(1898)
Herr
Peter Nikolas hatte mit seinen fünfundsiebzig Jahren eine
ganze Menge vergessen: die traurigen und guten Erinnerungen, die
Wochen, die Monate und die Jahre. Nur von den Tagen hatte er noch eine
leise Ahnung. Und wenn er mit seinen schwachen und immer
schwächeren Augen auch jeden Sonnenuntergang wie verblaßten
Purpur und jeden Morgen wie vieux rose schimmern sehen
mußte, den Wechsel empfand er doch. Im
allgemeinen störte er ihn, und der Alte hielt diese Anstrengung
für überflüssig und töricht. Der Wert von
Frühling und Sommer war ihm auch entschwunden. Schließlich
fror er immer, wenige Augenblicke ausgenommen. Dann war es ihm aber
vollständig gleichgültig, ob er deren Glut dem Kaminfeuer
oder der Sonne dankte. Nur daß letztere bedeutend billiger kam,
wußte er. Deshalb humpelte er an jedem Tag, da er die Sonne fand,
in den Stadtpark und setzte sich auf die lange Bank unter der Linde
zwischen den alten Pepi und den alten Christoph aus dem Armenhaus.
Seine täglichen
Banknachbaren waren wohl noch
älter wie er. Sobald Herr Peter Nikolas sich niedergelassen hatte,
krächzte er und nickte dann. Und rechts und links von ihm nickte
es mechanisch wie aus Ansteckung. - Dann stemmte Herr Peter Nikolas den
Stock in den Sand und legte die Hände auf dessen krumme
Krücke.
In einer Weile legte
er noch sein rundes, glattes
Kinn hinzu und blinzte zum Pepi nach links. Er beobachtete, so gut er
konnte, den roten Kopf, der, wie welk, von dem feisten Nacken hing und
abzufärben schien; denn der breite weiße Schnauzbart war an
seinen Wurzeln ganz schmutziggelb. Der Pepi saß
vornübergeneigt, hatte die Ellenbogen auf die Kniee gestemmt und
spuckte von Zeit zu Zeit durch die gefalteten Hände hindurch auf
den Sand, wo sich schon ein kleiner Sumpf staute. Er hatte zeitlebens
sehr viel getrunken und schien dazu verurteilt, wenigstens die Zinsen
der verbrauchten Flüssigkeit ratenweise an die Erde abzuzahlen.
Als Herr Peter
nichts Neues an Pepi bemerkte, schob
er sein Kinn auf dem Handrücken mit halber Wendung nach rechts.
Christoph hatte gerade geschnupft und knipste mit sorgsamen gotischen
Fingern die letzten Anzeichen dieser Beschäftigung von dem
fadenscheinigen Rock. Er sah unglaublich gebrechlich aus, und zur Zeit,
da Herr Peter noch gewohnt war, sich ab und zu mal zu wundern, hatte er
oft gedacht, wie es der dürre Christoph überhaupt zustande
gebracht hat, so auszuhalten ohne sich irgendwas abzubrechen ein ganzes
Leben lang. Am liebsten stellte er sich den Christoph vor, als
dürres Bäumchen, mit dem Halse und den Fußgelenken an
eine tüchtige gesunde Stützstange gebunden. Christoph fand
sich nun nett genug, rülpste ein wenig, welches entweder ein
Zeichen von Zufriedensein oder von schlechter Verdauung war. Dabei
zermahlte er ohne Unterlaß etwas zwischen den zahnlosen Kiefern,
und seine schmalen Lippen schienen sich aneinander scharfgerieben zu
haben. Es war, als mochte sein träger Magen auch die Minuten nicht
mehr verdauen, und Christoph mußte nun jede einzelne kauen, so
gut das eben ging.
Herr Peter Nikolas
drehte sein Kinn zurück nach
gradaus und schaute mit den triefenden Augen ins Grün. Dann
störten ihn die Kinder in den Sommerkleidern, die wie lichte
Reflexe in einem fort vor den grünen Büschen auf und nieder
sprangen. Er senkte ein wenig die Lider. Er schlief nicht. Er
hörte das leise Mahlen des mageren Christoph, dem die Bartstoppeln
knisterten, und das laute Spucken des Pepi, der dann und wann in seiner
schleimigen Sprache fluchte, wenn ein Hund oder ein Kind ihm zu nahe
kam. Er vernahm ein Kiesrechen auf fernen Wegen und die Schritte
Vorübergehender und die zwölf vollen Schläge der nahen
Uhr. Er zählte sie nie mehr, aber er wußte, daß Mittag
war, wenn es so oft schlug, daß mans nicht mehr zählen
konnte. Zugleich mit dem letzten Schlag schmeichelte ein Stimmchen an
seinem Ohr: »Großvater - Mittag.«
Und Herr Peter
Nikolas stemmte sich an seinem
Krückstock in die Höh und legte dann eine Hand leise auf den
Blondkopf des zehnjährigen Mädchens. Die Kleine holte sich
die Hand jedesmal aus den Haaren wie ein welkes Blatt und
küßte sie. Dann nickte der Großvater einmal nach
links, einmal nach rechts. Und rechts und links von ihm nickte es
mechanisch nach. Und der Pepi und Christoph aus dem Armenhaus schauten
jedesmal zu, wie Herr Peter Nikolas mit dem kleinen blonden
Mädchen hinter den nächsten Büschen verschwand.
Bisweilen kam es
dann vor, daß auf dem Platze
des Herrn Peter Nikolas ein paar arme, hilflose Blumen liegen geblieben
waren, die das Kind vergessen hatte. Dann streckte der dünne
Christoph seine gotischen Finger zaghaft langend nach ihnen aus, und
später trug er sie auf dem Heimwege wie etwas ganz Seltenes und
Wertvolles in der Hand. - Der rote Pepi spuckte dann verächtlich,
und der andere schämte sich vor ihm.
Im Armenhaus aber
ging der Pepi voran und stellte
wie ganz zufällig ein Glas mit Wasser auf das Fenster ihrer Stube.
Dann saß er still in der dunkelsten Ecke und wartete, bis der
Christoph die paar armseligen Blumen in das Glas auf dem Fenster
gesteckt hatte.
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