Mehrere Jahre später erst hörte ich wieder von dem
Grafen Christian reden. Es war auf Urnekloster, und Mathilde
Brahe war es, die mit Vorliebe von ihm sprach. Ich bin indessen
sicher, daß sie die einzelnen Episoden ziemlich
eigenmächtig ausgestaltete, denn das Leben meines Onkels, von
dem immer nur Gerüchte in die Öffent lichkeit und selbst in
die Familie drangen, Gerüchte, die er nie widerlegte, war
geradezu grenzenlos auslegbar. Urnekloster ist jetzt in seinem
Besitz. Aber niemand weiß, ob er es bewohnt. Vielleicht reist er
immer noch, wie es seine Gewohnheit war; vielleicht ist die Nachricht
seines Todes aus irgendeinem äußersten Erdteil unterwegs,
von der Hand des fremden Dieners geschrieben in schlechtem Englisch
oder in irgendeiner unbekannten Sprache. Vielleicht auch giebt dieser
Mensch kein Zeichen von sich, wenn er eines Tages allein
zurückbleibt. Vielleicht sind sie beide längst verschwunden
und stehen nur noch auf der Schiffsliste eines verschollenen
Schiffes unter Namen, die nicht die ihren waren.
Freilich, wenn damals auf Urnekloster ein Wagen einfuhr, so erwartete
ich immer, ihn eintreten zu sehen, und
mein Herz klopfte auf eine besondere Art. Mathilde Brahe behauptete:
so käme er, das wäre so seine Eigenheit, plötzlich da
zu sein, wenn man es am wenigsten für möglich hielte. Er kam
nie, aber meine Einbildungskraft beschäftigte sich wochenlang
mit ihm, ich hatte das Gefühl, als wären wir einander eine
Beziehung schuldig, und ich hätte gern etwas Wirkliches von ihm
gewußt.
Als indessen bald darauf mein Interesse umschlug und infolge gewisser
Begebenheiten ganz auf Christine Brahe überging, bemühte ich
mich eigentümlicherweise nicht, etwas von ihren
Lebensumständen zu erfahren. Dagegen beunruhigte mich der
Gedanke, ob ihr Bildnis wohl in der Galerie vorhanden sei. Und der
Wunsch, das festzustellen, nahm so einseitig und quälend zu,
daß ich mehrere Nächte nicht schlief, bis, ganz unvermutet,
diejenige da war, in der ich, weiß Gott, aufstand und hinaufging
mit meinem Licht, das sich zu fürchten schien.
Was mich angeht, so dachte ich nicht an Furcht. Ich dachte
überhaupt nicht; ich ging. Die hohen Türen gaben so spielend
nach vor mir und über mir, die Zimmer, durch die ich kam, hielten
sich ruhig. Und endlich merkte ich an der Tiefe, die mich anwehte,
daß ich in die Galerie getreten sei. Ich fühlte auf der
rechten Seite die Fenster mit der Nacht, und links mußten die
Bilder sein. Ich hob mein Licht so hoch ich konnte. Ja: da waren die
Bilder.
Erst nahm ich mir vor, nur nach den Frauen zu sehen, aber dann
erkannte ich eines und ein anderes, das ähnlich in Ulsgaard hing,
und wenn ich sie so von unten beschien, so rührten sie sich und
wollten ans Licht, und es schien mir herzlos, das nicht wenigstens
abzuwarten. Da war immer wieder Christian der Vierte mit der
schön geflochtenen Cadenette neben der breiten, langsam
gewölbten Wange. Da waren vermutlich seine Frauen, von denen ich
nur Kirstine Munk kannte; und plötzlich sah mich Frau Ellen
Marsvin an, argwöhnisch in ihrer Witwentracht und mit
derselben Perlenschnur auf der Krempe des hohen Huts. Da waren
König Christians Kinder: immer wieder frische aus neuen Frauen,
die >unvergleichliche< Eleonore auf einem weißen
Paßgänger in ihrer glänzendsten Zeit, vor der
Heimsuchung. Die Gyldenlöves: Hans Ulrik, von dem die Frauen in
Spanien meinten, daß er sich das Antlitz male, so voller Blut
war er, und Ulrik Christian, den man nicht wieder vergaß. Und
beinahe alle Ulfelds. Und dieser da, mit dem einen
schwarzübermalten Auge, konnte wohl Henrik Holck sein, der mit
dreiunddreißig Jahren Reichsgraf war und Feldmarschall, und das
kam so: ihm träumte auf dem Wege zu Jungfrau Hilleborg Krafse, es
würde ihm statt der Braut ein bloßes Schwert gegeben: und
er nahm sichs zu Herzen und kehrte um und begann sein kurzes,
verwegenes Leben, das mit der Pest endete. Die kannte ich alle. Auch
die Gesandten vom Kongreß zu Nimwegen hatten wir auf Ulsgaard,
die einander ein wenig glichen, weil sie alle auf einmal gemalt worden
waren, jeder mit der schmalen, gestutzten Bartbraue über dem
sinnlichen, fast schauenden Munde. Daß ich Herzog Ulrich
erkannte, ist selbstverständlich, und Otte Brahe und Claus Daa
und Sten Rosensparre, den Letzten seines Geschlechts; denn von ihnen
allen hatte ich Bilder im Saal zu Ulsgaard gesehen, oder ich hatte in
alten Mappen Kupferstiche gefunden, die sie darstellten.
Aber dann waren viele da, die ich nie gesehen hatte; wenige Frauen,
aber es waren Kinder da. Mein Arm war längst müde geworden
und zitterte, aber ich hob doch immer wieder das Licht, um die Kinder
zu sehen. Ich begriff sie, diese kleinen Mädchen, die einen Vogel
auf der Hand trugen und ihn vergaßen. Manchmal saß ein
kleiner Hund bei ihnen unten, ein Ball lag da, und auf dem Tisch
nebenan gab es Früchte und Blumen; und dahinter an der Säule
hing, klein und vorläufig, das Wappen der Grubbe oder der Bille
oder der Rosenkrantz. So viel hatte man um
sie zusammengetragen, als ob eine Menge gutzumachen wäre. Sie
aber standen einfach in ihren Kleidern und warteten; man sah,
daß sie warteten. Und da mußte ich wieder an die Frauen
denken und an Christine Brahe, und ob ich sie erkennen würde.
Ich wollte rasch bis ganz ans Ende laufen und von dort
zurückgehen und suchen, aber da stieß ich an etwas. Ich
drehte mich so jäh herum, daß der kleine Erik
zurücksprang und flüsterte: »Gieb acht mit deinem
Licht.«
»Du bist da?« sagte ich atemlos, und ich war nicht im
klaren, ob das gut sei oder ganz und gar schlimm. Er lachte nur, und
ich wußte nicht, was weiter. Mein Licht flackerte, und ich
konnte den Ausdruck seines Gesichts nicht recht erkennen. Es war doch
wohl schlimm, daß er da war. Aber da sagte er, indem er
näher kam: »Ihr Bild ist nicht da, wir suchen es
immer noch oben.« Mit seiner halben Stimme und dem einen
beweglichen Auge wies er irgendwie hinauf. Und ich begriff, daß
er den Boden meinte. Aber auf einmal kam mir ein merkwürdiger
Gedanke.
»Wir?« fragte ich, »ist sie denn oben?«
»Ja«, nickte er und stand dicht neben mir.
»Sie sucht selber mit?« »Ja, wir suchen.«
»Man hat es also fortgestellt, das Bild?«
»Ja, denk nur«, sagte er empört. Aber ich begriff
nicht recht, was sie damit wollte.
»Sie will sich sehen«, flüsterte er ganz nah.
»Ja so«, machte ich, als ob ich verstünde. Da blies
er mir das Licht aus. Ich sah, wie er sich vorstreckte, ins Helle
hinein, mit ganz hochgezogenen Augenbrauen. Dann wars dunkel. Ich trat
unwillkürlich zurück.
»Was machst du denn?« rief ich unterdrückt und war
ganz trocken im Halse. Er sprang mir nach und hängte sich an
meinen Arm und kicherte.
»Was denn?« fuhr ich ihn an und wollte ihn
abschütteln,
aber er hing fest. Ich konnte es nicht hindern, daß er den Arm
um meinen Hals legte.
»Soll ich es sagen?« zischte er, und ein wenig Speichel
spritzte mir ins Ohr.
»Ja, ja, schnell.«
Ich wußte nicht, was ich redete. Er umarmte mich nun völlig
und streckte sich dabei.
»Ich hab ihr einen Spiegel gebracht«, sagte er und
kicherte wieder.
»Einen Spiegel?«
»Ja, weil doch das Bild nicht da ist.«
»Nein, nein«, machte ich.
Er zog mich auf einmal etwas weiter nach dem Fenster hin und kniff
mich so scharf in den Oberarm, daß ich schrie.
»Sie ist nicht drin«, blies er mir ins Ohr.
Ich stieß ihn unwillkürlich von mir weg, etwas knackte an
ihm, mir war, als hätte ich ihn zerbrochen.
»Geh, geh«, und jetzt mußte ich selber lachen,
»nicht drin, wieso denn nicht drin?«
»Du bist dumm«, gab er böse zurück und
flüsterte nicht mehr. Seine Stimme war umgeschlagen, als
begänne er nun ein neues, noch ungebrauchtes
Stück. »Man ist entweder drin«, diktierte er altklug
und streng, »dann ist man nicht hier; oder wenn man hier ist,
kann man nicht drin sein.«
»Natürlich«, antwortete ich schnell, ohne
nachzudenken. Ich hatte Angst, er könnte sonst fortgehen und mich
allein lassen. Ich griff sogar nach ihm.
»Wollen wir Freunde sein?« schlug ich vor. Er ließ
sich bitten. »Mir ists gleich«, sagte er keck.
Ich versuchte unsere Freundschaft zu beginnen, aber ich wagte nicht,
ihn zu umarmen. »Lieber Erik«, brachte ich nur heraus und
rührte ihn irgendwo ein bißchen an. Ich war auf einmal sehr
müde. Ich sah mich um; ich verstand nicht mehr, wie ich hierher
gekommen war und daß ich mich nicht gefürchtet hatte. Ich
wußte nicht recht, wo die Fenster waren und wo die Bilder. Und
als wir gingen, mußte er mich führen.
»Sie tun dir nichts«, versicherte er großmütig
und kicherte wieder.
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