Wenn ich das jetzt überdenke, kann ich mich wundern,
daß ich aus der Welt dieser Fieber doch immer wieder ganz
zurückkam und mich hineinfand in das überaus gemeinsame
Leben, wo jeder im Gefühl unterstützt sein wollte, bei
Bekanntem zu sein, und wo man sich so vorsichtig im
Verständlichen vertrug. Da wurde etwas erwartet, und es kam oder
es kam nicht, ein Drittes war ausgeschlossen. Da gab es Dinge, die
traurig waren, ein- für allemal, es gab angenehme Dinge und eine
ganze Menge nebensächlicher. Wurde aber einem eine Freude
bereitet, so war es eine Freude, und er hatte sich danach zu
benehmen. Im Grunde war das alles sehr einfach, und wenn man es erst
heraus hatte, so machte es sich wie von selbst. In diese verabredeten
Grenzen ging denn auch alles hinein; die langen,
gleichmäßigen Schulstunden, wenn draußen der Sommer war;
die Spaziergänge, von denen man französisch erzählen
mußte; die Besuche, für die man hereingerufen wurde und die
einen drollig fanden, wenn man gerade traurig war, und
sich an einem belustigten wie an dem betrübten Gesicht gewisser
Vögel, die kein anderes haben. Und die Geburtstage
natürlich, zu denen man Kinder eingeladen bekam, die man kaum
kannte, verlegene Kinder, die einen verlegen machten, oder dreiste,
die einem das Gesicht zerkratzten, und zerbrachen, was man gerade
bekommen hatte, und die dann plötzlich fortfuhren, wenn alles aus
Kästen und Laden herausgerissen war und zu Haufen lag. Wenn man
aber allein spielte, wie immer,so konnte es doch geschehen, daß
man diese vereinbarte, im ganzen harmlose Welt unversehens
überschritt und unter Verhältnisse geriet, die völlig
verschieden waren und gar nicht abzusehen.
Mademoiselle hatte zuzeiten ihre Migräne, die ungemein heftig
auftrat, und das waren die Tage, an denen ich schwer zu finden
war. Ich weiß, der Kutscher wurde dann in den Park geschickt,
wenn es Vater einfiel, nach mir zu fragen, und ich war nicht da. Ich
konnte oben von einem der Gastzimmer aus sehen, wie er hinauslief und
am Anfang der langen Allee nach mir rief. Diese Gastzimmer befanden
sich, eines neben dem anderen, im Giebel von Ulsgaard und standen, da
wir in dieser Zeit sehr selten Hausbesuch hatten, fast immer
leer. Anschließend an sie aber war jener große Eckraum,
der eine so starke Verlockung für mich hatte. Es war nichts darin
zu finden als eine alte Büste, die, ich glaube, den Admiral Juel
darstellte, aber die Wände waren ringsum mit tiefen grauen
Wandschränken verschalt, derart, daß sogar das Fenster
erst über den Schränken angebracht war in der leeren,
geweißten Wand. Den Schlüssel hatte ich an einer der
Schranktüren entdeckt, und er schloß alle anderen. So hatte
ich in kurzem alles unter sucht: die Kammerherrenfräcke aus dem
achtzehnten Jahrhundert, die ganz kalt waren von den eingewebten
Silberfäden, und die schön gestickten Westen dazu; die
Trachten des Dannebrog- und des Elefantenordens, die man erst für
Frauenkleider hielt, so reich und umständlich waren sie und
so sanft im Futter anzufühlen. Dann wirkliche Roben, die, von
ihren Unterlagen auseinander gehalten, steif dahingen wie die
Marionetten eines zu großen Stückes, das so endgültig
aus der Mode war, daß man ihre Köpfe anders verwendet
hatte. Daneben aber waren Schränke, in denen es dunkel war, wenn
man sie aufmachte, dunkel von hochgeschlossenen Uniformen, die viel
gebrauchter aussahen als alles das andere und die eigentlich
wünschten, nicht erhalten zu sein.
Niemand wird es verwunderlich finden, daß ich das alles
herauszog und ins Licht neigte; daß ich das und jenes an mich
hielt oder umnahm; daß ich ein Kostüm, welches etwa passen
konnte, hastig anzog und darin, neugierig und aufgeregt, in das
nächste Fremdenzimmer lief, vor den schmalen Pfeilerspiegel, der
aus einzelnen ungleich grünen Glasstücken zusammengesetzt
war. Ach, wie man zitterte, drin zu sein, und wie hinreißend war
es, wenn man es war. Wenn da etwas aus dem Trüben heraus sich
näherte, langsamer als man selbst, denn der Spiegel glaubte es
gleichsam nicht und wollte, schläfrig wie er war, nicht gleich
nachsprechen, was man ihm vorsagte. Aber schließlich mußte
er natürlich. Und nun war es etwas sehr Überraschendes,
Fremdes, ganz anders, als man es sich gedacht hatte, etwas
Plötzliches, Selbständiges, das man rasch überblickte,
um sich im nächsten Augenblick doch zu erkennen, nicht ohne eine
gewisse Ironie, die um ein Haar das ganze Vergnügen
zerstören konnte. Wenn man aber sofort zu reden begann, sich zu
verbeugen, wenn man sich zuwinkte, sich, fortwährend
zurückblickend, entfernte und dann entschlossen und angeregt
wiederkam, so hatte man die Einbildung auf seiner Seite, solang es
einem gefiel.
Ich lernte damals den Einfluß kennen, der unmittelbar von einer
bestimmten Tracht ausgehen kann. Kaum hatte ich einen dieser
Anzüge angelegt, mußte ich mir eingestehen, daß er
mich in seine Macht bekam; daß er mir meine
Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine Einfälle
vorschrieb; meine Hand, über die die Spitzenmanschette fiel und
wieder fiel, war durchaus nicht meine gewöhnliche Hand; sie
bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich
selber zu, so übertrieben das auch klingt. Diese Verstellungen
gingen indessen nie so weit, daß ich mich mir selber entfremdet
fühlte; im Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte,
desto überzeugter wurde ich von mir selbst. Ich wurde kühner
und kühner; ich warf mich immer höher; denn meine
Geschicklichkeit im Auffangen war über allen Zweifel. Ich merkte
nicht die Versu chung in dieser rasch wachsenden Sicherheit. Zu meinem
Verhängnis fehlte nur noch, daß der letzte Schrank, den ich
bisher meinte nicht öffnen zu können, eines Tages nachgab,
um mir, statt bestimmter Trachten, allerhand vages Maskenzeug
auszuliefern, dessen phantastisches Ungefähr mir das Blut in die
Wangen trieb. Es läßt sich nicht aufzählen, was da
alles war. Außer einer Bautta, deren ich mich entsinne, gab es
Dominos in verschiedenen Farben, es gab Frauenröcke, die hell
läuteten von den Münzen, mit denen sie benäht waren; es
gab Pierrots, die mir albern vorkamen, und faltige, türkische
Hosen und persische Mützen, aus denen kleine Kampfersäckchen
herausglitten, und Kronreifen mit dummen, ausdruckslosen
Steinen. Dies alles verachtete ich ein wenig; es war von so
dürftiger Unwirklichkeit und hing so abgebalgt und armsälig
da und schlappte willenlos zusammen, wenn man es herauszerrte ans
Licht. Was mich aber in eine Art von Rausch versetzte, das waren die
geräumigen Mäntel, die Tücher, die Schals, die
Schleier, alle diese nachgiebigen, großen, unverwendeten Stoffe,
die weich und schmeichelnd waren oder so gleitend, daß man sie
kaum zu fassen bekam, oder so leicht, daß sie wie ein Wind an
einem vorbeiflogen, oder einfach schwer mit ihrer ganzen Last. In
ihnen erst sah ich wirklich freie und unendlich bewegliche
Möglichkeiten: eine Sklavin zu sein, die
verkauft wird, oder Jeanne d'Arc zu sein oder ein alter König
oder ein Zauberer; das alles hatte man jetzt in der Hand, besonders da
auch Masken da waren, große drohende oder erstaunte Gesichter
mit echten Bärten und vollen oder hochgezogenen Augenbrauen. Ich
hatte nie Masken gesehen vorher, aber ich sah sofort ein, daß es
Masken geben müsse. Ich mußte lachen, als mir einfiel,
daß wir einen Hund hatten, der sich ausnahm, als trüge er
eine. Ich stellte mir seine herzlichen Augen vor, die immer wie von
hinten hineinsahen in das behaarte Gesicht. Ich lachte noch,
während ich mich verkleidete, und ich vergaß darüber
völlig, was ich eigentlich vorstellen wollte. Nun, es war neu und
spannend, das erst nachträglich vor dem Spiegel zu
entscheiden. Das Gesicht, das ich vorband, roch eigentümlich
hohl, es legte sich fest über meines, aber ich konnte bequem
durchsehen, und ich wählte erst, als die Maske schon saß,
allerhand Tücher, die ich in der Art eines Turbans um den Kopf
wand, so daß der Rand der Maske, der unten in einen riesigen
gelben Mantel hineinreichte, auch oben und seitlich fast ganz verdeckt
war. Schließlich, als ich nicht mehr konnte, hielt ich mich
für hinreichend vermummt. Ich ergriff noch einen großen
Stab, den ich, soweit der Arm reichte, neben mir hergehen ließ,
und schleppte so, nicht ohne Mühe, aber, wie mir vorkam, voller
Würde, in das Fremdenzimmer hinein auf den Spiegel zu.
Das war nun wirklich großartig, über alle Erwartung. Der
Spiegel gab es auch augenblicklich wieder, es war zu
überzeugend. Es wäre gar nicht nötig gewesen, sich viel
zu bewegen; diese Erscheinung war vollkommen, auch wenn sie nichts
tat. Aber es galt zu erfahren, was ich eigentlich sei, und so drehte
ich mich ein wenig und erhob schließlich die beiden Arme:
große, gleichsam beschwörende Bewegungen, das war, wie ich
schon merkte, das einzig Richtige. Doch gerade in diesem feierlichen
Moment vernahm ich,
gedämpft durch meine Vermummung, ganz in meiner Nähe einen
vielfach zusammengesetzten Lärm; sehr erschreckt, verlor ich das
Wesen da drüben aus den Augen und war arg verstimmt, zu gewahren,
daß ich einen kleinen, runden Tisch umgeworfen hatte mit
weiß der Himmel was für, wahrscheinlich sehr zerbrechlichen
Gegenständen. Ich bückte mich so gut ich konnte und fand
meine schlimmste Erwartung bestätigt: es sah aus, als sei alles
entzwei. Die beiden überflüssigen, grün-violetten
Porzellanpapageien waren natürlich, jeder auf eine andere
boshafte Art, zerschlagen. Eine Dose, aus der Bonbons rollten, die
aussahen wie seidig eingepuppte Insekten, hatte ihren Deckel weit von
sich geworfen, man sah nur seine eine Hälfte, die andere war
überhaupt fort. Das Ärgerlichste aber war ein in tausend
winzige Scherben zerschellter Flacon, aus dem der Rest irgendeiner
alten Essenz herausgespritzt war, der nun einen Fleck von sehr
widerlicher Physiognomie auf dem klaren Parkett bildete. Ich trocknete
ihn schnell mit irgendwas auf, das an mir herunterhing, aber er wurde
nur schwärzer und unangenehmer. Ich war recht verzweifelt. Ich
erhob mich und suchte nach irgendeinem Gegenstand, mit dem ich das
alles gutmachen konnte. Aber es fand sich keiner. Auch war ich so
behindert im Sehen und in jeder Bewegung, daß die Wut in mir
aufstieg gegen meinen unsinnigen Zustand, den ich nicht mehr
begriff. Ich zerrte an allem, aber es schloß sich nur noch enger
an. Die Schnüre des Mantels würgten mich, und das Zeug auf
meinem Kopfe drückte, als käme immer noch mehr hinzu. Dabei
war die Luft trübe geworden und wie beschlagen mit dem
ältlichen Dunst der verschütteten Flüssigkeit.
Heiß und zornig stürzte ich vor den Spiegel und sah
mühsam durch die Maske durch, wie meine Hände
arbeiteten. Aber darauf hatte er nur gewartet. Der Augenblick der
Vergeltung
war für ihn gekommen. Während ich in maßlos
zunehmender Beklemmung mich anstrengte, mich irgendwie aus meiner
Vermummung hinauszuzwängen, nötigte er mich,
ich weiß nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild,
nein, eine Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monströse
Wirklichkeit, mit der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen:
denn jetzt war er der Stärkere, und ich war der Spiegel. Ich
starrte diesen großen, schrecklichen Unbekannten vor mir an,
und es schien mir ungeheuerlich, mit ihm allein zu sein. Aber in
demselben Moment, da ich dies dachte, geschah das Äußerste:
ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang hatte
ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir,
dann war nur noch er: es war nichts außer ihm.
Ich rannte davon, aber nun war er es, der rannte. Er stieß
überall an, er kannte das Haus nicht, er wußte nicht wohin;
er geriet eine Treppe hinunter, er fiel auf dem Gange über eine
Person her, die sich schreiend freimachte. Eine Tür ging auf,
es traten mehrere Menschen heraus: Ach, ach, was war das gut, sie zu
kennen. Das war Sieversen, die gute Sieversen, und das
Hausmädchen und der Silberdiener: nun mußte es sich
entscheiden. Aber sie sprangen nicht herzu und retteten; ihre
Grausamkeit war ohne Grenzen. Sie standen da und lachten, mein Gott,
sie konnten dastehn und lachen. Ich weinte, aber die Maske ließ
die Tränen nicht hinaus, sie rannen innen über mein Gesicht
und trockneten gleich und rannen wieder und trockneten. Und endlich
kniete ich hin vor ihnen, wie nie ein Mensch gekniet hat; ich kniete
und hob meine Hände zu ihnen auf und flehte: »Herausnehmen,
wenn es noch geht, und behalten«, aber sie hörten es nicht;
ich hatte keine Stimme mehr.
Sieversen erzählte bis an ihr Ende, wie ich umgesunken wäre
und wie sie immer noch weitergelacht hätten in der Meinung, das
gehöre dazu. Sie waren es so gewöhnt bei mir. Aber dann
wäre ich doch immerzu liegengeblieben und hätte nicht
geantwortet. Und der Schrecken, als sie
endlich entdeckten, daß ich ohne Besinnung sei und dalag wie ein
Stück in allen den Tüchern, rein wie ein Stück.
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