Die Kinder


Das war
ein Mann inmitten einer Kinderschar.
Schlicht um die Schultern lag ihm der Talar,
und heimathell war ihm das Heilandshaar.
Und wie um einen frühen Frühlingstag
sich, jäherwacht, die Blüten staunend scharen,
so kamen Kinder zu dem Wunderbaren,
den keiner von den Alten nennen mag.
Die Kinder aber kennen ihn schon lang
und drängen in das offene Tor der Arme -
ein blasses betet: Du bist das "Erbarme",
nach dem die Mutter ihre Hände rang.
Und leise flüstert ihm das wangenwarme:
"Nichtwahr, du wohnst im Sonnenuntergang,
dort wo die Berge groß und golden sind.
Dir winkt der Wipfel und dir singt der Wind,
und guten Kindern kommst du in die Träume."
Da neigen alle sich wie Birkenbäume.
Es neigen sich die Blonden und die Braunen
vor seinem Lächeln, und die Alten staunen.
Und Kinder flüchten sich von allen Seiten
in seinen Segen heim wie in ein Haus,
und lauschen alle. Seine Worte breiten
weit über sie die weißen Flügel aus:

"Hat einmal eins von euch schon nachgedacht,
wie eilig euch die leisen Stunden führen
an jedem Tag und in jeder Nacht
durch tausend Tore und durch tausend Türen.
Noch gehn die Angeln alle leicht und leise
und alle Pforten fallen scheu ins Schloß;
noch bin ich Warner euch und Weggenoß,
doch weit aus meinen Reichen reift die Reise.
Ihr wollt ins Leben, und das bin ich nicht,
ihr müßt ins Dunkel, und ich bin das Licht,
ihr hofft die Freude, ich bin der Verzicht,
ihr sehnt das Glück und - ich bin das Gericht."
Er schwieg. Von ferne  horchten auch die Großen.
Dann seufzte er: "Ihr müßt mich nicht verstoßen,
wenn wir zusammen an den Marken stehn.
Mich mitzunehmen seid ihr dann zu jung;
doch schaut ihr mal zurück von euren Fahrten
vielleicht in einen armen Blumengarten,
vielleicht ins Mutterlächeln einer zarten
versehnten Frau, vielleicht in ein Erwarten:
Ich bin die Kindheit, die Erinnerung.
Gebt mir die Hand, schenkt mir (im) Weitergehn
noch einen Blick, der schon ins Leben tauchte,
aus dem der neue und noch niegebrauchte
Gott seine Hände euch entgegenhält.
Ihr dürft hinaus. Es wartet eine Welt."

Sie horchten hastig seinem Verheißen,
ihre Wangen waren so warm:
"Werden wir an den Türen reißen?!"
ruft ein wilder Kleiner im Schwarm.
Und da bettelt er bang: "Du führe
schnell uns weiter durch Wasser und Wald,
und die große, die letzte Türe
kommt sie dann bald?"

So an dem Glück, das der Meister verkündet,
haben sich hell seine Augen entzündet,
und er blüht in der Sonne auf.
Aber da hebt sich aus horchendem Hauf
einsam ein Kleiner, ihm weht das verworrne
welkende Haar um die Stirne gebläht
wie die zerrissene Zier überm Zorne
eines Helmes weht.
Seine Stimme flattert und fleht:
"Du!" er klammert um seine Knie
bange die armen hungernden Hände -
"Solche Worte vom ewigen Ende
sagtest Du nie!
Wenn die andern undankbaren
weiter wollen zu jagenden Jahren -
ich bin anders, anders wie sie!"
Und er umklammert im Krampfe die Knie. -

Und die Lippen des Lichten erbeben,
und er neigt sich dem Weinenden leise:
"Giebt die Mutter dir Spiel und Speise?"
Da schluchzt ihm der Knab in den Schooß:
"Zum Spielen bin ich zu groß."
"Bringt sie dir morgens ins Stübchen
deine Brühe warm?"
Da bebt das bangende Bübchen:
"Bin zum Essen zu arm."
"Küßt sie dir nie die Wange
mit ihrer Liebe rot?"
Da gesteht er: "Lange, lange
ist mir Mutter tot."...
Und die Lippen des Lichten erbeben
wie Blätter im herbstlichen Hain:
"Oh dann warst  du schon draußen im Leben,
und wir können beisammen sein."

Aus: Christus Elf Visionen (München, Sommer 1897)