Der Arzt hat mich nicht verstanden. Nichts. Es war ja auch schwer zu
erzählen. Man wollte einen Versuch
machen mit dem Elektrisieren. Gut. Ich bekam einen Zettel: ich sollte
um ein Uhr in der Salpêtrère sein. Ich war dort. Ich
mußte lange an verschiedenen Baracken vorüber, durch
mehrere Höfe gehen, in denen da und dort Leute mit weißen
Hauben wie Sträflinge unter den leeren Bäumen
standen. Endlich kam ich in einen langen, dunklen, gangartigen Raum,
der auf der einen Seite vier Fenster aus mattem, grünlichem Glase
hatte, eines vom anderen durch eine breite, schwarze Zwischenwand
getrennt. Davor lief eine Holzbank hin, an allem vorbei, und auf
dieser Bank saßen sie, die mich kannten, und warteten. Ja, sie waren alle
da. Als ich mich an die Dämmerung des Raumes gewöhnt hatte,
merkte ich, daß unter denen, welche Schulter an Schulter in
endloser Reihe dasaßen, auch einige andere Leute sein konnten,
kleine Leute, Handwerker, Bedienernnen und Lastkutscher. Unten an der
Schmalseite des Ganges auf besonderen Stühlen hatten sich zwei
dicke Frauen ausgebreitet, die sich unterhielten, vermutlich
Conciergen. Ich sah nach der Uhr; es war fünf Minuten vor
Eins. Nun in fünf, sagen wir in zehn Minuten, mußte ich
drankommen; es war also nicht so schlimm. Die Luft war schlecht,
schwer, voll Kleider und Atem. An einer gewissen Stelle schlug die
starke, steigernde Kühle von Äther aus einer
Türspalte. Ich begann auf und ab zu gehen. Es kam mir in den
Sinn, daß man mich hierher gewiesen hatte, unter diese Leute, in
diese überfüllte, allgemeine Sprechstunde. Es war sozusagen
die erste öffentliche Bestätigung, daß ich zu den
Fortgeworfenen gehörte; hatte der Arzt es mir angesehen? Aber ich
hatte meinen Besuch in einem leidlich guten Anzuge gemacht, ich hatte
meine Karte hineingeschickt. Trotzdem, er mußte es irgendwie
erfahren haben, vielleicht hatte ich mich selbst verraten. Nun, da es
einmal Tatsache war, fand ich es auch gar nicht so arg; die Leute
saßen still und achteten nicht auf mich. Einige hatten Schmerzen
und schwenkten ein wenig das eine Bein, um sie leichter
auszuhalten. Verschiedene Männer hatten den Kopf in die flachen
Hände gelegt, andere schliefen tief mit schweren,
verschütteten Gesichtern. Ein dicker Mann mit rotem,
angeschwollenem Halse saß vorübergebeugt da, stierte auf
den Fußboden und spie von Zeit zu Zeit klatschend auf einen Fleck,
der ihm dazu passend schien. Ein Kind schluchzte in einer Ecke; die
langen magern Beine hatte es zu sich auf die Bank gezogen, und nun
hielt es sie umfaßt und an sich gepreßt, als
müßte es von ihnen Abschied nehmen. Eine kleine, blasse
Frau, der ein mit runden,
schwarzen Blumen geputzter Krepphut schief auf den Haaren saß,
hatte die Grimasse eines Lächelns um die dürftigen Lippen,
aber ihre wunden Lider gingen beständig über. Nicht weit von
ihr hatte man ein Mädchen hingesetzt mit rundem glatten Gesicht
und herausgedrängten Augen, die ohne Ausdruck waren; sein Mund
stand offen, so daß man das weiße, schleimige Zahnfleisch
sah mit den alten, verkümmerten Zähnen. Und viele
Verbände gab es. Verbände, die den ganzen Kopf Schichte um
Schichte umzogen, bis nur noch ein einziges Auge da war, das niemandem
mehr gehörte. Verbände, die verbargen, und Verbände,
die zeigten, was darunter war. Verbände, die man geöffnet
hatte und in denen nun, wie in einem schmutzigen Bett, eine Hand lag,
die keine mehr war; und ein eingebundenes Bein, das aus der Reihe
herausstand, groß wie ein ganzer Mensch. Ich ging auf und ab und
gab mir Mühe, ruhig zu sein. Ich beschäftigte mich viel mit
der gegenüberliegenden Wand. Ich bemerkte, daß sie eine
Anzahl einflügeliger Türen enthielt und nicht bis an die
Decke reichte, so daß dieser Gang von den Räumen, die
daneben liegen mußten, nicht ganz abgetrennt war. Ich sah nach
der Uhr; ich war eine Stunde auf und ab gegangen. Eine Weile
später kamen die Ärzte. Zuerst ein paar junge Leute, die mit
gleichgültigen Gesichtern vorbeigingen, schließlich der,
bei dem ich gewesen war, in lichten Handschuhen, Chapeau ä huit
reflets, tadellosem Überzieher. Als er mich sah, hob er ein
wenig den Hut und lächelte zerstreut. Ich hatte nun Hoffnung,
gleich gerufen zu werden, aber es verging wieder eine Stunde. Ich kann
mich nicht erinnern, womit ich sie verbrachte. Sie verging. Ein alter
Mann kam in einer fleckigen Schürze, eine Art Wärter, und
berührte mich an der Schulter. Ich trat in eines der
Nebenzimmer. Der Arzt und die jungen Leute saßen um einen Tisch
und sahen mich an, man gab mir einen Stuhl. So. Und nun sollte ich
erzählen, wie das eigentlich mit mir wäre. Möglichst
kurz, s'il vous plaît. Denn viel
Zeit hätten die Herren nicht. Mir war seltsam zumut. Die jungen
Leute saßen und sahen mich an mit jener überlegenen,
fachlichen Neugier, die sie gelernt hatten. Der Arzt, den ich kannte,
strich seinen schwarzen Spitzbart und lächelte zerstreut. Ich
dachte, daß ich in Weinen ausbrechen würde, aber ich
hörte mich französisch sagen: »Ich hatte bereits die
Ehre, Ihnen, mein Herr, alle Auskünfte zu geben, die ich geben
kann. Halten Sie es für nötig, daß diese Herren
eingeweiht werden, so sind Sie nach unserer Unterredung gewiß
imstande, dies mit einigen Worten zu tun, während es mir sehr
schwer fällt.« Der Arzt erhob sich mit höflichem
Lächeln, trat mit den Assistenten ans Fenster und sagte ein paar
Worte, die er mit einer waagerechten, schwankenden Handbewegung
begleitete. Nach drei Minuten kam einer von den jungen Leuten,
kurzsichtig und fahrig, an den Tisch zurück und sagte, indem er
versuchte, mich strenge anzusehen: »Sie schlafen gut, mein
Herr?« »Nein, schlecht.« Worauf er wieder zu der
Gruppe zurück sprang. Dort verhandelte man noch eine Weile, dann
wandte sich der Arzt an mich und teilte mir mit, daß man mich
rufen lassen würde. Ich erinnerte ihn, daß ich auf ein Uhr
bestellt worden sei. Er lächelte und machte ein paar schnelle,
sprunghafte Bewegungen mit seinen kleinen wei ßen Händen,
die bedeuten wollten, daß er ungemein beschäftigt sei. Ich
kehrte also in meinen Gang zurück, in dem die Luft viel lastender
geworden war, und fing wieder an, hin und her zu gehen, obwohl ich
mich todmüde fühlte. Schließlich machte der feuchte,
angehäufte Geruch mich schwindlig; ich blieb an der
Eingangstür stehen und öffnete sie ein wenig. Ich sah,
daß draußen noch Nachmittag und etwas Sonne war, und das
tat mir unsagbar wohl. Aber ich hatte kaum eine Minute so gestanden,
da hörte ich, daß man mich rief. Eine Frauenperson, die
zwei Schritte entfernt bei einem kleinen Tische saß, zischte mir
etwas zu. Wer mich geheißen hätte, die Türe
öffnen. Ich sagte, ich könnte die
Luft nicht vertragen. Gut, das sei meine Sache, aber die Türe
müsse geschlossen bleiben. Ob es denn nicht anginge, ein Fenster
aufzumachen. Nein, das sei verboten. Ich beschloß, das
Aufundabgehen wieder aufzunehmen, weil es schließlich eine Art
Betäubung war und niemanden kränkte. Aber der Frau an dem
kleinen Tische mißfiel jetzt auch das. Ob ich denn keinen Platz
hätte. Nein, den hätte ich nicht. Das Herumgehen sei aber
nicht gestattet; ich müßte mir einen Platz suchen. Es
würde schon noch einer da sein. Die Frau hatte recht. Es fand
sich wirklich sogleich ein Platz neben dem Mädchen mit den
herausdrängenden Augen. Da saß ich nun in dem Gefühle,
daß dieser Zustand unbedingt auf etwas Fürchterliches
vorbereiten müsse. Links war also das Mädchen mit dem
faulenden Zahnfleisch; was rechts von mir war, konnte ich erst nach
einer Weile erkennen. Es war eine ungeheuere, unbewegliche Masse, die
ein Gesicht hatte und eine große, schwere, reglose Hand. Die
Seite des Gesichtes, die ich sah, war leer, ganz ohne Züge und
ohne Erinnerungen, und es war un heimlich, daß der Anzug wie der
einer Leiche war, die man für den Sarg angekleidet hatte. Die
schmale, schwarze Halsbinde war in derselben losen
unpersönlichen Weise um den Kragen geschnallt, und dem Rock sah
man es an, daß er von anderen über diesen willenlosen
Körper gezogen worden war. Die Hand hatte man auf diese Hose
gelegt, dorthin wo sie lag, und sogar das Haar war wie von
Leichenwäscherinnen gekämmt und war, wie das Haar
ausgestopfter Tiere, steif geordnet. Ich betrachtete das alles mit
Aufmerksamkeit, und es fiel mir ein, daß dies also der Platz
sei, der für mich bestimmt gewesen war, denn ich glaubte nun
endlich an diejenige Stelle meines Lebens gekommen zu sein, an der ich
bleiben würde. Ja, das Schicksal geht wunderbare Wege.
Plötzlich erhoben sich ganz in der Nähe rasch hintereinander
die erschreckten, abwehrenden Schreie eines Kindes,
denen ein leises, zugehaltenes Weinen folgte. Während ich mich
anstrengte, herauszufinden, wo das könnte gewesen sein,
verzitterte wieder ein kleiner, unterdrückter Schrei, und ich
hörte Stimmen, die fragten, eine Stimme, die halblaut befahl,
und dann schnurrte irgend eine gleichgültige Maschine los und
kümmerte sich um nichts. Jetzt erinnerte ich mich jener halben
Wand, und es war mir klar, daß das alles von jenseits der
Türen kam und daß man dort an der Arbeit war. Wirklich
erschien von Zeit zu Zeit der Wärter mit der fleckigen
Schürze und winkte. Ich dachte gar nicht mehr daran, daß er
mich meinen könnte. Galt es mir? Nein. Zwei Männer waren da
mit einem Rollstuhl; sie hoben die Masse hinein, und ich sah jetzt,
daß es ein alter, lahmer Mann war, der noch eine andere,
kleinere, vom Leben abgenutzte Seite hatte mit einem offenen,
trüben, traurigen Auge. Sie fuhren ihn hinein, und neben mir
entstand eine Menge Platz. Und ich saß und dachte, was sie wohl
dem blöden Mädchen tun wollten und ob es auch schreien
würde. Die Maschinen dahinten schnurrten so angenehm
fabrikmäßig, es hatte gar nichts Beunruhigendes.
Plötzlich aber war alles still, und in die Stille sagte eine
überlegene, selbstgefällige Stimme, die ich zu kennen
glaubte:
»Riez!« Pause. »Riez. Mais riez, riez.« Ich
lachte schon. Es war unerklärlich, weshalb der Mann da
drüben nicht lachen wollte. Eine Maschine ratterte los,
verstummte aber sofort wieder, Worte wurden gewechselt, dann erhob
sich wieder dieselbe energische Stimme und befahl: »Dites-nous
le mot: avant.« Buchstabierend: »a-v-a-n-t«
. . . Stille. »On n'entend rien. Encore une fois:
. . . «
Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte: da zum
erstenmal seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir
das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im
Fieber lag: das Große. Ja, so hatte ich immer gesagt, wenn sie
alle um mein Bett standen und mir
den Puls fühlten und mich fragten, was mich erschreckt habe: Das
Große. Und wenn sie den Doktor holten und er war da und redete
mir zu, so bat ich ihn, er möchte nur machen, daß das
Große wegginge, alles andere wäre nichts. Aber er war wie
die andern. Er konnte es nicht fortnehmen, obwohl ich damals doch
klein war und mir leicht zu helfen gewesen wäre. Und jetzt war es
wieder da. Es war später einfach ausgeblieben, auch in
Fiebernächten war es nicht wiedergekommen, aber jetzt war es da,
obwohl ich kein Fieber hatte. Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir
heraus wie eine Geschwulst, wie ein zweiter Kopf, und war ein Teil von
mir, obwohl es doch gar nicht zu mir gehören konnte, weil es so
groß war. Es war da, wie ein großes totes Tier, das
einmal, als es noch lebte, meine Hand gewesen war oder mein Arm. Und
mein Blut ging durch mich und durch es, wie durch einen und denselben
Körper. Und mein Herz mußte sich sehr anstrengen, um das
Blut in das Große zu treiben: es war fast nicht genug Blut
da. Und das Blut trat ungern ein in das Große und kam krank und
schlecht zurück. Aber das Große schwoll an und wuchs mir
vor das Gesicht wie eine warme bläuliche Beule und wuchs mir vor
den Mund, und über meinem letzten Auge war schon der Schatten von
seinem Rande.
Ich kann mich nicht erinnern, wie ich durch die vielen Höfe
hinausgekommen war. Es war Abend, und ich verirrte mich in der
fremden Gegend und ging Boulevards mit endlosen Mauern in einer
Richtung hinauf und, wenn dann kein Ende da war, in der
entgegengesetzten Richtung zurück bis an irgendeinen Platz. Dort
begann ich eine Straße zu gehen, und es kamen andere
Straßen, die ich nie gesehen hatte, und wieder
andere. Elektrische Bahnen rasten manchmal überhell und mit
hartem, klopfendem Geläute heran und vorbei. Aber auf ihren
Tafeln standen Namen, die ich nicht kannte. Ich wußte nicht, in
welcher Stadt ich war und ob ich hier irgendwo eine
Wohnung hatte und was ich tun mußte, um nicht mehr gehen zu
müssen.
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