Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor
meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzäh len
hören. Damals, als Abelone mir von Mamans Jugend sprach, zeigte
es sich, daß sie nicht erzählen könne. Der alte Graf
Brahe soll es noch gekonnt haben. Ich will aufschreiben, was sie
davon wußte.
Abelone muß als ganz junges Mädchen eine Zeit gehabt haben,
da sie von einer eigenen, weiten Bewegtheit war. Brahes wohnten damals
in der Stadt, in der Bredgade, unter ziemlicher Geselligkeit. Wenn sie
abends spät hinauf in ihr
Zimmer kam, so meinte sie müde zu sein wie die anderen. Aber dann
fühlte sie auf einmal das Fenster und, wenn ich recht verstanden
habe, so konnte sie vor der Nacht stehn, stundenlang, und denken: das
geht mich an. »Wie ein Gefangener stand ich da«, sagte
sie, »und die Sterne waren die Freiheit.« Sie konnte
damals einschlafen, ohne sich schwer zu machen. Der Ausdruck
In-den-Schlaf-fallen paßt nicht für dieses
Mädchenjahr. Schlaf war etwas, was mit einem stieg, und von Zeit
zu Zeit hatte man die Augen offen und lag auf einer neuen
Oberfläche, die noch lang nicht die oberste war. Und dann war man
auf vor Tag; selbst im Winter, wenn die anderen schläfrig und
spät zum späten Frühstück kamen. Abends, wenn es
dunkel wurde, gab es ja immer nur Lichter für alle, gemeinsame
Lichter. Aber diese beiden Kerzen ganz früh in der neuen
Dunkelheit, mit der alles wieder anfing, die hatte man für
sich. Sie
standen in ihrem niederen Doppelleuchter und schienen ruhig durch die
kleinen, ovalen, mit Rosen bemalten Tüllschirme, die von Zeit
zu Zeit nachgerückt werden mußten. Das hatte nichts
Störendes; denn einmal war man durchaus nicht eilig, und dann kam
es doch so, daß man manchmal aufsehen mußte und
nachdenken, wenn man an einem Brief schrieb oder in das Tagebuch, das
früher einmal mit ganz anderer Schrift, ängstlich und
schön, begonnen war.
Der Graf Brahe lebte ganz abseits von seinen Töchtern. Er hielt
es für Einbildung, wenn jemand behauptete, das Leben mit andern
zu teilen. (»Ja, teilen -«, sagte er.) Aber es war ihm
nicht unlieb, wenn die Leute ihm von seinen Töchtern
erzählten; er hörte aufmerksam zu, als wohnten sie in einer
anderen Stadt.
Es war deshalb etwas ganz Außerordentliches, daß er einmal
nach dem Frühstück Abelone zu sich winkte: »Wir haben
die gleichen Gewohnheiten, wie es scheint, ich schreibe auch ganz
früh. Du kannst mir helfen.« Abelone wußte es noch
wie gestern.
Schon am anderen Morgen wurde sie in ihres Vaters Kabinett
geführt, das im Rufe der Unzugänglichkeit stand. Sie hatte
nicht Zeit, es in Augenschein zu nehmen, denn man setzte sie sofort
gegen dem Grafen über an den Schreibtisch, der ihr wie eine Ebene
schien mit Büchern und Schriftstößen als
Ortschaften.
Der Graf diktierte. Diejenigen, die behaupteten, daß Graf Brahe
seine Memoiren schriebe, hatten nicht völlig unrecht. Nur
daß es sich nicht um politische oder militärische
Erinnerungen handelte, wie man mit Spannung erwartete. »Die
vergesse ich«, sagte der alte Herr kurz wenn ihn jemand auf
solche Tatsachen hin anredete. Was er aber nicht vergessen wollte, das
war seine Kindheit. Auf die hielt er. Und es war ganz in der Ordnung,
seiner Meinung nach, daß jene sehr entfernte Zeit nun in ihm die
Oberhand gewann, daß sie, wenn er seinen Blick nach innen
kehrte, dalag wie in einer hellen nordischen Sommernacht, gesteigert
und schlaflos.
Manchmal sprang er auf und redete in die Kerzen hinein, daß sie
flackerten. Oder ganze Sätze mußten wieder durchgestrichen
werden, und dann ging er heftig hin und her und wehte mit seinem
nilgrünen, seidenen Schlafrock. Während alledem war noch
eine Person zugegen, Sten, des Grafen alter, jütländischer
Kammerdiener, dessen Aufgabe es war, wenn der Großvater
aufsprang, die Hände schnell über die einzelnen losen
Blätter zu legen, die, mit Notizen bedeckt, auf dem Tische
herumlagen. Seine Gnaden hatten die Vorstellung, daß das
heutige Papier nichts tauge, daß es viel zu leicht sei und
davonfliege bei der geringsten Gelegenheit. Und Sten, von dem man nur
die lange obere Hälfte sah, teilte diesen Verdacht und saß
gleichsam auf seinen Händen, lichtblind und ernst wie ein
Nachtvogel.
Dieser Sten verbrachte die Sonntag-Nachmittage damit, Swedenborg zu
lesen, und niemand von der Dienerschaft hätte je sein Zimmer
betreten mögen, weil es hieß, daß er
zitiere. Die Familie Stens hatte seit je Umgang mit Geistern gehabt,
und Sten war für diesen Verkehr ganz besonders
vorausbestimmt. Seiner Mutter war etwas erschienen in der Nacht, da
sie ihn gebar. Er hatte große, runde Augen, und das andere Ende
seines Blicks kam hinter jeden zu liegen, den er damit
ansah. Abelonens Vater fragte ihn oft nach den Geistern, wie man sonst
jemanden nach seinen Angehörigen fragt: »Kommen sie,
Sten?« sagte er wohlwollend. »Es ist gut, wenn sie
kommen.«
Ein paar Tage ging das Diktieren seinen Gang. Aber dann konnte Abelone
>Eckernförde< nicht schreiben. Es war ein Eigenname, und
sie hatte ihn nie gehört. Der Graf, der im Grunde schon lange
einen Vorwand suchte, das Schreiben aufzugeben, das zu langsam war
für seine Erinnerungen stellte sich unwillig.
»Sie kann es nicht schreiben«, sagte er scharf, »und
andere werden es nicht lesen können. Und werden sie es
überhaupt sehen, was ich da sage?« fuhr er böse
fort und ließ Abelone nicht aus den Augen.
»Werden sie ihn sehen, diesen Saint-Germain?« schrie er
sie an. »Haben wir Saint-Germain gesagt? streich es
durch. Schreib: der Marquis von Belmare.«
Abelone strich durch und schrieb. Aber der Graf sprach so schnell
weiter, daß man nicht mitkonnte.
»Er mochte Kinder nicht leiden, dieser vortreffliche Belmare,
aber mich nahm er auf sein Knie, so klein ich war, und mir kam die
Idee, in seine Diamantknöpfe zu beißen. Das freute ihn. Er
lachte und hob mir den Kopf, bis wir einander in die Augen sahen:
>Du hast ausgezeichnete Zähne<, sagte er, >Zähne,
die etwas unternehmen . . .< - Ich aber merkte mir seine Augen. Ich
bin später da und dort herumgekommen. Ich habe allerhand Augen
gesehen, kannst du mir glauben: solche nicht wieder. Für diese
Augen hätte nichts da sein müssen, die hattens in sich. Du
hast von Venedig gehört? Gut. Ich sage dir, die hätten
Venedig hier hereingesehen in dieses Zimmer, daß es da gewesen
wäre, wie der Tisch. Ich saß in der Ecke einmal und
hörte, wie er meinem Vater von Persien erzählte, manchmal
mein ich noch, mir riechen die Hände davon. Mein Vater
schätzte ihn, und Seine Hoheit, der Landgraf, war so etwas wie
sein Schüler. Aber es gab natürlich genug, die ihm
übelnahmen, daß er an die Vergangenheit nur glaubte, wenn
sie in ihm war. Das konnten sie nicht begreifen, daß der
Kram nur Sinn hat, wenn man damit geboren wird.«
»Die Bücher sind leer«, schrie der Graf mit einer
wütenden Gebärde nach den Wänden hin, »das
Blut, dar auf kommt es an, da muß man drin lesen können. Er
hatte wunderliche Geschichten drin und merkwürdige Abbildungen,
dieser Belmare; er konnte aufschlagen, wo er wollte, da war immer was
beschrieben; keine Seite in seinem Blut war überschlagen
worden. Und wenn er sich einschloß von Zeit zu Zeit und allein
drin blätterte, dann kam er zu den Stellen über das
Goldmachen und über die Steine und über die Farben. Warum
soll das nicht darin gestanden haben? es steht sicher
irgendwo.«
»Er hätte gut mit einer Wahrheit leben können, dieser
Mensch, wenn er allein gewesen wäre. Aber es war keine
Kleinigkeit, allein zu sein mit einer solchen. Und er war nicht so
geschmacklos, die Leute einzuladen, daß sie ihn bei seiner
Wahrheit besuchten; die sollte nicht ins Gerede kommen: dazu war er
viel zu sehr Orientale. >Adieu, Madame<, sagte er ihr
wahrheitsgemäß, >auf ein anderes Mal. Vielleicht ist
man in tausend Jahren etwas kräftiger und ungestörter. Ihre
Schönheit ist ja doch erst im Werden, Madame<, sagte er, und
das war keine bloße Höflichkeit. Damit ging er fort und
legte draußen für die Leute seinen Tierpark an, eine Art
Jardin d'Acclimatation für die größeren Arten von
Lügen, die man bei uns noch nie gesehen hatte, und ein Palmenhaus
von Übertreibungen und eine
kleine, gepflegte Figuerie falscher Geheimnisse. Da kamen sie von
allen Seiten, und er ging herum mit Diamantschnallen an den Schuhen
und war ganz für seine Gäste da.«
»Eine oberflächliche Existenz: wie? Im Grunde wars doch
eine Ritterlichkeit gegen seine Dame, und er hat sich ziemlich dabei
konserviert.«
Seit einer Weile schon redete der Alte nicht mehr auf Abelone ein, die
er vergessen hatte. Er ging wie rasend auf und ab und warf
herausfordernde Blicke auf Sten, als sollte Sten in einem gewissen
Augenblicke sich in den verwandeln, an den er dachte. Aber Sten
verwandelte sich noch nicht.
»Man müßte ihn sehen,«fuhr Graf Brahe
versessen fort. »Es gab eine Zeit, wo er durchaus sichtbar war,
obwohl in manchen Städten die Briefe, die er empfing, an
niemanden gerichtet waren: es stand nur der Ort darauf, sonst
nichts. Aber ich hab ihn gesehen.«
»Er war nicht schön.« Der Graf lachte
eigentümlich eilig. »Auch nicht, was die Leute bedeutend
nennen oder vornehm: es waren immer Vornehmere neben ihm. Er war
reich: aber das war bei ihm nur wie ein Einfall, daran konnte man sich
nicht halten. Er war gut gewachsen, obzwar andere hielten sich
besser. Ich konnte damals natürlich nicht beurteilen, ob er
geistreich war und das und dies, worauf Wert gelegt wird -: aber er
war.«
Der Graf, bebend, stand und machte eine Bewegung, als stellte er etwas
in den Raum hinein, was blieb.
In diesem Moment gewahrte er Abelone.
»Siehst du ihn?« herrschte er sie an. Und plötzlich
ergriff er den einen silbernen Armleuchter und leuchtete ihr blendend
ins Gesicht.
In den nächsten Tagen wurde Abelone regelmäßig
gerufen, und das Diktieren ging nach diesem Zwischenfall viel ruhiger
weiter. Der Graf stellte nach allerhand Papieren seine frühesten
Erinnerungen an den Bernstorffschen Kreis zusammen, in dem sein Vater
eine gewisse Rolle spielte. Abelone war jetzt so gut auf die
Besonderheiten ihrer Arbeit eingestellt, daß, wer die beiden
sah, ihre zweckdienliche Gemeinsamkeit leicht für ein wirkliches
Vertrautsein nehmen konnte
Einmal, als Abelone sich schon zurückziehen wollte, trat der alte
Herr auf sie zu, und es war, als hielte er die Hände mit einer
Überraschung hinter sich: »Morgen schreiben wir von Julie
Reventlow«, sagte er und kostete seine Worte: »das war
eine Heilige.«
Wahrscheinlich sah Abelone ihn ungläubig an.
»Ja, ja, das giebt es alles noch«, bestand er in
befehlendem Tone, »es giebt alles, Komtesse Abel.«
Er nahm Abelonens Hände und schlug sie auf wie ein Buch.
»Sie hatte die Stigmata«, sagte er, »hier und
hier.« Und er tippte mit seinem kalten Finger hart und kurz in
ihre beiden Handflächen.
Den Ausdruck Stigmata kannte Abelone nicht. Es wird sich zeigen,
dachte sie; sie war recht ungeduldig, von der Heiligen zu hören,
die ihr Vater noch gesehen hatte. Aber sie wurde nicht mehr geholt,
nicht am nächsten Morgen und auch später nicht.-
»Von der Gräfin Reventlow ist ja dann oft bei euch
gesprochen worden«, schloß Abelone kurz, als ich sie bat,
mehr zu erzählen. Sie sah müde aus; auch behauptete sie, das
Meiste vergessen zu haben. »Aber die Stellen fühl ich noch
manchmal«, lächelte sie und konnte es nicht lassen und
schaute beinah neugierig in ihre leeren Hände.
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