Die
Waise
Sie trollten sich. Es war ein schlecht Begängnis,-
die letzte Klasse. Keine Glocke klang.
Die Kleine sann: Lang war die Mutter krank,
durch Jahre war die Stube ihr Gefängnis.
Sie sagten Alle heute: Gott sei Dank -
sie ist erlöst. - Ihr aber war so bang
vor einem unerklärlichen Verhängnis.
Ja, und was jetzt? Sie haben sie verscharrt.
Du lieber Gott, was ist doch gar so hart
der feuchte Hügel da von Schutt und Steinen.
Und Mütterchen war doch gewohnt an Leinen
als weiches Lager. Und ihr kommt ein Weinen.
Warum sie sie so schlecht gebettet haben?
Warum in dumpfe, schwarze Erde graben
was hoch im Himmel helle Heimat hat? -
Der Himmel! Das muß eine Märchenstadt
mit goldnen Kuppeln sein und weißen Gassen,
dort ist nur Licht und Liebe - nicht zu fassen,
und niemand ist dort traurig und verlassen,
und selig Singen ist dort alles Tun.
Ein Stern ist Spielzeug wie das weiße Schaf,
mit dem die Kleine wohl zu spielen traf,
und ist dort oben eins besonders brav,
darfs in des Mondes Silberwiege ruhn,
verkrochen in der Wolken Flockenflaum.
Das muß ein Schlaf dort sein - und erst ein Traum!
Da sieht die Kleine aus dem Sinnen auf:
Der Frühling wartet rings mit tausend Blüten,
und wie in jenen tiefen Märchenmythen,
drin braune Zwerge rote Schätze hüten,
ist lauter eitel Gold der Kirchturmknauf.
Nein, ist die Gotteswelt doch eine Pracht
und neu, als hätt der Herr sie just gemacht;
der Kleinen ists ein Jubel - und sie lacht.
Da schaut sie: drüben an der Kirchhofmauer
lehnt noch ein Mann so reglos und so müd;
in seinem dunkelgroßen Auge glüht
wie eine trübe Totenkerze - Trauer.
Derb ist und bäuerisch sein grau Gewand;
ins wirre Haar krallt er die irre Hand
und starrt verloren nach der Berge Rand
als ob zum Fluge in das fremde Land
sich seiner Seele leise Schwinge breite.
Die Kleine trippelt kindisch ihm zur Seite
und staunt ihn groß mit Frageaugen an
und dann klingts alltagsfremd und unverdorben:
"Du, was bist du so traurig, fremder Mann, -
ist dir vielleicht auch Mütterchen gestorben?"
Er hört es nicht. Sein fremdes Auge sinnt
noch immer Wunder, und er sagt nur leise
ungern gestört wie der verlorne Weise
dem sich ein Neues drängt in Kraft und Kreise:
"Geh heim zu deiner Mutter, Kind."
Da schrickt das Kind zusammen: "Du, ich habe
dir doch gesagt, ich hab nicht Mutter mehr."
"So", nickt der Fremde dumpf, "ist sie im Grabe?"
Er senkt die Hand aufs Haupt des Kindes schwer
und träumt den Segen: Leicht sei ihr die Erde.
Da ist der Kleinen wieder bang. Ihr nagts
am Herzen wieder wie ein wildes Weh,
sie schmiegt sich näher in des Grauen Näh:
"Nichtwahr, du weißt es auch, im Himmel seh
ich wieder sie - nichtwahr - der Pfarrer sagts?"
Das Wort verweht, ein leises Heimchen geigt,
die Kleine horcht, ein weißer Falter reigt,
die Kleine horcht, aus fernen Hütten steigt
ein Zitterrauch ... Der große Graue schweigt.
Aus: Christus Elf Visionen (München, 5. Oktober 1896)