Sechster Brief
von Erika Mitterer
 


Ich will jetzt schweigen, wie die Wiese, die
sich sanft dem Fall des Regens vorbereitet -
ich fürchtete, daß sie vorübergleitet,
die hoffnungsvolle Wolke. Aber sie

hielt an. Oh welcher Wind vermochte diese,
ihr Gehn und Bleiben herrlich zu verpflichten?
Ich fühle: bald! Und bin die matte Wiese -
Komm Du, um ihre Halme aufzurichten.

Komm nicht zu stark. Die einmal sehr Verwöhnte
durch Übermaß ist nicht mit Maß zufrieden,
denn allzubalde glaubt die reich Verschönte
selbst, alle Schönheit sei ihr ganz beschieden.

Leg mich nicht nieder durch zu starken Schauer,
sonst mußt Du Wind sein, der mich wieder hebt.
Doch kannst Du beides. Jedes Bild ist Mauer,
(vielleicht vom Abendsonnenschein belebt).


Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Briefwechsel in Gedichten zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer, sechster Brief, Juli 1924)