Dritter Brief
von Erika Mitterer


Sag, ist es recht, wenn ich nun nicht mehr bange,
da ich mein Schicksal Dir verwoben weiß?
Vergieb die Schwäche! Doch ich bangte lange
und sehe nun geschlossen meinen Kreis.

Ist es zuviel, vielleicht auch zu beschwerend
für Deine Demut, wenn man so vertraut?
Du bist vielleicht schon längst entwichen, während
mein Auge noch am alten Platz Dich schaut.

(25.VI.)

Sehr selten dämmert mir ein Ahnen auf,
dann meine ich, ich könnt es nicht ertragen,
müsse beschleunigen der Dinge Lauf
und allem Volk von Deiner Größe sagen.

Und ich begreif es nicht: was kommt Dir bei,
mich Unbekannte neben Dich zu stellen?
- Du bist ein Meer. Mir träumte einst, ich sei
sekundenlang der Kamm auf Deinen Wellen.

(26. VI.)

Laß mich Weihrauch sein in  Deinem Dom,
laß mich Rahmen sein an Deinem Bild,
laß mich Weg sein. Du bist Ziel, bist Rom,
das auf sieben Hügeln sich erfüllt.

Du bist Stille, ich bin Klang, der ihre
schöpferische Schweigsamkeit erhöht.
Du bist Donner - ich die Angst der Tiere,
wenn der Sturm um ihre Hütte geht.

Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Briefwechsel in Gedichten zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer, dritter Brief,  am 25./ 26. Juni 1924)