Gestern war mein Fieber besser, und heute fängt der Tag wie
Frühling an, wie Frühling in Bildern. Ich will versuchen,
auszugehen in die Bibliothèque Nationale zu meinem Dichter, den
ich so lange nicht gelesen habe, und vielleicht kann ich später
langsam durch die Gärten gehen. Vielleicht ist Wind über dem
großen Teich, der so wirkliches Wasser hat, und es kommen
Kinder, die ihre Schiffe mit den roten Segeln hineinlassen und
zuschauen.
Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig ausgegangen, als
wäre das das Natürlichste und Einfachste. Und doch, es war
wieder etwas da, das mich nahm wie Papier, mich zusammenknüllte
und fortwarf, es war etwas Unerhörtes da.
Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sich leicht auf
seiner leisen Neigung. Fensterflügel oben öffneten sich mit
gläsernem Aufklang, und ihr Glänzen flog wie ein
weißer Vogel über die Straße. Ein Wagen mit hellroten
Rädern kam vorüber, und weiter unten trug jemand etwas
Lichtgrünes. Pferde liefen in blinkernden Geschirren auf dem
dunkel gespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt, neu,
mild, und alles stieg auf: Gerüche, Rufe, Glocken.
Ich kam an einem der Caféhäuser vorbei, in denen am Abend
die falschen roten Zigeuner spielen. Aus den offenen Fenstern kroch
mit schlechtem Gewissen die übernächtige
Luft. Glattgekämmte Kellner waren dabei, vor der Türe zu
scheuern. Der eine stand gebückt und warf, handvoll nach
handvoll, gelblichen Sand unter die Tische. Da stieß ihn einer
von den Vorübergehenden an und zeigte die Straße
hinunter. Der Kellner, der ganz rot im Gesicht war, schaute eine Weile
scharf hin, dann verbreitete sich ein Lachen auf seinen bartlosen
Wangen, als wäre es darauf verschüttet worden. Er winkte den
andern Kellnern, drehte das lachende Gesicht ein paarmal schnell von
rechts nach links, um alle herbeizurufen und selbst nichts zu
versäumen. Nun standen alle und blickten hinuntersehend oder
-suchend, lächelnd oder ärgerlich, daß sie noch nicht
entdeckt hatten, was Lächerliches es gäbe.
Ich fühlte, daß ein wenig Angst in mir anfing. Etwas
drängte mich auf die andere Seite hinüber; aber ich begann
nur schneller zu gehen und überblickte unwillkürlich die
wenigen Leute vor mir, an denen ich nichts Besonderes bemerkte. Doch
ich sah, daß der eine, ein Laufbursche mit einer blauen
Schürze und einem leeren Henkelkorb über der einen Schulter,
jemandem nachschaute. Als er genug hatte, drehte er sich auf derselben
Stelle nach den Häusern um und machte zu einem lachenden Kommis
hinüber die schwankende
Bewegung vor der Stirne, die allen geläufig ist. Dann blitzte er
mit den schwarzen Äugen und kam mir befriedigt und sich wiegend
entgegen.
Ich erwartete, sobald mein Auge Raum hatte, irgendeine
ungewöhnliche und auffallende Figur zu sehen, aber es zeigte
sich, daß vor mir niemand ging, als ein großer hagerer
Mann in einem dunklen Überzieher und mit einem weichen, schwarzen
Hut auf dem kurzen, fahlblonden Haar. Ich vergewisserte mich,
daß weder an der Kleidung, noch in dem Benehmen dieses Mannes
etwas Lächerliches sei, und versuchte schon, an ihm vorüber
den Boulevard hinunter zu schauen, als er über irgend etwas
stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte, nahm ich mich in acht, aber
als die Stelle kam, war da nichts, rein nichts. Wir gingen beide
weiter, er und ich, der Abstand zwischen uns blieb derselbe. Jetzt kam
ein Straßenübergang, und da geschah es, daß der Mann
vor mir mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs
hinunterhüpfte in der Art etwa, wie Kinder manchmal während
des Gehens aufhüpfen oder springen, wenn sie sich freuen. Auf den
jenseitigen Gangsteig kam er einfach mit einem langen Schritt
hinauf. Aber kaum war er oben, zog er das eine Bein ein wenig an und
hüpfte auf dem anderen einmal hoch und gleich darauf wieder und
wieder. Jetzt konnte man diese plötzliche Bewegung wieder ganz
gut für ein Stolpern halten, wenn man sich einredete, es
wäre da eine Kleinigkeit gewesen, ein Kern, die glitschige Schale
einer Frucht, irgend etwas; und das Seltsame war, daß der Mann
selbst an das Vorhandensein eines Hindernisses zu glauben schien,
denn er sah sich jedesmal mit jenem halb ärgerlichen, halb
vorwurfsvollen Blick, den die Leute in solchen Augenblicken haben,
nach der lästigen Stelle um. Noch einmal rief mich etwas
Warnendes auf die andere Seite der Straße, aber ich folgte nicht
und blieb immerfort hinter diesem Manne, indem ich meine ganze
Aufmerksamkeit auf seine Beine richtete. Ich muß gestehen, daß ich
mich merkwürdig erleichtert fühlte, als etwa zwanzig
Schritte lang jenes Hüpfen nicht wiederkam, aber da ich nun meine
Äugen aufhob, bemerkte ich, daß dem Manne ein anderes
Ärgernis entstanden war. Der Kragen seines Überziehers hatte
sich aufgestellt; und wie er sich auch, bald mit einer Hand, bald mit
beiden umständlich bemühte, ihn niederzulegen, es wollte
nicht gelingen. Das kam vor. Es beunruhigte mich nicht. Aber gleich
darauf gewahrte ich mit grenzenloser Verwunderung, daß in den
beschäftigten Händen dieses Menschen zwei Bewegungen waren:
eine heimliche, rasche, mit welcher er den Kragen unmerklich
hochklappte, und jene andere ausführliche, anhaltende, gleichsam
übertrieben buchstabierte Bewegung, die das Umlegen des Kragens
bewerkstelligen sollte. Diese Beobachtung verwirrte mich so sehr,
daß zwei Minuten vergingen, ehe ich erkannte, daß im
Halse des Mannes, hinter dem hochgeschobenen Überzieher und den
nervös agierenden Händen dasselbe schreckliche, zweisilbige
Hüpfen war, das seine Beine eben verlassen hatte. Von diesem
Augenblick an war ich an ihn gebunden. Ich begriff, daß dieses
Hüpfen in seinem Körper herumirrte, daß es versuchte,
hier und da auszubrechen. Ich verstand seine Angst vor den Leuten, und
ich begann selber vorsichtig zu prüfen, ob die
Vorübergehenden etwas merkten. Ein kalter Stich fuhr mir durch
den Rücken, als seine Beine plötzlich einen kleinen, zuckenden
Sprung machten, aber niemand hatte es gesehen, und ich dachte mir
aus, daß auch ich ein wenig stolpern wollte, im Falle jemand
aufmerksam wurde. Das wäre gewiß ein Mittel, Neugierige
glauben zu machen, es hätte da doch ein kleines, unscheinbares
Hindernis im Wege gelegen, auf das wir zufällig beide getreten
hätten. Aber während ich so auf Hülfe sann, hatte er
selbst einen neuen, ausgezeichneten Ausweg gefunden. Ich habe
vergessen zu sagen, daß er einen Stock trug, nun, es war ein
einfacher
Stock, aus dunklem Holze mit einem schlichten, rund gebogenen
Handgriff. Und es war ihm in seiner suchenden Angst in den Sinn
gekommen, diesen Stock zunächst mit einer Hand (denn wer
weiß, wozu die zweite noch nötig sein würde) auf den
Rücken zu halten, gerade über die Wirbelsäule, ihn fest
ins Kreuz zu drücken und das Ende der runden Krücke in den
Kragen zu schieben, so daß man es hart und wie einen Halt hinter
dem Halswirbel und dem ersten Rückenwirbel spürte. Das war
eine Haltung, die nicht auffällig, höchstens ein wenig
übermütig war; der unerwartete Frühlingstag konnte das
entschuldigen. Niemandem fiel es ein, sich umzusehen, und nun ging
es. Es ging vortrefflich. Freilich beim nächsten
Straßenübergange kamen zwei Hüpfer aus, zwei kleine,
halbunterdrückte Hüpfer, die vollkommen belanglos waren; und
der eine, wirklich sichtbare Sprung war so geschickt angebracht (es
lag gerade ein Spritzschlauch quer über dem Weg), daß
nichts zu befürchten war. Ja, noch ging alles gut; von Zeit zu
Zeit griff auch die zweite Hand an den Stock und preßte ihn
fester an, und die Gefahr war gleich wieder überstanden. Ich
konnte nichts dagegen tun, daß meine Angst dennoch wuchs. Ich
wußte, daß, während er ging und mit unendlicher
Anstrengung versuchte, gleichgültig und zerstreut auszusehen,
das furchtbare Zucken in seinem Körper sich anhäufte; auch
in mir war die Angst, mit der er es wachsen und wachsen fühlte,
und ich sah, wie er sich an den Stock klammerte, wenn es innen in ihm
zu rütteln begann. Dann war der Ausdruck dieser Hände so
unerbittlich und streng, daß ich alle Hoffnung in seinen Willen
setzte, der groß sein mußte. Aber was war da ein
Wille. Der Augenblick mußte kommen, da seine Kraft zu Ende war,
er konnte nicht weit sein. Und ich, der ich hinter ihm herging mit
stark schlagendem Herzen, ich legte mein bißchen Kraft zusammen
wie Geld, und indem ich auf seine Hände sah, bat ich ihn, er
möchte nehmen, wenn er es brauchte.
Ich glaube, daß er es genommen hat; was konnte ich dafür,
daß es nicht mehr war.
Auf der Place St-Michel waren viele Fahrzeuge und hin und her eilende
Leute, wir waren oft zwischen zwei Wagen und dann holte er Atem und
ließ sich ein wenig gehen, wie um auszuruhen, und ein wenig
hüpfte es und nickte ein wenig. Vielleicht war das die List, mit
der die gefangene Krankheit ihn überwinden wollte. Der Wille war
an zwei Stellen durchbrochen, und das Nachgeben hatte in den
besessenen Muskeln einen leisen, lockenden Reiz zurückgelassen
und den zwingenden Zweitakt. Aber der Stock war noch an seinem Platz,
und die Hände sahen böse und zornig aus; so betraten wir die
Brücke, und es ging. Es ging. Nun kam etwas Unsicheres in den
Gang, nun lief er zwei Schritte, und nun stand er. Stand. Die linke
Hand löste sich leise vom Stock ab und hob sich so langsam empor,
daß ich sie vor der Luft zittern sah; er schob den Hut ein wenig
zurück und strich sich über die Stirn. Er wandte ein wenig
den Kopf, und sein Blick schwankte über Himmel, Häuser und
Wasser hin, ohne zu fassen, und dann gab er nach. Der Stock war fort,
er spannte die Arme aus, als ob er auffliegen wollte, und es brach aus
ihm aus wie eine Naturkraft und bog ihn vor und riß ihn
zurück und ließ ihn nicken und neigen und schleuderte
Tanzkraft aus ihm heraus unter die Menge. Denn schon waren viele Leute
um ihn, und ich sah ihn nicht mehr.
Was hätte es für einen Sinn gehabt, noch irgendwohin zu
gehen, ich war leer. Wie ein leeres Papier trieb ich an den
Häusern entlang, den Boulevard wieder hinauf.
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