Da sitze ich in der kalten Nacht und schreibe und weiß das
alles. Ich weiß es vielleicht, weil mir jener Mann begegnet ist,
damals als ich klein war. Er war sehr groß, ich glaube sogar,
daß er auffallen mußte durch seine Größe.
So unwahrscheinlich es ist, es war mir irgendwie gelungen, gegen
Abend allein aus dem Haus zu kommen; ich lief, ich bog um eine Ecke,
und in demselben Augenblick stieß ich gegen ihn. Ich begreife
nicht, wie das, was jetzt geschah, sich in etwa fünf Sekunden
abspielen konnte. So dicht man es auch erzählt, es dauert viel
länger. Ich hatte mir weh
getan im Anlauf an ihn; ich war klein, es schien mir schon viel,
daß ich nicht weinte, auch erwartete ich unwillkürlich,
getröstet zu sein. Da er das nicht tat, hielt ich ihn für
verlegen; es fiel ihm, vermutete ich, der richtige Scherz nicht ein,
in dem diese Sache aufzulösen war. Ich war schon vergnügt
genug, ihm dabei zu helfen, aber dazu war es nötig, ihm ins
Gesicht zu sehen. Ich habe gesagt, daß er groß war. Nun
hatte er sich nicht, wie es doch natürlich gewesen wäre,
über mich gebeugt, so daß er sich in einer Höhe
befand, auf die ich nicht vorbereitet war. Immer noch war vor mir
nichts als der Geruch und die eigentümliche Härte seines
Anzugs, die ich gefühlt hatte. Plötzlich kam sein
Gesicht. Wie es war? Ich weiß es nicht, ich will es nicht
wissen. Es war das Gesicht eines Feindes. Und neben diesem Gesicht,
dicht nebenan, in der Höhe der schrecklichen Augen, stand, wie
ein zweiter Kopf, seine Faust. Ehe ich noch Zeit hatte, mein Gesicht
wegzusenken, lief ich schon; ich wich links an ihm vorbei und lief
geradeaus eine leere, furchtbare Gasse hinunter, die Gasse einer
fremden Stadt, einer Stadt, in der nichts vergeben wird.
Damals erlebte ich, was ich jetzt begreife: jene schwere, massive,
verzweifelte Zeit. Die Zeit, in der der Kuß zweier, die sich
versöhnten, nur das Zeichen für die Mörder war, die
herumstanden. Sie tranken aus demselben Becher, sie bestiegen vor
aller Augen das gleiche Reitpferd, und es wurde verbreitet, daß
sie die Nacht in einem Bette schlafen würden: und über allen
diesen Berührungen wurde ihr Widerwillen aneinander so dringend,
daß, sooft einer die schlagenden Adern des andern sah, ein
krankhafter Ekel ihn bäumte, wie beim Anblick einer
Kröte. Die Zeit, in der ein Bruder den Bruder um dessen
größeren Erbteils willen überfiel und gefangenhielt;
zwar trat der König für den Mißhandelten ein und
erreichte ihm Freiheit und Eigentum; in anderen, fernen Schicksalen
beschäftigt, gestand ihm der Ältere Ruhe zu und bereute in
Briefen sein Unrecht. Aber über alledem kam der Befreite nicht mehr zur
Fassung. Das Jahrhundert zeigt ihn im Pilgerkleid von Kirche zu Kirche
ziehen, immer wunderlichere Gelübde erfindend. Mit Amuletten
behangen, flüstert er den Mönchen von Saint-Denis seine
Befürchtungen zu, und in ihren Registern stand lange die
hundertpfündige Wachskerze verzeichnet, die er für gut
hielt, dem heiligen Ludwig zu weihen. Zu seinem eigenen Leben kam es
nicht; bis an sein Ende fühlte er seines Bruders Neid und Zorn in
verzerrter Konstellation über seinem Herzen. Und jener Graf von
Foix, Gaston Phöbus, der in aller Bewunderung war, hatte er nicht
seinen Vetter Ernault, des englischen Königs Hauptmann zu
Lourdes, offen getötet? Und was war dieser deutliche Mord gegen
den grauenvollen Zufall, daß er das kleine scharfe Nagelmesser
nicht fortgelegt hatte, als er mit seiner berühmt schönen
Hand in zuckendem Vorwurf den bloßen Hals seines liegenden
Sohnes streifte? Die Stube war dunkel, man mußte leuchten, um
das Blut zu sehen, das so weit herkam und nun für immer ein
köstliches Geschlecht verließ, da es heimlich aus der
winzigen Wunde dieses erschöpften Knaben austrat.
Wer konnte stark sein und sich des Mordes enthalten? Wer in dieser
Zeit wußte nicht, daß das Äußerste
unvermeidlich war? Da und dort über einen, dessen Blick untertags
dem kostenden Blick seines Mörders begegnet war, kam ein
seltsames
Vorgefühl. Er zog sich zurück, er schloß sich ein, er
schrieb das Ende seines Willens und verordnete zum Schluß die
Trage aus Weidengeflecht, die Cölestinerkutte und
Aschenstreu. Fremde Minstrel erschienen vor seinem Schloß, und
er beschenkte sie fürstlich für ihre Stimme, die mit seinen
vagen Ahnungen einig war. Im Aufblick der Hunde war Zweifel, und sie
wurden weniger sicher in ihrer Aufwartung. Aus der Devise, die das
ganze Leben lang gegolten hatte, trat leise ein neuer, offener
Nebensinn. Manche lange Gewohnheit kam einem veraltet
vor, aber es war, als bildete sich kein Ersatz mehr fur sie. Stellten
sich Pläne ein, so ging man im großen mit ihnen um, ohne
wirklich an sie zu glauben; dagegen griffen gewisse Erinnerungen zu
einer unerwarteten Endgültigkeit. Abends, am Feuerplatz, meinte
man sich ihnen zu überlassen. Aber die Nacht draußen, die
man nicht mehr kannte, wurde auf einmal ganz stark im Gehör. Das
an so vielen freien oder gefährlichen Nächten erfahrene Ohr
unterschied einzelne Stücke der Stille. Und doch war es anders
diesmal. Nicht die Nacht zwischen gestern und heute: eine
Nacht. Nacht. Beau Sire Dieu, und dann die Auferstehung. Kaum
daß in solche Stunden die Berühmung um eine Geliebte
hineinreichte: sie waren alle verstellt in Tagliedern und
Diengedichten; unbegreiflich geworden unter langen nachschleppenden
Prunknamen. Höchstens, im Dunkel, wie das volle, frauige
Aufschaun eines Bastardsohns.
Und dann, vor dem späten Nachtessen diese Nachdenklichkeit
über die Hände in dem silbernen Waschbecken. Die eigenen
Hände. Ob ein Zusammenhang in das Ihre zu bringen war? eine
Folge, eine Fortsetzung im Greifen und Lassen? Nein. Alle versuchten
das Teil und das Gegenteil. Alle hoben sich auf, Handlung war
keine.
Es gab keine Handlung, außer bei den Missionsbrüdern. Der
König, so wie er sie hatte sich gebärden sehn, erfand selbst
den Freibrief für sie. Er redete sie seine lieben Brüder an;
nie war ihm jemand so nahegegangen. Es wurde ihnen wörtlich
bewilligt, in ihrer Bedeutung unter den Zeitlichen herumzugehen; denn
der König wünschte nichts mehr, als daß sie viele
anstecken sollten und hineinreißen in ihre starke Aktion, in der
Ordnung war. Was ihn selbst betrifft, so sehnte er sich, von ihnen zu
lernen. Trug er nicht, ganz wie sie, die Zeichen und Kleider eines
Sinnes an sich? Wenn er ihnen zusah, so konnte er glauben, dies
müßte sich erlernen lassen: zu kommen und zu gehen,
auszusagen und sich abzubiegen, so daß kein Zweifel
war. Ungeheuere
Hoffnungen überzogen sein Herz. In diesem unruhig beleuchteten,
merkwürdig unbestimmten Saal des Dreifaltigkeitshospitals
saß er täglich an seinem besten Platz und stand auf vor
Erregung und nahm sich zusammen wie ein Schüler. Andere weinten;
er aber war innen voll glänzender Tränen und preßte
nur die kalten Hände ineinander, um es zu ertragen. Manchmal im
Äußersten, wenn ein abgesprochener Spieler plötzlich
wegtrat aus seinem großen Blick, hob er das Gesicht und
erschrak: seit wie lange schon war Er da: Monseigneur Sankt
Michaël, oben, vorgetreten an den Rand des Gerüsts in seiner
spiegelnden silbernen Rüstung.
In solchen Momenten richtete er sich auf. Er sah um sich wie vor einer
Entscheidung. Er war ganz nahe daran, das Gegenstück zu dieser
Handlung hier einzusehen: die große, bange, profane Passion, in
der er spielte. Aber auf einmal war es vorbei. Alle bewegten sich ohne
Sinn. Offene Fackeln kamen auf ihn zu, und in die Wölbung hinauf
warfen sich formlose Schatten. Menschen, die er nicht kannte, zerrten
an ihm. Er wollte spielen: aber aus seinem Mund kam nichts, seine
Bewegungen ergaben keine Gebärde. Sie drängten sich so
eigentümlich um ihn, es kam ihm die Idee, daß er das Kreuz
tragen sollte. Und er wollte warten, daß sie es
brächten. Aber sie waren stärker, und sie schoben ihn
langsam hinaus.
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