Aber was lang war, das waren die Nachmittage in solchen
Krankheiten. Am Morgen nach der schlechten Nacht kam man immer in
Schlaf, und wenn man erwachte und meinte, nun wäre es wieder
früh, so war es Nachmittag und blieb Nachmittag und hörte
nicht auf Nachtmittag zu sein. Da lag man so in dem aufgeräumten
Bett und wuchs vielleicht ein wenig in den Gelenken und war viel zu
müde, um sich irgend etwas vorzustellen. Der Geschmack vom
Apfelmus hielt lange vor, und das war schon alles mögliche, wenn
man ihn irgendwie auslegte, unwillkürlich, und die reinliche
Säure an Stelle von Gedanken in sich herumgehen
ließ. Später, wenn die Kräfte wiederkamen, wurden die
Kissen hinter einem aufgebaut, und man konnte aufsitzen und mit
Soldaten spielen; aber sie fielen so leicht um auf dem schiefen
Bett-Tisch und dann immer gleich die ganze Reihe; und man war doch
noch nicht so ganz im Leben
drin, um immer wieder von vorn anzufangen. Plötzlich war es
zuviel, und man bat, alles recht rasch fortzunehmen, und es tat wohl,
wieder nur die zwei Hände zu sehen, ein bißchen weiter hin
auf der leeren Decke.
Wenn Maman mal eine halbe Stunde kam und Märchen vorlas (zum
richtigen, langen Vorlesen war Sieversen da), so war das nicht um der
Märchen willen. Denn wir waren einig darüber, daß wir
Märchen nicht liebten. Wir hatten einen anderen Begriff vom
Wunderbaren. Wir fanden, wenn alles mit natürlichen Dingen
zuginge, so wäre das immer am wunderbarsten. Wir gaben nicht viel
darauf, durch die Luft zu fliegen, die Feen enttäuschten uns, und
von den Verwandlungen in etwas anderes erwarteten wir uns nur eine
sehr oberflächliche Abwechslung. Aber wir lasen doch ein
bißchen, um beschäftigt auszusehen; es war uns nicht
angenehm, wenn irgend jemand eintrat, erst erklären zu
müssen, was wir gerade taten; besonders Vater gegenüber
waren wir von einer übertriebenen Deutlichkeit.
Nur wenn wir ganz sicher waren, nicht gestört zu sein, und es
dämmerte draußen, konnte es geschehen, daß wir uns
Erinnerungen hingaben, gemeinsamen Erinnerungen, die uns beiden alt
schienen und über die wir lächelten; denn wir waren beide
groß geworden seither. Es fiel uns ein, daß es eine Zeit
gab, wo Maman wünschte, daß ich ein kleines Mädchen
wäre und nicht dieser Junge, der ich nun einmal war. Ich hatte
das irgendwie erraten, und ich war auf den Gedanken gekommen, manchmal
nachmittags an Mamans Türe zu klopfen. Wenn sie dann fragte, wer
da wäre, so war ich glücklich, draußen
»Sophie« zu rufen, wobei ich meine kleine Stimme so
zierlich machte, daß sie mich in der Kehle kitzelte. Und wenn
ich dann eintrat (in dem kleinen, mädchenhaften Hauskleid, das
ich ohnehin trug, mit ganz hinaufgerollten Armeln), so war ich
einfach Sophie, Mamans kleine Sophie, die sich häuslich
beschäftigte und der
Maman einen Zopf flechten mußte, damit keine Verwechslung
stattfinde mit dem bösen Malte, wenn er je
wiederkäme. Erwünscht war dies durchaus nicht; es war sowohl
Maman wie Sophie angenehm, daß er fort war, und ihre Unterhaltungen
(die Sophie immerzu mit der gleichen, hohen Stimme fortsetzte)
bestanden meistens darin, daß sie Maltes Unarten aufzählten
und sich über ihn beklagten. »Ach ja, dieser Malte«,
seufzte Maman. Und Sophie wußte eine Menge über die
Schlechtigkeiten der Jungen im allgemeinen, als kennte sie einen
ganzen Haufen.
»Ich möchte wohl wissen, was aus Sophie geworden
ist«, sagte Maman dann plötzlich bei solchen
Erinnerungen. Darüber konnte nun Malte freilich keine Auskunft
geben. Aber wenn Maman vorschlug, daß sie gewiß gestorben
sei, dann widersprach er eigensinnig und beschwor sie, dies nicht zu
glauben, so wenig sich sonst auch beweisen ließe.
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