Erster Brief
von Erika Mitterer
 

"Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert"




Siehe, das Buch schlägt sich auf! O Du großer Erlöster,
durchs Leben Erlöster, Dir kann nichts geschehn!
Hinter Dir schlossen sich dunkelnde Klöster,
stießen hinaus Dich in blühnde Alleen.

Haben wir Maße für unsere Freude?
- Alles was froh ist, ist ganz. Doch es wird,
wie ein in sich schon bewegtes Getreide,
weht es im Winde, herrlich beirrt

durch immer wachsender Lüfte Bewegung.
Dankbar giebt es den Winden sich hin.
Dank Dir, danke, für jegliche Regung
meines Gemütes, das ahnet: Ich bin.

Du warst in mir. Da nahm Dich einer her
im Alltagslicht, und war mit Dir vertraut.
Und vieles war nun nie erträumbar mehr,
das ich in stillen Stunden auferbaut.

Da ging ich aus, um die Brücke zu finden,
die wieder mit Dir mich vereint.
Ich kann nicht fassen, daß die Blinden
die Sonne besitzen, die mir nicht scheint.

Ich fasse nicht, daß irgendwo
gestern ein Fremder Dir sprach,
während ich ahne: Du lächelst so -
und wann Dir ein Lächeln gebrach.

Versteh: bis heut warst Du nicht in der Zeit,
und nie und durch nichts zu erkunden.
Ich wünschte, Du wärest Vergangenheit,
durch nichts und niemand verbunden....

Doch da Du bist, jetzt im Leben verfußt,
gönn mir ein Lächeln, ein kleines,
lenzhaft sich freuendes, wenn Du ruhst
im herbstlichen Schatten des Haines...

Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Briefwechsel in Gedichten zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer, erster Brief, Wien, Mai 1924)