Einmal, als es über dieser Erzählung fast dunkel geworden
war war ich nahe daran, Maman von der >Hand<
zu erzählen: in diesem Augenblick hätte ich es gekonnt. Ich
atmete schon auf, um anzufangen, aber da fiel mir ein, wie gut ich den
Diener begriffen hatte, daß er nicht hatte kommen können
auf ihre Gesichter zu. Und ich fürchtete mich trotz der
Dunkelheit vor Mamans Gesicht, wenn es sehen würde, was ich
gesehen habe. Ich holte rasch noch einmal Atem, damit es den Anschein
habe, als hätte ich nichts anderes gewollt. Ein paar Jahre
hernach, nach der merkwürdigen Nacht in der Galerie auf
Urnekloster, ging ich tagelang damit um, mich dem kleinen Erik
anzuvertrauen. Aber er hatte sich nach unserem nächtlichen
Gespräch wieder ganz vor mir zugeschlossen, er vermied mich; ich
glaube, daß er mich verachtete. Und gerade deshalb wollte ich
ihm von der >Hand< erzählen. Ich bildete mir ein, ich
würde in seiner Meinung gewinnen (und das wünschte ich
dringend aus irgendeinem Grunde), wenn ich ihm begreiflich machen
könnte, daß ich das wirklich erlebt hatte. Erik aber war so
geschickt im Ausweichen, daß es nicht dazu kam. Und dann reisten
wir ja auch gleich. So ist es, wunderlich genug, das erstemal,
daß ich (und schließlich auch nur mir selber) eine
Begebenheit erzähle, die nun weit zurückliegt in meiner
Kindheit.
Wie klein ich damals noch gewesen sein muß, sehe ich daran,
daß ich auf dem Sessel kniete, um bequem auf den Tisch
hinaufzureichen, auf dem ich zeichnete. Es war am
Abend, im Winter, wenn ich nicht irre, in der Stadtwohnung. Der Tisch
stand in meinem Zimmer, zwischen den Fenstern, und es war keine Lampe
im Zimmer, als die, die auf meine Blätter schien und auf
Mademoiselles Buch; denn Mademoiselle saß neben mir, etwas
zurückgerückt, und las. Sie war weit weg, wenn sie las, ich
weiß nicht, ob sie im Buche war; sie konnte lesen, stundenlang,
sie blätterte selten um, und ich hatte den Eindruck, als
würden die Seiten immer voller unter ihr, als schaute sie Worte
hinzu, bestimmte Worte, die sie nötig hatte und die nicht da
waren. Das kam mir so vor, während ich zeichnete. Ich zeichnete
langsam, ohne sehr entschiedene Absicht, und sah alles, wenn ich nicht
weiter wußte, mit ein wenig nach rechts geneigtem Kopfe an; so
fiel mir immer am raschesten ein, was noch fehlte. Es waren Offiziere
zu Pferd, die in die Schlacht ritten, oder sie waren mitten drin, und
das war viel einfacher, weil dann fast nur der Rauch zu machen war,
der alles einhüllte. Maman freilich behauptet nun immer,
daß es Inseln gewesen waren, was ich malte; Inseln mit
großen Bäumen und einem Schloß und einer Treppe und
Blumen am Rand, die sich spiegeln sollten im Wasser. Aber ich glaube,
das erfindet sie, oder es muß später gewesen sein.
Es ist ausgemacht, daß ich an jenem Abend einen Ritter
zeichnete, einen einzelnen, sehr deutlichen Ritter auf einem
merkwürdig bekleideten Pferd. Er wurde so bunt, daß ich oft
die Stifte wechseln mußte, aber vor allem kam doch der rote in
Betracht, nach dem ich immer wieder griff. Nun hatte ich ihn noch
einmal nötig; da rollte er (ich sehe ihn noch) quer über das
beschienene Blatt an den Rand und fiel, ehe ichs verhindern konnte, an
mir vorbei hinunter und war fort. Ich brauchte ihn wirklich dringend,
und es war recht ärgerlich, ihm nun nachzuklettern. Ungeschickt,
wie ich war, kostete es mich allerhand Veranstaltungen,
hinunterzukommen; meine Beine schienen mir viel zu lang, ich konnte
sie nicht unter mir hervorziehen; die zu lange ein
gehaltene knieende Stellung hatte meine Glieder dumpf gemacht; ich
wußte nicht, was zu mir und was zum Sessel gehörte. Endlich
kam ich doch, etwas konfus, unten an und befand mich auf einem Fell,
das sich unter dem Tisch bis gegen die Wand hinzog. Aber da ergab sich
eine neue Schwierigkeit. Eingestellt auf die Helligkeit da oben und
noch ganz begeistert für die Farben auf dem weißen Papier,
vermochten meine Augen nicht das geringste unter dem Tisch zu
erkennen, wo mir das Schwarze so zugeschlossen schien, daß ich
bange war, daran zu stoßen. Ich verließ mich also auf mein
Gefühl und kämmte, knieend und auf die linke gestützt,
mit der andern Hand in dem kühlen, langhaarigen Teppich herum,
der sich recht vertraulich anfühlte; nur daß kein Bleistift
zu spüren war. Ich bildete mir ein, eine Menge Zeit zu verlieren,
und wollte eben schon Mademoiselle anrufen und sie bitten, mir die
Lampe zu halten, als ich merkte, daß für meine
unwillkürlich angestrengten Augen das Dunkel nach und nach
durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten die Wand unterscheiden,
die mit einer hellen Leiste abschloß; ich orientierte mich
über die Beine des Tisches; ich erkannte vor allem meine eigene,
ausgespreizte Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein
Wassertier, da unten bewegte und den Grund untersuchte. Ich sah ihr,
weiß ich noch, fast neugierig zu; es kam mir vor, als
könnte sie Dinge, die ich sie nicht gelehrt hatte, wie sie da
unten so eigenmächtig herumtastete mit Bewegungen, die ich nie
an ihr beobachtet hatte. Ich verfolgte sie, wie sie vordrang, es
interessierte mich, ich war auf allerhand vorbereitet. Aber wie
hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr mit
einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine
größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie
eine gesehen hatte. Sie suchte in ähnlicher Weise von der anderen
Seite her, und die beiden gespreizten Hände bewegten sich blind
aufeinander zu. Meine Neugierde war noch nicht aufgebraucht,
aber plötzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da. Ich
fühlte, daß die eine von den Händen mir gehörte
und daß sie sich da in etwas einließ, was nicht wieder
gutzumachen war. Mit allem Recht, das ich auf sie hatte, hielt ich
sie an und zog sie flach und langsam zurück, indem ich die andere
nicht aus den Augen ließ, die weitersuchte. Ich begriff,
daß sie es nicht aufgeben würde, ich kann nicht sagen, wie
ich wieder hinaufkam. Ich saß ganz tief im Sessel, die
Zähne schlugen mir aufeinander, und ich hatte so wenig Blut im
Gesicht, daß mir schien, es wäre kein Blau mehr in meinen
Augen. Mademoiselle -, wollte ich sagen und konnte es nicht, aber da
erschrak sie von selbst, sie warf ihr Buch hin und kniete sich neben
den Sessel und rief meinen Namen; ich glaube, daß sie mich
rüttelte. Aber ich war ganz bei Bewußtsein. Ich schluckte
ein paarmal; denn nun wollte ich es erzählen.
Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht
auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte
für dieses Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden. Und
plötzlich ergriff mich die Angst, sie könnten doch,
über mein Alter hinaus, auf einmal da sein, diese Worte, und es
schien mir fürchterlicher als alles, sie dann sagen zu
müssen. Das Wirkliche da unten noch einmal durchzumachen, anders,
abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich es zugebe, dazu
hatte ich keine Kraft mehr.
Es ist natürlich Einbildung, wenn ich nun behaupte, ich
hätte in jener Zeit schon gefühlt, daß da etwas in
mein Leben gekommen sei, geradeaus in meines, womit ich allein
würde herumgehen müssen, immer und immer. Ich sehe mich in
meinem kleinen Gitterbett liegen und nicht schlafen und irgendwie
ungenau voraussehen, daß so das Leben sein würde: voll
lauter besonderer Dinge, die nur für Einen gemeint sind
und die sich nicht sagen lassen. Sicher ist, daß sich nach und
nach ein trauriger und schwerer Stolz in mir erhob. Ich stellte mir
vor, wie man herumgehen würde, voll
von Innerem und schweigsam. Ich empfand eine ungestüme Sympathie
für die Erwachsenen; ich bewunderte sie, und
ich nahm mir vor, ihnen zu sagen, daß ich sie bewunderte. Ich
nahm mir vor, es Mademoiselle zu sagen bei der nächsten
Gelegenheit.
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