Zehnte Antwort

Wie scheinst Du mir als Dichterin vermehrt,
wie hast Du Dich, seitdem ich schwieg, entfaltet;
Wachstum ist alles, siehst Du, nichts veraltet,
die leichte Süße leichter wiederkehrt!

Wir wollten schweigen; selber sprachst Du`s aus.
Das Wort verlangte Raum, um auszugehen...
Auch durfte auf dem Grund des Unterbaus,
den wir uns schufen, solches Schweigen stehen.

Dazu kam dies: Ich war nicht krank, doch fast;
beinahe-kranksein aber ist noch schlimmer:
der Geist giebt nach, bezieht ein Krankenzimmer, -
nichts ist ihm lieb und Lässiges verhaßt.
So fühlt ein Vogel manchesmal die Last
der schweren Flügel... Oder Sterne spüren
(statt jener Mächte, die sie führen,)
in sich der Stoffe Dumpfheit und Kontrast.

So schwieg ich Steine. Doch ich schwieg auch ihn,
den Gott des Schweigens, leicht zu Dir hinüber:
nun geht an Deinen Lippen leise über
sein Mund, der nur bedeutete und schien.

Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (Briefwechsel in Gedichten zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer, zehnte Antwort, z. Zt. Val-Monts/ Territet p. Glion (Vaud), 1. Januar 1925)