. Aber indem
sie dies auf ihre tätige und hingebende Weise versucht, indem sie Hemmungen
entfernt, Fragen anregt, horcht, beobachtet, lernt und vorsichtig liebt,
- tut sie alles, was Erwachsene an denen tun können, die nach ihnen
kommen sollen.
Das fünfteilige hölzerne Gebäude eines früheren Hospitals.
An Kranke denkt man nicht mehr; nur etwas wie die Freude von vielen Genesenden
ist darin geblieben.
Die Zimmer sind wie die Zimmer in einem Landhaus. Mittelgroß, mit klaren,
einfarbigen Wänden und geräumigen Fenstern, in denen viele Blumen
stehen. Die niedrigen, gelben, harzhellen Tische lassen sich, wenn es nötig
ist, in der Art von Schulbänken anreihen; meist aber sind sie in der
Mitte zu einem einzigen großen Tisch zusammengeschoben, wie in einer
Wohnstube. Und die kleinen, behaglichen Sessel stehen rund herum. Natürlich
ist alles da, was in ein richtiges Schulzimmer gehört: ein (übrigens
nicht erhöhter) Lehrertisch, eine Tafel und alles andere. Aber diese
Dinge repräsentieren nicht; sie ordnen sich ein. An der Wand, dem Fenster
gegenüber, ist eine Karte von Schweden, blau, grün und rot: ein
frohes, buntes Kinderland. Sonst sind Abbildungen von guten Gemälden
da, in glatten, einfachen Holzrahmen. Des Velazquez kleiner reitender Infant.
Daneben aber, ganz ebenso anerkannt, hängt das rote Haus, das der kleine
Bengt oder Nils oder Ebbe gemalt hat, mit dem ernstesten Gesicht. Die lichten
Gänge führen zu den Sälen hin, die für viele Beschäftigungen
eingerichtet sind. Da ist ein weiter, luftiger Raum für die Handarbeiten
der Kleinsten; in einem anderen werden Bürsten hergestellt und Bücher
gebunden; eine Werkstatt ist da für Tischlerarbeiten und Mechanik, eine
Druckerei und ein stilles, heiteres Musikzimmer.
Man hat das Gefühl: hier kann man etwas werden. Diese Schule ist nicht
etwas Vorläufiges; da ist schon die Wirklichkeit. Da fängt das
Leben schon an. Das Leben hat sich klein gemacht für die Kleinen. Aber
es ist da, mit allen seinen Möglichkeiten und mit vielen Gefahren. Da
hängen in den Werkstätten, wo die Zwölfjährigen arbeiten,
all die scharfen Messer und Ahlen und Stahle, die man sonst ängstlich
vor den Kindern verbirgt. Hier legt man sie ihnen vorsichtig und ernst und
richtig in die Hand, und sie denken gar nicht daran, damit zu "spielen".
Sie beschäftigen sich so intensiv; und fast alle ihre Arbeiten sind
gut und genau und brauchbar; des Handwerks tiefer Ernst kommt über sie.
Im Saal für Mechanik wurde ein Knabe gerufen, der einen Motor erfunden
und im Modell ausgeführt hatte. Er sollte ihn erklären. Er war
schon mit einer anderen Arbeit beschäftigt, von der er bereitwillig,
aber doch ungern gestört, herüberkam. Sein Gesicht war noch ganz
von der verlassenen Arbeit erfüllt. Aber dann nahm er sich zusammen
und gab sachlich kurz die gewünschten Aufklärungen. Der Ton seiner
Worte, die geschickten Gebärden, womit er sie begleitete, selbst die
offene, sichere Art seiner Freundlichkeit zeigte den Arbeiter, der in seiner
Arbeit lebt. Und wie bei diesem Knaben, so war bei allen Kindern Offenheit
und Sicherheit zu finden; sie waren alle beschäftigt und froh und dadurch
allen Tätigen nah; mochten es nun Erwachsene oder Kinder sein: in der
ernsthaften und freudigen Beschäftigung war eine Gemeinsamkeit gegeben,
auf der sich verkehren ließ; aller Grund zur Verlegenheit war fortgefallen.
Die Freudigkeit, die Neigung, womit in dieser Schule alles geschieht, prägt
alle Dinge. Wie schön sind die von den Kindern gedruckten und gebundenen
Bücher, wie rührend ausdrucksvoll sind ihre kleinen Modellierversuche;
und ihre Blumenzeichnungen nach der Natur sind so richtig und liebevoll und
gewissenhaft, daß sie, wo gewisse Voraussetzungen da sind, jeden Augenblick
Kunst werden können. Es tut so gut, zu fühlen, daß in diesen
Kindern nichts verkümmern kann. Jede, auch die leiseste Anlage muß
nach und nach zum Blühen kommen. Keins von diesen Kindern muß
sich dauernd zurückgesetzt glauben. Der Möglichkeiten sind so viele.
Für ein jedes muß der Tag kommen, da es sein Können entdeckt,
irgendeine Fähigkeit, eine Geschicklichkeit, eine Lust zu irgend etwas,
die ihm in dieser kleinen Welt seinen Platz, seine Berechtigung gibt. Und
was das Wichtigste ist: diese kleine Welt ist im Grunde nichts anderes als
die große Welt auch; was man in ihr ist, kann man überall sein;
diese Schule ist nicht ein Gegensatz des Heims. Sie ist dasselbe. Sie ist
nur zu jedem "Zuhause" hinzugekommen, sie ist an alle Häuser angebaut
und will mit ihnen in Verbindung sein. Sie ist nicht das andere. Die Eltern
gehen in ihr ebenso ein und aus wie ihre Kinder. Es steht ihnen frei, dann
und wann einer Unterrichtsstunde beizuwohnen; sie kennen die Räume des
Schulhauses und finden sich darin zurecht. Und auch im Verhältnis zum
Leben will diese Schule nicht das andere sein. Deshalb kann sie keine Lehrer
brauchen, die diesen Beruf ergreifen; die an ihr lehren, müssen von
ihrem Beruf ergriffen sein. Es genügt nicht, daß sie einen Gegenstand
beherrschen; dieser Gegenstand muß gewissermaßen unter freiem
Himmel stehen; er darf nicht isoliert, nicht abgeschnitten, nicht aus allen
Zusammenhängen gehoben sein. Er muß sich verwandeln, und wenn
sich etwas rührt in der Welt, muß er zittern und tönen; man
muß es an ihm merken können. Immer soll, unter dem Vorwande der
verschiedenen Fächer, vom Leben die Rede sein. Wie schön war es,
als einmal ein Bergmann kam, ein gewöhnlicher Bergmann, der schlicht
und schwer von seinen schwarzen Tagen erzählte; und wie für ihn,
so steht der Lehrersessel für jeden da, der etwas erfahren hat: für
den Reisenden, der von fremden Gegenden erzählt, für den Mann,
der Maschinen baut, und vor allem für den Schlichtesten unter den Wissenden,
den Handwerker mit den klugen, vorsichtigen Händen. Denk, wenn einmal
ein Zimmermann käme! Oder ein Uhrmacher oder gar ein Orgelbauer! Und
sie können jeden Augenblick kommen. Denn ganz leise nur, ohne Last,
liegt das Netz des Stundenplanes über den Tagen. Es wird oft verschoben.
Die Wochen gehen einem nicht mit der monotonen Eile eines Rosenkranzes durch
die Finger. Jeder Tag fängt an als etwas Neues und bringt unerwartete
und erwartete und völlig überraschende Dinge. Und für alles
ist Zeit. Die Frühstückspause ist so lang, daß man den Tisch
abräumen und ihn mit hellem Wachstuch decken kann. Blumen werden in
der Mitte daraufgestellt, Butterbrot-Teller und Gläser und Becher mit
Milch; und dann sitzt es rund herum und ißt und träumt, lacht
und erzählt und sieht wie eine Geburtstagsgesellschaft aus.
Es ist Zeit und Raum in dieser Schule. Umjedes dieser kleinen blonden Geschöpfe
ist Raum. Wie ein Haus mit Garten ist jedes. Es ist nicht eingerammt zwischen
seine Nachbarn. Es hat etwas um sich herum, etwas Lichtes, Freies, Blühendes.
Es soll auch nicht gerade so wie seine Nachbarn aussehen; im Gegenteil: es
soll so von Herzen verschieden sein, so aufrichtig anders, so wahr wie nur
irgend möglich.
Es war konsequent und mutig, diesen Kindern keinen Religionsunterricht im
herkömmlichen Sinn aufzuerlegen. Eine autoritative Beeinflussung an
dieser empfindlichsten Stelle inneren Eigenlebens hätte alles Gerechte
und Menschliche, das hier versucht worden ist, wieder aufgewogen. Man hat
sich entschlossen, die biblischen Stoffe nach den reinsten, absichtslosesten
Quellen als Historie vorzutragen, und man will nach und nach dazu kommen,
Religion nicht ein- oder zweimal in der Woche zu geben, nicht heute von neun
bis zehn, sondern immer, täglich, mit jedem Gegenstande, in jeder Stunde.
Die Menschen, die diese Schule am meisten lieben, haben nach Tagen und nach
Nächten, im ganzen Bewußtsein ihrer Verantwortung, diesen Beschluß
gefaßt. Nun muß man Vertrauen zu ihnen haben. Kinder und Eltern.
Denn diese Bedeutung scheint mir leise in dem Namen Samskola mitzuklingen:
Gemeinschule, Schule für Knaben und Mädchen, aber auch: Schule
für Kinder und Eltern und Lehrer. Da ist keiner über dem anderen;
alle sind gleich und alle Anfänger. Und was gemeinsam gelernt werden
soll, ist: die Zukunft.
Nur mit einem reicht die Vergangenheit herein. Mit dem Aberglauben von den
großen Kathedralen. Menschenleben sind unter den Grundsteinen verschwunden,
und der Mörtel ist auch bei diesem Bauwerk mit Herzblut gemischt.
Geschrieben in Jonsered in Schweden