Zweiter Brief
von Erika Mitterer
mit einem
Büchlein Gedichte
Ernster war mir nie das Glück
gewogen,
nie ein Zweifel größer als
vorher, -
höher gehen meines Lebens Wogen,
und nur eine Sehnsucht hab ich mehr:
Ganz mein Wesen vor Dir auszubreiten,
einen Teppich, der, vielleicht,
erfreut, -
magst Du lächelnd auch
vorüberschreiten,
ich weiß fürder, daß
ich benedeit.
(aus dem Büchlein:)
An Melitta
Du hast aus jenem Sein dich mir
entzogen,
in dem ich dich am ehesten begriff.
Jetzt schwanke ich, ein steuerloses
Schiff,
auf eines grenzenlosen Meeres Wogen.
Sag, warum hast du mich um dich
betrogen,
Wegweiser, trügerischer
Regenbogen,
der Brücke scheint und Ziel? Wie
viele Meilen
irrte ich schon? -- Mein Kind, ich
liebe dich.
Doch horche auf: ich bin zu
königlich
um meinen Ruhm mit meinem Kleid zu
teilen.
Gieb dich mir selbst. Nicht der
Gestalt, dem Kleid.
Wunschlos und schmerzlos. Sieh: ich
bin bereit.
Aus: Die Gedichte
1922 bis 1926 (Briefwechsel in Gedichten zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer,
zweiter Brief, 5.Juni 1924)